Lehre aus der Corona-Zeit: Schuleingangsuntersuchungen sind unverzichtbar
Kinderärzte kritisieren, dass die Schuleingangsuntersuchungen noch nicht wieder überall stattfinden. Dadurch würden Kinder eingeschult, die noch nicht schulreif seien. Seit Corona haben mehr Vorschulkinder Defizite.
In den Corona-Jahren 2020 und 2021 sind die Schuleingangsuntersuchungen in vielen Städten und Kreisen in Deutschland ausgefallen, weil die in den Gesundheitsämtern tätigen Ärztinnen und Ärzte schwerpunktmäßig in der Corona-Fallbearbeitung eingesetzt wurden. Der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst wurde eingeschränkt. Jetzt zeigen sich die Folgen: „In die Schulen kommen auf einmal Kinder, die noch nicht schulreif sind, weil die nicht mehr herausgefiltert wurden“, kritisiert Kinderarzt Jakob Maske vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte. Auch in diesem Jahr sind die Schuleingangsuntersuchungen noch längst nicht überall wieder Standard, stellt der Mediziner fest. Das ist insofern problematisch, als die Corona-Pandemie insbesondere die Situation derjenigen Kleinkinder verschärft hat, die zuvor schon nicht viel in ihrer Entwicklung gefördert wurden. Kinderärzte beobachten vermehrt Verzögerungen beim Spracherwerb, in der motorischen, sozialen und emotionalen Entwicklung. Darauf müssten sich Schulleitungen und Lehrkräfte an Grundschulen einstellen.
Wie hat sich die Corona-Zeit auf die Vorschulkinder ausgewirkt?
Die jetzigen Vorschulkinder haben keine normale Kindergartenzeit hinter sich. Nach langen Zeiten der Kita-Schließungen 2020 und im ersten Halbjahr 2021 folgte in diesem Jahr eine Phase mit hohen Corona-Inzidenzen und vielen Ausfällen wegen Quarantänezeiten von Kindern und Erzieherinnen und Erziehern. Die Folge war stets, dass die Kinder viel mehr Zeit zu Hause verbracht haben als üblich. Nicht immer hatten Eltern dann Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Wenn sie in die Kindertagesstätten gehen konnten, war dort der Alltag durch Hygiene- und Abstandsregeln stark verändert und die Möglichkeit sich zu bewegen oft eingeschränkt. Ärztinnen und Ärzte in Kinderarztpraxen wie im öffentlichen Gesundheitsdienst berichten nun in der Folge unisono von einer deutlichen Zunahme an übergewichtigen Kita-Kindern, von Defiziten hinsichtlich ihrer motorischen Fähigkeiten, von Problemen beim Spracherwerb insbesondere von Kindern, in deren Familien zu Hause kein Deutsch gesprochen wird. Auch die Zahl der Kinder, die nicht schwimmen können, hat zugenommen und der Medienkonsum hat sich generell erhöht.
„Der Anteil der übergewichtigen Kinder lag bei uns jahrelang stabil bei 10 Prozent“, berichtet Kinderärztin Andrea Wünsch aus dem Team Sozialpädiatrie und Jugendmedizin der Region Hannover. Jetzt ist er auf 14,5 Prozent angestiegen, bei Kindern aus benachteiligten Familien sogar auf 22 Prozent. „Das ist einfach besorgniserregend“, sagt Wünsch, die sich auch im Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst (BVÖGD) engagiert. Sie verweist auf Langzeitfolgen von Adipositas wie erhöhten Blutdruck, die immer häufiger auch schon bei Jugendlichen festgestellt würden.
Ein Grund für die Verzögerungen bei der Sprachentwicklung ist einer Studie der britischen Gesundheitsbehörde Ofsted zufolge, dass die Betreuungspersonen der Kinder häufig eine Maske getragen haben. „Da ist etwas dran“, sagt Wünsch. „Die Kinder konnten nicht mehr von den Lippen ablesen.“ Aus ihrer Sicht haben die Phasen, in der die Kindergärten geschlossen waren, aber „mehr geschmerzt“ als das Masketragen. „Wenn die Erzieherin zum Schutz eine Maske trug, war das sicherlich nicht gut für die Sprachentwicklung der Kinder, aber wenigstens waren die Kinder in der Kita“, sagt Wünsch. „Auf jeden Fall haben aktuell einige Kinder ausgeprägte Sprachförderbedarfe.“
„Auch spielen ist Förderung, soziale Förderung, und die ist verloren gegangen.“
Kinderarzt Jakob Maske
In der Kita geht es auch um den Erwerb sozialer Kompetenzen, um das Miteinander. „Nicht nur die Förderung der kognitiven Fähigkeiten durch die Erzieherinnen fehlte, sondern auch der Kontakt zu den Mit-Kita-Kindern“, betont Kinderarzt Jakob Maske. „Kinder müssen ja in der Kita nicht lesen, schreiben und rechnen lernen, die sollen spielen. Aber auch spielen ist Förderung, soziale Förderung, und die ist auch verloren gegangen.“ Es gebe mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, die beispielsweise nicht gelernt hätten, sich in Gruppen zu integrieren.
Verschiedene Studien belegen auch psychische Belastungen von Kindern durch die Corona-Pandemie. Für die Region Hannover stellen Andrea Wünsch und ihr Team den Eltern bei den Schuleingangsuntersuchungen seit 2020 auch Fragen zum Wohlbefinden der Kinder und zum Familienalltag. Demnach waren viele Kinder häufiger traurig, zurückgezogen, haben vermehrt Schlafstörungen und andere psychosomatische Symptome. „Wir sehen aber glücklicherweise, dass die von den Eltern im Rahmen der freiwilligen Befragung angegebenen Auffälligkeiten jetzt wieder rückläufig sind“, betont Wünsch. „Wir sollten hier auf die Resilienz vieler Kinder vertrauen, aber auch weiterhin sehr gut hinschauen.“
Warum sind die Schuleingangsuntersuchungen so wichtig?
In der Eingangsuntersuchung können Ärztinnen und Ärzte der Kinder- und Jugenddienste der Gesundheitsämter feststellen, ob ein Kind gesund ist. Sie können darüber hinaus beurteilen, ob es in seiner Persönlichkeit altersgerecht entwickelt und den Anforderungen in der Grundschule gewachsen ist. Das ist wichtig, um bei Bedarf rechtzeitig Fördermaßnahmen einleiten zu können und Eltern und Schule hinsichtlich notwendiger Unterstützung zu beraten. Die Schuleingangsuntersuchung bietet damit die Chance, jedem Kind einen guten Start in die Schule zu ermöglichen oder bei noch nicht hinreichend vorhandener Schulreife oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine Rückstellung von der Schulpflicht zu empfehlen.
Schuleingangsuntersuchung
Die Schuleingangsuntersuchung ist eine gesetzlich vorgeschriebene Untersuchung und gibt Auskunft über den Entwicklungs- und Gesundheitszustand aller einzuschulenden Kinder. Es wird vor allem auf für den Schulalltag wichtige Aspekte wie Sprachentwicklung, grob- und feinmotorische Fähigkeiten, Hör- und Sehfähigkeit, körperliche Belastbarkeit und Konzentration und Wahrnehmung geachtet. Ein standardisiertes Diagnoseinstrument ist das sogenannte Sozialpädiatrische Entwicklungsscreening (SOPESS). Es ist normiert auf Kinder im Alter von sechs Jahren.
Die Schuleingangsuntersuchung ist aber nicht nur für jedes Kind individuell wichtig, betont Kinderarzt Jakob Maske, sondern auch für die statistische Auswertung: „Es ist die einzige vollständige Untersuchung eines kompletten Jahrgangs. Dadurch können auch Jahrgänge miteinander verglichen werden.“ Daten zum Impfstatus der Vorschulkinder beispielsweise sind nicht erst seit der Corona-Pandemie von Bedeutung. Doch wie sich etwa das Gesetz zur verpflichtenden Masernimpfung ausgewirkt habe, könne derzeit nicht bewertet werden, weil die Schuleingangsuntersuchungen in den vergangenen zwei Jahren eben nicht flächendeckend durchgeführt worden seien, kritisiert Maske.
Inwieweit werden die Schuleingangsuntersuchungen für das Schuljahr 2022/23 jetzt wieder durchgeführt?
Einen Gesamtüberblick über den aktuellen Stand der Schuleingangsuntersuchungen in allen Bundesländern hat der BVÖGD nicht. Zwischen den einzelnen Gesundheitsämtern gibt es offenbar große Unterschiede. Jakob Maske vom Verband der Kinder- und Jugendärzte spricht von 40 bis 60 Prozent der Untersuchungen in Berlin, die in diesem Jahr wieder stattfinden und hält das auch für andere Bundesländer für eine realistische Zahl. „Das ist nicht ausreichend“, betont er. „Meistens gehen dann die Eltern mit ihren Kindern dorthin, die sich darum bemühen. Die anderen nicht – und die Kinder kommen dann ungefiltert in die Schule.“
Zum Teil behelfen sich die Gesundheitsämter deshalb damit, zunächst Kinder aus sogenannten Brennpunktstadtteilen zu untersuchen oder solche, die ihnen auf Nachfrage von den Grundschulen genannt wurden. „Aber in Brennpunktstadtteilen haben nicht alle Kinder Förderbedarf und in privilegierten Stadtteilen sind nicht alle Kinder ohne Probleme“, bemerkt Kinderärztin Wünsch. „Deshalb ist die Untersuchung für alle wichtig.“
„Kinder wie auch Eltern profitieren davon, wenn die Schuleingangsuntersuchungen wieder flächendeckend stattfinden können.“
Kinderärztin Andrea Wünsch
Für die Region Hannover ist ihr Team nur im ersten Corona-Jahr 2020 nach Stadtteilen vorgegangen und hat dadurch immerhin 9.000 von 11.000 Jungen und Mädchen im Vorschulalter untersucht. „2021 haben wir wieder alle Kinder geschafft“, berichtet sie und rechnet damit auch in diesem Jahr. Betrachtet man jedoch ganz Niedersachsen, stellt man fest, dass in den vergangenen beiden Jahren ein großer Teil der Vorschulkinder nicht untersucht werden konnte. „Mein Eindruck ist, dass sich das jetzt wieder nivelliert. Das ist wichtig, denn die Kinder wie auch die Eltern profitieren davon, wenn die Schuleingangsuntersuchungen wieder flächendeckend stattfinden können“, sagt Wünsch.
Wie können Schulleitungen auf die Situation reagieren?
Ohne Schuleingangsuntersuchungen werden möglicherweise mehr Kinder eingeschult, die aus unterschiedlichen Gründen noch nicht reif für die Schule sind und dort dann Probleme bekommen. „Das ist wahnsinnig anstrengend für alle“, stellt Kinderarzt Jakob Maske fest. „Es verdirbt die Stimmung, die Lehrer bekommen ein schlechtes Bild von den Schülern, die Eltern bekommen negative Rückmeldung“, so Maske. Zum Teil lösten die Schulen die Situation seiner Erfahrung nach so, dass die Kinder noch länger in der ersten Klasse bleiben – bei jahrgangsübergreifenden Klassen wie in Berlin eine gute Möglichkeit. „Aber für die Kinder ist das eine Katastrophe“, warnt Maske, „weil sie nur Negativerlebnisse haben“.
„Wichtig ist jetzt, dass die Kinder in der Grundschule Lehrern begegnen, die sie mit viel Liebe und Geduld an die Hand nehmen und auf die teilweise vorliegenden sprachlichen und feinmotorischen Schwierigkeiten und fehlenden Erfahrungen der letzten Jahre Rücksicht nehmen“, sagt Kinderärztin Andrea Wünsch. „Die pädagogischen Fachkräfte in Kitas und Schulen tragen da eine hohe Verantwortung.“