Lernen mit TikTok-Brain: Negativer Einfluss digitaler Medien und Lösungsansätze
Allgegenwärtige moderne Technik hat nicht nur positive Potentiale: Viele Studien weisen inzwischen erhebliche Probleme nach – auch für die Konzentration und Lernfähigkeit von Schülerinnen und Schülern
Nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen: Smartphones, Tablets und Apps können das Lernen fördern. Doch ihre Allgegenwart birgt auch erhebliche Gefahren für Kinder und Jugendliche – und stellt Schulen vor eine Herkulesaufgabe, wie Studien nachweisen.
Immer bessere Lernsoftware, intelligente Tutorenprogramme, Künstliche Intelligenz, die Lehrkräften und Lernenden gleichermaßen unter die Arme greift: Mit dem rasanten technischen Fortschritt ist gerade im Kontext Schule die Hoffnung verbunden, dass smarte Technik viele Probleme des Bildungssystems elegant beseitigt – sei es die chronische Überlastung von Lehrkräften oder die individuelle Förderung von Kindern mit vergleichsweise schlechten Startvoraussetzungen.
Gleichzeitig weist aber eine Reihe von Studien bereits heute nach, dass digitale Medien das Leben von Schülerinnen und Schülern nicht nur positiv beeinflussen – im Gegenteil. Allgegenwärtige Apps und Geräte haben teilweise erheblichen negativen Einfluss auf die Gesundheit und die Lernfähigkeiten der Jugendlichen.
Jenseits des Lernens: Was machen Jugendliche am Handy?
Lernsoftware am Schul-Tablet ist schön und gut. Doch was machen Kinder und Jugendliche, wenn sie zu Hause, auf dem Pausenhof, im Bus oder unter dem Schultisch das eigene Handy zücken?
Die Antwort gibt unter anderem die aktuelle JIM-Studie (Jugend, Information, Medien) von 2023, für die 1200 Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren befragt wurden. Das Ergebnis: Sie sind privat täglich im Schnitt fast vier Stunden online und konsumieren dabei Social-Media- und Video-Content. Sie chatten über WhatsApp, scrollen durch Instagram und Snapchat, schauen Clips auf TikTok, Twitch und Youtube.
Tiktok Brain: Folgen von Social Media und „Shorts”
Studien zu Social Media und sogenanntem „Short Form Video Content”, also wenige Sekunden oder Minuten langen Clips, die der Standard auf Social Media sind, zeigen, dass ein tägliches mehrstündiges Versinken in dieser rasanten digitalen Welt nicht ohne Folgen bleibt. Mehrere Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine intensive Nutzung solcher Medien zu einer Fragmentierung der Aufmerksamkeit und einem Abbau der Fähigkeit zur tiefen Konzentration führen kann (u.a. Alfatih et al., 2024). Auch gibt es mehrere Hinweise darauf, dass der Konsum von Kurzform-Videos das Gedächtnis negativ beeinflusst. (Journal of Applied Research in Memory and Cognition, 2023).
Für das, was der übermäßige Konsum von Kurzform-Videos mit den Gehirnen von Jugendlichen und anderen Konsumenten macht, hat sich der Begriff „TikTok-Brain“ etabliert. Er beschreibt neben der partiellen Aufmerksamkeit, Beeinträchtigungen der Fähigkeit zur Konzentration und Auswirkungen auf das Gedächtnis auch die zunehmende Abhängigkeit von Social-Media-Plattformen. Dieser Sog kommt nicht von ungefähr, denn die großen Tech-Firmen designen ihre Angebote so, dass sie ihre Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange fesseln und süchtig nach immer mehr Content machen. (Qin, Omar & Musetti, 2022).
Das kann insbesondere für Lernende, die mit mentalen Problemen kämpfen, zu einer ernsten Herausforderung werden: Eine Studie der University of Minnesota (Milton et al., 2023) fand heraus, dass der TikTok-Algorithmus, der Inhalte basierend auf Benutzerinteressen kuratiert, Nutzer in eine Endlosschleife negativer Inhalte ziehen kann. Die Folge sind Stress, Angstzustände und psychische Belastungen. Im Bezug auf Schülerinnen und Schüler besonders alarmierend: All die Effekte des TikTok-Brains beeinflussen Jugendliche, deren Gehirne noch in der Entwicklungsphase sind, deutlich stärker als Erwachsene mit bereits gefestigteren neuronalen Netzwerken.
Mehr online – weniger Schlaf – mehr Fehlzeiten in der Schule
Ein täglicher, mehrstündiger „Social-Media-Rausch”, so die Forschung, mache es Kindern und Jugendlichen schwerer, in der Schule aufmerksam dem Unterricht zu folgen. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die intensive private Mediennutzung sich zudem auf den Schlaf von Jugendlichen auswirkt (Wisse et al., 2019). Mehrere Untersuchungen zeigen, dass das blaue Licht der Bildschirme durch die Hemmung des Hormons Melatonin den Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinanderbringt. Die Folge: Schlafmangel. Eine aktuelle Studie aus Finnland mit mehr als 86.000 Teilnehmern (Kosola et al., 2024) weist eine Verbindung zwischen übermäßiger Internetnutzung und einer erhöhten Anzahl von unentschuldigten und krankheitsbedingten Fehlzeiten an Schulen bei Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren nach.
Selbst wenn das private Smartphone vermeintlich dafür eingesetzt wird, positiven Einfluss auf das Lernen zu nehmen, sind die Ergebnisse mindestens fraglich: So kam eine neue Studie des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) zu dem Schluss, dass Smartphone-Erinnerungen, die Schülerinnen und Schüler zum Lernen motivieren und sie an Aufgaben erinnern sollten, nicht die gewünschten Effekte hatten. Über den gesamten Untersuchungszeitraum lernte die Kontrollgruppe, die keine Smartphone-Erinnerungen erhielt, an mehr Tagen insgesamt. Die Erinnerungen könnten „die Selbstständigkeit im Lernverhalten beeinträchtigen”, heißt es in der Studie (Nobbe et al., 2024)
Was kann Schule tun?
Angesichts der Allgegenwart von Smartphones und digitalen Medien ist es für Eltern und Schulen gleichermaßen eine Herkulesaufgabe, mit dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hin zu immer mehr Technologie fertigzuwerden und den Kindern einen gesunden Umgang mit der digitalen Welt beizubringen. Die Begrenzung der Bildschirmzeit – sei es durch die Eltern oder durch Handyverbote an Schulen -¬ ist da nur ein erster Schritt, der nicht das Grundproblem löst: den Aufbau einer reflektierten, eigenverantwortlichen Beziehung zu Medien. Daher wären andere Aspekte wie die folgenden wichtiger und nachhaltiger:
- Vermittlung von Medienkompetenz
Kinder und Jugendliche müssen wissen, auf was sie sich einlassen, wenn sie täglich Stunden auf gewissen Plattformen verbringen. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe von Schulen, über Risiken und den sicheren Umgang mit Social Media aufzuklären. Hierzu gibt es eine Reihe von Materialsammlungen online, etwa beim Deutschen Bildungsserver oder bei lehrer-online.de (Links dazu unter diesem Artikel). Die Auseinandersetzung mit Themen wie Datenschutz, die Erkennung manipulativer Inhalte und die Förderung eines gesunden Online-Verhaltens ist essenziell, um die elementaren Kompetenzen zu erwerben, die nötig sind, um in der modernen Gesellschaft zu bestehen.
- Elternaufklärung
Informationsabende und Workshops sind nützliche Werkzeuge, um Eltern mit ins Boot zu holen und sie zu befähigen, mit ihren Kindern über dieses wichtige Thema offen zu sprechen und ihre Online-Aktivitäten zu steuern. Schulen können Ressourcen bereitstellen, um Eltern über die möglichen negativen Auswirkungen der exzessiven Nutzung von Social Media aufzuklären und ihnen Werkzeuge zur Verfügung stellen, um gesunde digitale Gewohnheiten zu fördern.
- Projekte mit physischer und sozialer Interaktion
Schulen können Programme und Aktivitäten fördern, die physische und soziale Interaktionen betonen und diese Kompetenzen stärken. Das hilft Kindern, den Wert von realen Beziehungen und Offline-Momenten wertzuschätzen jenseits der virtuellen Welten. Dazu gehören Sport, Kunstprojekte oder gemeinschaftliche Projekte, die den Schülerinnen und Schülern helfen, sich offline zu engagieren und ihre sozialen Fähigkeiten zu entwickeln.
- Konzentration lehren
Wirksame Mittel gegen die Folgen gedankenlosen Scrollens durch Social-Media sind Methoden, die darauf ausgelegt sind, Entspannung, Beobachtungsgabe, Konzentration und Aufmerksamkeit zu stärken: Meditation, Yoga oder Atemübungen sind gut erforschte Techniken, die es ermöglichen, die negativen Auswirkungen von übermäßigem Bildschirmkonsum zu mindern und das Bewusstsein für den eigenen Umgang mit Medien zu schärfen (u. a. Sumantry & Stewart, 2021). Diese in den Schulalltag zu integrieren kann Lernenden langfristig enorm helfen, wichtige Skills aufzubauen, um Emotionen zu regulieren, das eigene Medienverhalten kritisch zu hinterfragen und sich zu fokussieren.
Ein Kind, das in seiner Schule einen verantwortungsvollen, gesunden Umgang mit Medien lernt, das mit aufgeklärten Eltern aufwächst, die es mit der Technik nicht allein lassen, sondern offen über das Thema Medien sprechen, das im „realen Leben” soziale Interaktionen schätzen lernt und Techniken beherrscht, sich zu entspannen und zu fokussieren – ein solches Kind hat gute Chancen, sich nicht im Strudel moderner Medienformate zu verlieren, sondern Medien tatsächlich sinnvoll zu nutzen und mit und aus ihnen zu lernen.