Wie Lehrkräfte lernen, Schüler:innen nicht vorschnell in Schubladen zu stecken

Professorin Friederike Kern erklärt im Interview, wie man Lehrkräfte für einen vorurteilsfreien Umgang mit Schülerinnen und Schülern sensibilisiert

Soziale Ungleichheit spielt nach wie vor eine große Rolle in deutschen Klassenzimmern. Professorin Friederike Kern von der Universität Bielefeld weiß aus eigenen Studien, dass Lehrkräfte unbewusst beteiligt sein können, wenn benachteiligte Kinder hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Sie macht deutlich, wie Lehrkräfte vorschnelle und letztlich diskriminierende Urteile vermeiden können.

Redaktion: Frau Kern, Sie haben sich im Rahmen Ihrer Forschung an der Universität Bielefeld unter anderem mit der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Lehrkräftehandeln und mit institutioneller Diskriminierung beschäftigt. Warum ist die Sensibilisierung für soziale Ungleichheit in der Schule und damit auch in der Lehrkräftebildung heute so ein wichtiges Thema?

Prof. Dr. Friederike Kern: Soziale Ungleichheit an Schulen ist ein Thema, das uns im deutschen Bildungssystem seit mehr als 20 Jahren beschäftigt und das wir bisher leider nicht in den Griff bekommen haben. Wir wissen seit der ersten PISA-Studie, dass es Deutschland im Vergleich zu den anderen getesteten Ländern nicht gut gelingt, soziale Ungleichheit, die durch den familiären und sozialen Hintergrund oder andere Kategorien entsteht, auszugleichen. Seither sind zwar viele Anstrengungen unternommen worden, aber statt eines Fortschritts sehen wir diesbezüglich über die Jahre hinweg eher eine Rückentwicklung: Die jüngsten Ergebnisse sowohl der IQB- Studien wie auch der PISA-Studie zeigen deutlich, dass sich dieser Zusammenhang eher noch verstärkt hat. Im Klartext: Kinder und Jugendliche mit sogenanntem bildungsfernen sozialen Umfeld erwerben heute noch weniger Kompetenzen als vor 20 Jahren.

Redaktion: Wo wird soziale Ungleichheit in der Schule heutzutage nicht hinreichend berücksichtigt? Können Sie uns da konkrete Beispiele geben?

Kern: Was ich hier als Sprachdidaktikerin in der Forschung bei Lehrkräften sehe, sind etwa implizite Anforderungen an ein bestimmtes sprachliches Verhalten – nämlich das, was als „Bildungssprache“ bezeichnet wird. Diese ist meist schriftsprachlich orientiert. Kinder, die die dafür nötigen Voraussetzungen nicht von zu Hause mitbringen, scheitern regelmäßig an diesen Ansprüchen , die den Lehrkräften oftmals gar nicht bewusst sind. Es fehlt ihnen häufig ein Bewusstsein dafür, dass viele Kinder diese Art des Sprechens und Schreibens zu Hause nicht gelernt haben, dass sie diese Fähigkeit aufgrund des Bildungshintergrunds der Eltern nicht mitbekommen. Ähnliches zeigt sich bei der Lesefähigkeit, die unter anderem maßgeblich durch das Vorleseverhalten der Eltern, aber auch insgesamt durch den Kontakt mit Schriftsprache beeinflusst wird. Es ist auch seit Langem bekannt, dass die Kinder zum Teil mit massiv unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schullaufbahn starten. Im Sport zeigt sich soziale Ungleichheit etwa darin, dass Kinder mit sozial schwachem Hintergrund weniger Möglichkeiten der Partizipation an Vereinssport haben, weil sie sich zum Beispiel das Equipment nicht kaufen oder den Vereinsbeitrag nicht leisten können. Auch solche Entwicklungen setzen sich in der Schule oft fort, insbesondere wenn es im Sportunterricht, wie es meistens der Fall ist, vor allem um die sportliche Leistung geht und nicht um Sozialverhalten oder andere Aspekte.

„Viele von uns haben eine recht feste, enge Vorstellung davon entwickelt, dass gute Sprache sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass wir fast so sprechen, wie wir schreiben.“

Prof. Dr. Friederike Kern

Redaktion: Sie schreiben im Kontext Ihrer Forschung von kategorialer Wahrnehmung von Lehrkräften. Können Sie diesen Begriff einmal erläutern? Wofür steht er?

Kern: Wir nehmen grundsätzlich alles auf der Basis der Erfahrungen wahr, die wir bereits gemacht haben und die auch sehr stark kulturell geprägt sind. Das ist erst einmal nichts Schlimmes, sondern eine durchaus sinnvolle Sortierfunktion in unserem Gehirn. Im speziellen Kontext Schule ist es aber so, dass diese Art der kategorialen Wahrnehmung – man könnte auch Schubladendenken dazu sagen – sehr schnell zu negativen Beurteilungen von Schülerinnen und Schülern führen kann. Das lässt sich am zuvor genannten Beispiel der Vorstellung davon, was „richtige“ Sprache ist, gut darstellen: Viele von uns haben eine recht feste, enge Vorstellung davon entwickelt, dass gute Sprache sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass wir fast so sprechen, wie wir schreiben: in grammatisch vollständigen Sätzen, mit elaborierten Wörtern, gerne auch mit dem Einbau von Fremdwörtern. Wenn wir unseren Blick erweitern, stellen wir aber fest, dass wir erstaunlich viel Variation in der Sprache haben und auch selbst gar nicht so „glatt“ sprechen, wie wir es von uns selbst erwarten. Und dennoch haben wir diese feste Vorstellung davon, dass das „falsch“ ist. Das führt dazu, dass wir Sprache, die davon abweicht, weil sie zum Beispiel stark dialektal oder von typischen Fehlern, wie sie bei Mehrsprachigkeit häufig festzustellen sind, geprägt ist, als schlecht oder minderwertig beurteilen. Und häufig überträgt sich diese Beurteilung dann auch schnell auf die so sprechende Person, indem wir sie zum Beispiel als weniger intelligent einschätzen – oder eben im Kontext Schule als nicht geeignet für einen bestimmten gehobeneren Bildungsweg erachten. 

Redaktion: Wo muss die Lehrkräftebildung ansetzen, wenn wir diese vorschnelle kategoriale Wahrnehmung verringern wollen?

Kern: Wir versuchen, diese feste Verbindung zwischen dem, wie wir Dinge wahrnehmen, und dem, wie sie durch unsere Erfahrungen geprägt sind, stärker in den Blick zu nehmen und so bewusst zu machen. Es ist sehr schwer, sich komplett davon zu befreien, insbesondere auch im Rahmen der Zwänge, die das Schulsystem mitbringt, das ja auch eine gewisse Kategorisierung und Einordnung von den Lehrkräften erfordert. Aber diese Einordnung kann zumindest reflektiert werden, sodass man sich wieder mehr für eine weniger enge Wahrnehmung öffnet. Wenn etwa die Ausdrucksweise eines Kindes mit mehrsprachigem Hintergrund sofort als „Problem“ gesehen wird, versuchen wir durch das Hinschauen auf die eigene Mehrsprachigkeit der Studierenden, diese vorschnellen Urteile zu hinterfragen. Viele sprechen zu Hause mit der Familie zum Beispiel auch Dialekt – und das ist ja sehr gut so.

Redaktion: Können Sie uns konkrete Beispiele geben, wie Sie angehende Lehrkräfte für eine offenere Perspektive sensibilisieren?

Kern: Es geht in meiner Arbeit im Lehramtsstudium vielfach darum, den Studierenden in Reflektionen und Übungen zu verdeutlichen, was mündliche Sprache und sprachliche Vielfalt bedeuten. Wenn Studierende als Übung etwa ihre eigenen Worte transkribieren, also ihre eigene mündliche Sprache verschriftlichen, kommt es oftmals zu Aha-Momenten. Im Feedback zu diesen Übungen höre ich dann oft Kommentare wie „Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich so wenig in vollständigen Sätzen spreche oder so viele Sprechpausen mache“. Man kann dann im Nachgang zeigen, dass diese mündliche Sprache, die eventuell zunächst chaotisch oder minderwertig wirkt, durchaus Ordnung und Struktur hat und genau auf die Bedürfnisse mündlicher Kommunikationssituationen zugeschnitten ist. Wir leiten Studierende zudem dazu an, ethnografische Unterrichtsbeobachtungen zu machen. Dabei geht es darum, sich eine Form der Beobachtung anzueignen, die erstmal überhaupt nicht bewertet oder beurteilt und die auch nicht didaktisch ist. Es geht nur um die Frage: „Was passiert hier eigentlich?” Und das ist für die Studierenden oftmals gar nicht so leicht, ohne implizite Bewertungen auszudrücken. Es führt aber dazu, dass Studierende häufiger Momente haben, in denen sie zu einem „Ach so, so kann man die Dinge ja auch sehen“. kommen. Wenn ein Kind etwa aus dem Fenster schaut oder an seinem Tisch steht, statt zu sitzen, wird das in diesen Protokollen sehr schnell als „Das Kind arbeitet nicht mit“ gewertet. Dies ist eine gute Gelegenheit, den Studierenden bewusst zu machen, dass ich von einer Beobachtung von etwas Äußerem nicht immer auf eine innere Haltung schließen kann. Auch meine Studierenden schauen während des Seminars öfter aus dem Fenster.

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Redaktion: Wo sehen Sie die größte Hürde für Lehrkräfte bei der Sensibilisierung für soziale Ungleichheit ?

Kern: Ich denke, die größte Hürde stellt unser Bildungssystem dar. Es ist sehr stark auf Leistung und auf frühe Selektion getrimmt, obwohl wir aus vielen Studien wissen, dass das in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv ist, insbesondere mit Blick auf den Anspruch der Chancengerechtigkeit. Dennoch geht ab der dritten Klasse der Leistungs- und Notendruck los. Gleichzeitig sollen die Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern möglichst offen begegnen und ihnen eine Chance auf Entwicklung geben. Aus dieser Ambivalenz kommen die Lehrkräfte nicht heraus. Reflektion kostet Zeit. Und das ist eine Ressource, die in unserem Bildungssystem viel zu knapp bemessen ist.

Redaktion: Was würden Sie Lehrkräften dennoch mitgeben wollen?

Kern: Es ist unschätzbar wertvoll, sich Offenheit in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler zu bewahren und vorschnelle Urteile zu vermeiden. Im Kontext der Mehrsprachigkeit möchte ich unbedingt dafür plädieren, nicht von fehlerhaftem Deutsch auf mangelnde Intelligenz beziehungsweise mangelnde kognitive Leistungsfähigkeit zu schließen. Jede Form der Mehrsprachigkeit – nicht nur Englisch oder Französisch – ist eine unglaublich große Ressource, die wir im Bildungssystem immer noch viel zu wenig nutzen. Sie gilt es wertzuschätzen und als Geschenk zu sehen – und nicht als Defizit. 

Redaktion: Frau Professorin Kern, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Friederike Kern ist Professorin für frühe sprachliche Bildung und frühes Lernen an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in den folgenden Bereichen: multimodaler Sprach- und Diskurserwerb, Sprache und Lernen in multimodalen Interaktionen sowie Sprache und Kommunikation bei Autismus-Spektrum-Störungen, ethnomethodologische Konversationsanalyse und multimodale Interaktionsanalyse.