Lernen sichtbar machen – auch schon in der Kita

Wie sich John Hatties Prinzipien aus der Schulforschung konkret und sinnvoll auf die frühe Bildung übertragen lassen

John Hatties "Visible Learning"-Studie, eine Synthese aus gut 800 Meta-Analysen, hat die Debatte über guten Unterricht nachhaltig geprägt. Im Zentrum steht eine scheinbar einfache Frage: Was wirkt wirklich im Klassenzimmer? Meist wird Hattie im Schulkontext diskutiert. Doch der Kern seiner Arbeit ist für die pädagogische Qualität in der Kita von fundamentaler Bedeutung, wie auch Hattie selbst in einem aktuellen Beitrag für dieses Magazin unterstreicht (Hattie 2025).

Was ist "Visible Learning"?

Die Grundidee von Visible Learning ist, den Lernprozess für die Lernenden und die Lehrenden transparent zu machen. Hattie hat dafür die Ergebnisse von über 800 Meta-Analysen zusammengefasst, um herauszufinden, welche Faktoren den größten positiven Einfluss auf den Lernerfolg haben (Hattie 2009). Die zentrale Botschaft: Die professionelle Haltung der pädagogischen Fachkraft und ihre Fähigkeit, das Lernen mit den Augen des Kindes zu sehen sowie das eigene Handeln an dessen Lernfortschritt auszurichten, sind entscheidend. Gleichzeitig muss Hatties Arbeit reflektiert und eingeordnet werden. Die oft zitierten Ranglisten sind keine universellen Rezepte, da ihre Aussagekraft stark vom jeweiligen Kontext abhängt.

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Linking global evidence with German studies to strengthen language, equity, and long-term impact in early childhood education

Von der Schule zur Kita

Dies gilt umso mehr für den Transfer in die frühkindliche Bildung: Hatties Daten stammen fast ausschließlich aus dem schulischen Kontext, eine direkte Übertragung  von Methoden auf die Kita würde der Eigenlogik der frühen Bildung nicht gerecht. Der Schlüssel liegt stattdessen in der Übersetzung der zugrunde liegenden Prinzipien. Es geht nicht darum, die Kita zu verschulen, sondern darum, Hatties Perspektive zu nutzen, um die Wirksamkeit der etablierten frühpädagogischen Praxis zu beleuchten und zu schärfen. Die folgenden vier Beispiele zeigen, wie sich Hatties Top-Faktoren in der Kita wiederfinden.

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"So viel Potenzial geht verloren"

Vier Top-Faktoren von Hattie in der Kita-Praxis

1. Sichere Beziehungen als Grundlage (Hattie: Lehrer-Schüler-Beziehung):
Hatties Faktor "Lehrer-Schüler-Beziehung" findet in der frühen Bildung seine Entsprechung in der sicheren Bindungsbeziehung. Führende Forscherinnen wie Fabienne Becker-Stoll betonen, dass feinfühlige, responsive Beziehungen die Grundlage für alle Bildungs- und Entwicklungsprozesse darstellen. Ohne eine tragfähige Beziehung können Kinder ihr Explorationssystem nicht aktivieren und frei lernen (Becker-Stoll, 2020). In der Kita wird dies durch eine gelungene Eingewöhnung und den kontinuierlichen Aufbau vertrauensvoller Beziehungen realisiert, wodurch ein Gefühl der Zugehörigkeit entsteht, das Hattie (2025) als zentrale Voraussetzung für Engagement und Bildungsgerechtigkeit beschreibt.

2. Selbstwahrnehmung fördern (Hattie: Self-Reported Grades):
Hatties Top-Faktor "Self-Reported Grades" beschreibt die Fähigkeit, eigene Leistungen realistisch einzuschätzen. In der Kita entspricht dies der Förderung metakognitiver Fähigkeiten. Wenn Fachkräfte Kinder ermutigen, ihre Absichten und Lernprozesse zu versprachlichen ("Was möchtest du bauen? Was war schwierig daran?"), fördern sie die Selbstreflexion. Studien von Forscherinnen wie Ingrid Pramling Samuelsson zeigen, dass Kinder um das vierte Lebensjahr damit beginnen, über ihr eigenes Lernen nachzudenken – eine Schlüsselkompetenz für lebenslanges Lernen (Pramling 1983; Pramling Samuelsson 2008). Dies deckt sich mit Hatties Forderung, Kinder zu "Mitbewerterinnen und Mitbewertern ihres eigenen Lernens" zu machen (Hattie 2025).

3. Begleitendes Gespräch (Hattie: Feedback):
Hatties Idee von wirksamem Feedback bedeutet in der Kita kein Urteil am Ende, sondern ein begleitendes Gespräch, während das Kind spielt und lernt. An die Stelle einer Bewertung tritt die pädagogische Dokumentation (etwa in Portfolios oder Lerngeschichten), die als Grundlage für den Dialog dient. Eine Fachkraft könnte etwa sagen: "Ich sehe, du stapelst die Bausteine ganz vorsichtig. Was denkst du, passiert, wenn wir den runden Stein dazwischen legen?". Diese Form des "Sustained Shared Thinking" unterstützt Kinder dabei, ihre Denkprozesse zu verbalisieren und weiterzuentwickeln.

4. Klare Intentionen (Hattie: Teacher Clarity):
Der Faktor "Teacher Clarity" übersetzt sich in der Kita als transparente, gemeinsame Lernintentionen. Statt vager Aktivitäten ("Wir basteln mal was") schaffen Fachkräfte klare, aber flexible Rahmen für explorative Lernprozesse. Beispiel: "Heute möchten wir herausfinden, welche Materialien schwimmen und welche sinken." Diese Klarheit gibt Kindern Orientierung, ohne ihre natürliche Neugier und Eigenaktivität einzuschränken, und entspricht damit einem der von Hattie (2025) für die frühe Bildung formulierten Kernprinzipien.

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Beziehungspflege ist eine Schlüsselressource für Lernende und Lehrende

Fazit: Frühes Stärken des eigenständigen Lernens

Die Übertragung von Hatties Prinzipien auf die frühe Bildung ist keine "Verschulung" der Kita. Sie liefert stattdessen eine wissenschaftliche Bestätigung für die Kernprinzipien guter frühpädagogischer Arbeit, die auf sicheren Beziehungen, dialogischer Begleitung und der Förderung von Selbstständigkeit und Reflexion beruht. "Visible Learning" in der Kita bedeutet, die eigene professionelle Haltung konsequent an der beobachtbaren Wirkung auf die Entwicklung des Kindes auszurichten.

Dies ist entscheidend, um dem von Hattie (2025) beschriebenen "Fade-out-Effekt" entgegenzuwirken. Dieser Effekt – das Verblassen früher Lernvorteile in der Grundschule – entsteht oft durch den Bruch in der Art des Lernens: Das spielerische, prozessorientierte Entdecken in der Kita trifft auf einen stärker strukturierten, ergebnisorientierten Unterricht in der Schule. Wenn Kinder in der Kita durch die hier beschriebenen Prinzipien jedoch nicht nur Wissen, sondern vor allem überdauernde Kompetenzen zum eigenständigen Lernen erwerben, wird eine nachhaltigere Grundlage für den weiteren Bildungsweg geschaffen. Eine anregende Lernbegleitung, die die Neugier und die Fähigkeit zur Selbstreflexion stärkt, ist das robusteste Fundament, um dem Verblassen der frühen Vorteile entgegenzuwirken.