Lernen durch Engagement: So kann eine partizipative Schulkultur gelingen
Wie Schülerinnen und Schüler mithilfe von Service-Learning gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und schulisches Lernen neu erleben

Wie lässt sich gesellschaftliches Engagement sinnvoll in den Unterricht integrieren? Janine Regel-Zachmann und Carla Gellert erklären im Interview, wie das Prinzip des Service-Learning schulische Inhalte mit realen Herausforderungen verbindet, Partizipation fördert und neue Impulse für Schulentwicklung und Persönlichkeitsbildung setzt.
Redaktion: Was hat es mit dem "Lernen durch Engagement" im Schulkontext auf sich?
Janine Regel-Zachmann und Carla Gellert: "Lernen durch Engagement" (LdE) ist eine projektorientierte Lehr- und Lernform, die gesellschaftliches Engagement von Schüler:innen mit fachlichem Lernen im Unterricht verbindet. Bei LdE werden Schüler:innen als Teil von Unterricht zu realen Herausforderungen aktiv – dabei wenden sie ihr erworbenes Wissen an und durchdringen dieses tiefer. Durch die pädagogische Begleitung, Anerkennung und Reflexion bei LdE werden diese Erlebnisse zu nachhaltigen Lernerfahrungen, die Kinder und Jugendliche als selbstbewusste Persönlichkeiten und verantwortungsvolle Bürger*innen stärken.
Dies kann zum Beispiel so aussehen:
- Zweitklässler:innen üben in der Klasse das betonte Vorlesen, sprechen über geeignete Kinderliteratur und gestalten Märchenvorlesetage in der öffentlichen Bücherei – denn kulturelle Veranstaltungen für Kinder sind in der Stadt dem Rotstift zum Opfer gefallen.
- Schüler:innen der 8. Klasse beschäftigen sich im Naturwissenschafts- und Technikunterricht mit Stoffeigenschaften und führen Mitmachexperimente mit Vorschulkindern in einer Kita durch.
Redaktion: Gibt es Bezüge oder Parallelen zu den "Service-Learning"-Programmen an den Schulen in den USA und/oder zum "CAS"-Programm (Creativity, Activity, Service) des International Baccalaureate?
Regel-Zachmann und Gellert: Ja, das Konzept des "Lernen durch Engagement" steht in der Tradition des internationalen Service-Learnings, wie es etwa in den USA verbreitet ist, und wird seit mehr als 20 Jahren an Schulen in Deutschland umgesetzt. Nach einem ersten Modellprojekt mit 10 Schulen in 2001 wurde LdE von der Freudenberg-Stiftung pädagogisch-didaktisch weiterentwickelt und an den deutschen Schulkontext angepasst.
LdE kann auch mit dem CAS-Programm des International Baccalaureate verknüpft werden. So setzt beispielsweise das United World College Robert Bosch College in Freiburg LdE in Verbindung mit dem CAS-Programm um.
Redaktion: Was ist das Neue an diesem Konzept, bezogen auf die Schulen / das Schulsystem in Deutschland
Regel-Zachmann und Gellert: Das Besondere an LdE ist die systematische Verknüpfung von Unterricht und Engagement. Schüler:innen lernen, Verantwortung zu übernehmen und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten – und das als Teil des regulären Unterrichts und eng verbunden mit den Bildungsplänen. Es entsteht an Schulen eine Lernkultur, in der Partizipation, Verantwortungsübernahme und Gemeinsinn selbstverständlich sind. Dabei werden Kompetenzen gefördert, die für das 21. Jahrhundert von Bedeutung sind, wie zum Beispiel Kommunikation, kritisches Denken, Kreativität und Teamfähigkeit.
Redaktion: Welche Vorteile versprechen Sie sich davon – für die Schulen in Deutschland und insbesondere für die Schüler:innen?
Regel-Zachmann und Gellert: Schulen fördern gemeinnütziges Engagement, eine stärkere Schulgemeinschaft und eine Öffnung nach außen, also eine Vernetzung mit dem Sozialraum. Auf Ebene der Schüler:innen hat die Anbindung von LdE an Schule und Unterricht das Potenzial, alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen: LdE motiviert die Schüler:innen durch sinnstiftendes Lernen und stärkt ihre Selbstwirksamkeit sowie demokratische Kompetenz. Besonders für Schüler:innen in benachteiligenden Lebenslagen kann LdE eine neue Lernerfahrung eröffnen: Sie erleben, dass sie etwas bewirken können – das stärkt das Selbstvertrauen und eröffnet neue Perspektiven für Bildung und Beruf.
Redaktion: Wie lässt sich LdE mit den verschiedenen Schulfächern verbinden
Regel-Zachmann und Gellert: LdE ist fächerübergreifend einsetzbar und ermöglicht Team-Teaching: Im Geschichtsunterricht wird beispielsweise der Nationalsozialismus behandelt und im Deutschunterricht das sachliche und adressatengerechte Verfassen von Texten. Daraus entsteht ein LdE-Projekt: Die Schüler:innen recherchieren jüdisches Leben in ihrer Stadt, übernehmen Stolperstein-Patenschaften und gestalten eine Website, um ihre Erkenntnisse öffentlich zu machen.
Entscheidend ist: Das Engagement wird didaktisch mit dem jeweiligen Fach und den Kompetenzzielen des Lehrplans verknüpft und reflektiert.
„Das Besondere an LdE ist die systematische Verknüpfung von Unterricht und Engagement. Schüler:innen lernen, Verantwortung zu übernehmen und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten.“
Janine Regel-Zachmann und Carla Gellert
Redaktion: Wie können durch das LdE fächerübergreifende Lehr- und Lernziele wie zum Beispiel die Demokratieförderung, die Persönlichkeitsbildung und die berufliche Orientierung unterstützt werden
Regel-Zachmann und Gellert: Diese Ziele sind Bestandteil von LdE. Schüler:innen lernen, Verantwortung zu übernehmen, im Team zu arbeiten, mit anderen zu kommunizieren und Konflikte zu lösen – das sind Kernkompetenzen für ein demokratisches Miteinander. Durch reale Herausforderungen und Kooperationen mit externen Partnern erhalten sie Einblicke in verschiedene Berufsfelder und gesellschaftliche Zusammenhänge, was zur Persönlichkeitsentwicklung und beruflichen Orientierung beiträgt.
LdE fördert ganz allgemein eine demokratische und partizipative Schulkultur, stärkt die Zusammenarbeit im Kollegium und öffnet die Schule für Kooperationen mit außerschulischen Partnern. Es trägt zur Profilbildung bei und kann als Motor für Schulentwicklung dienen, etwa im Rahmen von Ganztagsschulen, Bildung für nachhaltige Entwicklung oder Demokratiebildung.
Redaktion: Welche Herausforderungen begegnen Schulen bei der Einführung von Lernen durch Engagement, und wie können sie diese bewältigen?
Regel-Zachmann und Gellert: Die Herausforderungen liegen vor allem in der institutionellen Verankerung und der Umsetzung im Unterricht. Häufig starten engagierte Lehrkräfte erste Projekte, langfristig wirksam wird LdE aber, wenn es im Schulentwicklungsprozess von Schulleitung und Kollegium mitgetragen wird. Das erfordert feste Zeitfenster, Zuständigkeiten, Fortbildungen und gegebenenfalls ein Steuerungsteam.
Im Unterricht hilft es, klein anzufangen: Erste überschaubare Projekte zeigen schnell Wirkung und machen Mut zur Weiterentwicklung – abgestimmt auf Schulart, Fach und Bedürfnisse der Schüler:innen.
„LdE fördert (...) eine demokratische und partizipative Schulkultur, stärkt die Zusammenarbeit im Kollegium und öffnet die Schule für Kooperationen mit außerschulischen Partnern.“
Janine Regel-Zachmann und Carla Gellert
Redaktion: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Voraussetzungen, damit Lernen durch Engagement an Schulen nachhaltig gelingen kann?
Regel-Zachmann und Gellert: Nachhaltiger Erfolg von Lernen durch Engagement entsteht dann, wenn LdE nicht als Einzelprojekt weniger engagierter Lehrkräfte läuft, sondern als Teil des Schulprofils verstanden und gelebt wird. Die zentrale Voraussetzung dafür ist die Verankerung in Leitbild, Schulkultur und Schulentwicklung. Wenn LdE auf dieser Ebene mitgedacht wird, erhält die Lernform die strukturellen Räume, Ressourcen und Sichtbarkeit, die sie braucht – etwa durch feste Zeitfenster, institutionelle Zuständigkeiten oder klare curriculare Anbindung.
Entscheidend ist die Unterstützung durch die Schulleitung und ein Kollegium, das den Mehrwert der Lernform erkennt – sowohl für fachliches Lernen als auch für Persönlichkeitsentwicklung und demokratische Bildung. Damit das gelingen kann, braucht es gute Qualifizierungsangebote für die Lehrkräfte sowie Räume für kollegialen Austausch und gemeinsame Weiterentwicklung. Eine schulinterne Steuergruppe kann diesen Prozess koordinieren, LdE systematisch reflektieren und nachhaltig stärken. Wenn all diese Elemente zusammenspielen, kann LdE als Lernform, die Schule bereichert und die Schüler:innen stärkt, langfristig wirken.
Redaktion: Welche Rolle spielen außerschulische Partner wie Vereine oder Kultureinrichtungen für erfolgreiche LdE-Projekte?
Regel-Zachmann und Gellert: Außerschulische Partner sind ein wichtiger Faktor für gelingende LdE-Projekte, und daher ist die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern auch ein Qualitätsstandard bei LdE: Ihre Einbindung schafft nicht nur neue und authentische Lernorte, sondern ermöglicht Schüler:innen, Schule auch als Teil ihres sozialen Umfelds zu erleben, mit Wirkung über das Klassenzimmer hinaus.
Ob Obdachlosenhilfe, Seniorenheim, kulturelle Einrichtung oder Die Tafel: Diese Partner bringen den Schüler:innen echte Bedarfe und Begegnungen und konkrete gesellschaftliche Bezüge näher und öffnen reale Erfahrungsräume, in denen Schüler:innen reale Bedarfe erkennen und Verantwortung übernehmen. Als Kompetenzpartner – etwa ein Umweltverband wie der NABU – begleiten sie Projekte unter anderem auch fachlich und unterstützen die Jugendlichen in ihrem Engagement. Dank der außerschulischen Partner wird LdE lebendig, bedeutsam und wirkungsvoll. Die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern stärkt nicht nur Motivation und Verantwortungsbewusstsein bei den Kindern und Jugendlichen, sondern vor allem das Gefühl: Ich kann etwas bewirken. Viele Schulen knüpfen mit den Partnern starke, langjährige Kooperationen, die den Sozialraum und die Schule dauerhaft miteinander verbinden.
Redaktion: Worum geht es in Ihrer soeben herausgegebenen Publikation?
Regel-Zachmann und Gellert: Die Handreichung "Lernen durch Engagement – Schule und Lernen zeitgemäß und partizipativ gestalten" stellt LdE als pädagogisches Konzept vor und gibt Schulleitungen praxisnahe Einblicke, wie LdE an Schule verankert werden kann. Anhand vieler Beispiele unterschiedlicher Schulen und methodischer Tipps soll sie Impulse für eine partizipative Schulentwicklung aufzeigen.
Redaktion: Wir danken ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Janine Regel-Zachmann studierte Germanistik, Geschichte, Politik und Wirtschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität und der Pädagogischen Hochschule in Freiburg im Breisgau. Über verschiedene berufliche Stationen als Lehrerin, Schulleiterin, Prozessbegleiterin und Qualitätsmanagerin im Auslandsschulwesen, Referentin für datengestützte Qualitätsentwicklung im Kultusministerium BW sammelte sie vielfältige Erfahrungen im Bereich Schul-und Unterrichtsentwicklung. Nach einem Masterstudiengang Schulmanagement und einer Coachingausbildung engagiert sich Janine Regel-Zachmann nebenberuflich als Trainerin, Coach und Moderatorin. Hauptberuflich ist sie Schulrätin am Schulamt Stuttgart. Im Ausland und in ihrer Rolle als Schulleiterin an der Hans-Thoma-Schule Laufenberg sammelte sie insbesondere auch Erfahrung im Bereich des "Lernens durch Engagement".

Zur Person
Carla Gellert ist Mit-Gründerin und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Stiftung Lernen durch Engagement und verantwortet seit 2019 unter anderem die Verankerung von Lernen durch Engagement in Baden-Württemberg. Nach ihrem Studium an der Universität Mannheim war sie zunächst für die Implementierung von Service-Learning an der Universität Mannheim verantwortlich, wechselte 2010 als stellvertretende Programmleiterin für Lernen durch Engagement zur Freudenberg Stiftung in Weinheim und ist seit 2017 für die Stiftung LdE mit Sitz in Berlin tätig.