Mathe-Apps im Test: Welche sind wirklich für den Grundschulunterricht geeignet?

Professor Daniel Walter hat 227 Mathe-Apps für die Grundschule untersucht. Die Qualität ist durchwachsen, wie er im Interview berichtet.

Viele Grundschulen sind inzwischen mit digitalen Endgeräten wie Tablets ausgerüstet. Doch was ist mit der Software? Welche Apps können im Unterrichtsalltag wirklich helfen? Prof. Daniel Walter hat diese Frage für den Mathematik-Unterricht der Grundschule untersucht – und jetzt eine umfassende App-Analyse vorgelegt. Über die Ergebnisse spricht er im Interview.

Redaktion: Herr Walter, was war das zentrale Anliegen Ihrer Studie zu Mathematik-Apps für die Grundschule? Was wollten Sie herausfinden?

Prof. Dr. Daniel Walter: Die Digitalisierung in der Grundschule ist ein wichtiges Thema, unter anderem auch im Fach Mathematik. Dabei sind Tablet-Apps neben anderen Formaten wie Erklärvideos eines der zentralen digitalen Lernangebote. Die Apps werden oftmals für ihre mangelhafte Qualität kritisiert, jedoch hat es bisher an einer Datengrundlage für den deutschsprachigen Kontext gefehlt. Deswegen habe ich mit meinem Kollegen Dr. Ulrich Schwätzer den Bestand im deutschsprachigen Raum systematisiert und analysiert. Insgesamt sind wir zum Erhebungszeitpunkt im August 2022 auf eine Zahl von insgesamt 227 Apps gekommen, die in unsere Analyse eingegangen sind. 

Redaktion: Auf welche Kriterien hin haben Sie die Apps untersucht?

Walter: Wir haben die Grundschul-Mathematik-Apps in mehreren Kategorien analysiert. Eine adressierte lediglich die Oberflächenmerkmale – also beispielsweise wie teuer eine App ist, für welche Plattform sie ausgelegt ist und so weiter. Die weiteren Kategorien adressierten fachdidaktische Aspekte. Hier haben wir unter anderem untersucht, welche inhaltlichen Kompetenzen, wie sie in den Bildungsstandards für die Primarstufe in Deutschland festgelegt sind, in den Apps berücksichtigt werden: Dazu gehören die Kompetenzbereiche Zahl und Operation, Raum und Form, Größen und Messen, Daten und Zufall. In einer weiteren Kategorie geht es darum, in welcher Art und Weise diese Bereiche in der jeweiligen App abgedeckt werden. Dies nennen wir prozessbezogene Kompetenzen.

Redaktion: Was spielt bei den prozessbezogenen Kompetenzen eine Rolle?

Walter: Bei diesen geht es um das Problemlösen, das Argumentieren, das Kommunizieren, das Modellieren und das Darstellen. Regt die App diese Aspekte an? Oder werden die Kinder letztlich nur dahingehend »gedrillt«, das Einmaleins auswendig zu lernen? Eine weitere Kategorie bezieht sich auf die mathematikdidaktischen Potenziale digitaler Medien: Diese Kategorie untersucht, ob die Apps innovative didaktische Konzepte beinhalten, die das mathematische Verständnis der Schüler und Schülerinnen fördern können. Da geht es etwa darum, wie umfangreich und hilfreich die computergestützten Rückmeldungen der App sind. Hilft sie mir, die richtige Lösung zu finden und zu verstehen oder meldet sie mir nur, ob meine Bearbeitung richtig oder falsch ist? In diesen Bereich fällt auch die Frage danach, wie mit Darstellungen umgegangen wird. Sind sie synchronisiert und vernetzt, zum Beispiel durch eine Synchronisierung von Plättchendarstellungen und einer symbolischen Darstellung mit Zahlzeichen? In der letzten Kategorie, der Lernprozess-Segmentierung, geht es schließlich um die Phasen des Lernprozesses, in denen die jeweilige App sinnvoll eingesetzt werden kann. Häufig wird an Mathe-Apps kritisiert, dass sie nur für den Abschluss des Lernprozesses geeignet seien. Sie bringen mir – so die häufige Kritik – als Schülerin oder Schüler also erst etwas, wenn ich schon viel verstanden habe – und ich das Verstandene mithilfe der App sichern möchte. Gute Apps sind aber auch in den anderen drei Phasen des Lernens nötig.

Redaktion: Welche Phasen sind das?

Walter: Als erstes geht es um den Aufbau von Grundvorstellungen, also dass ich etwa die Subtraktion verstehe. Was kommt zum Beispiel dabei heraus, wenn ich zwölf Elemente habe und drei davon wegnehme? In dieser Phase spielen in der Grundschule auch oft Materialien wie Plättchen zur Mengendarstellung eine Rolle. Wir haben geschaut: Finden Apps Wege, dies hilfreich darzustellen? In der zweiten Phase geht es um Strukturzusammenhänge. Hier werden im Idealfall also Strukturen und Beziehungen zwischen Aufgaben geschaffen, also etwa eine Serie von Aufgaben: 5+1, 5+2, 5+3, 5+4. Die Idee ist dabei, dass die Kinder nicht nur Zeile für Zeile diese Aufgaben berechnen, sondern auch die Zusammenhänge zwischen den Aufgaben untersuchen und Einsichten in deren Struktur gewinnen. In Phase drei geht es um den Transfer dieser Zusammenhänge auf die symbolische Ebene. Dass also nicht mehr nur mit Plättchen gerechnet wird, sondern auch mit Zahlzeichen. Auch hier geht es darum, ob Apps einen Weg finden, diesen Transfer zu unterstützen. Ganz am Ende steht dann die Phase, in der das Verstandene gesichert werden soll. In unserer Analyse haben wir bei all den Phasen nicht geschaut, wie umfangreich sie berücksichtigt werden, lediglich, ob überhaupt für die jeweiligen Phasen Angebote gemacht werden.

Redaktion: Wie schneiden die Apps im Schnitt in den von Ihnen dargestellten Kategorien ab?

Walter: Wir haben eine sehr klare Dominanz an Apps vorgefunden, die dem Inhaltsbereich Zahl und Operation zuzuordnen sind: 210 von den 227 Apps haben mindestens eine Aufgabe in diesem Bereich, also 92,5 Prozent. Der Bereich Raum und Form kommt dagegen in 21,1 Prozent der Apps vor, Größen und Messen liegt bei 20,3 Prozent. Daten und Zufall spielen nur noch bei sieben Apps eine Rolle, das sind 3,1 Prozent. Muster, Strukturen und Zusammenhänge werden bei 7,5 Prozent der Apps thematisiert. Arithmetik ist natürlich ein wichtiger Teil des Mathematikunterrichts in der Grundschule, aber die Dominanz hat mich doch etwas überrascht und ein Stück weit ernüchtert.

„Von den 210 Apps, die den Bereichen Zahlen und Operationen abdecken, sind ein Großteil sogenannte Rechentrainer, die bloßes repetitives Übungstraining für das Einmaleins abbilden.“

Prof. Dr. Daniel Walter

Redaktion: Wie erklären Sie sich diese Dominanz im Bereich Zahl und Operation?

Walter: Von diesen 210 Apps, die den Bereichen Zahlen und Operationen abdecken, sind ein Großteil sogenannte Rechentrainer, die bloßes repetitives Übungstraining für das Einmaleins abbilden. Das ist auch technisch deutlich einfacher umzusetzen als beispielsweise Materialdarstellungen zu dynamisieren. Wenn man sich anschaut, wer die Entwickler von solchen Apps sind, dann findet man häufig Personen und Unternehmen, die nicht aus der Mathematikdidaktik kommen – also Menschen, die recht wenig bis keine Erfahrung mit Mathematiklernen in der Grundschule haben. Es scheint also hinter vielen dieser Apps nicht unbedingt ein fachdidaktisches, sondern ein kommerzielles Interesse zu stehen.

Redaktion: Was lässt sich noch über die Apps sagen nach Ihrer Analyse?

Walter: Die Ergebnisse bei den prozessbezogenen Kompetenzen waren auffällig. Der Anspruch, der heute an Mathematikunterricht in der Grundschule gestellt wird – Anregungen zu schaffen, um zu argumentieren, zu kommunizieren, Probleme zu lösen, darzustellen und zu modellieren – wird von den meisten Apps nicht erfüllt. Wir haben genau eine App, in der Problemlösung direkt angesprochen wird, drei, die das Darstellen adressieren im Aufgabentext. Das heißt nicht unbedingt, dass diese prozessbezogenen Kompetenzen mit den Apps gar nicht unterstützt werden können. Wir haben auch danach geschaut, ob Apps, die diese Kompetenzen nicht direkt ansprechen, zumindest implizit durch kluge Impulse der Lehrkraft angeregt werden können. Das war zumindest bei 28 Apps zum Thema Argumentieren der Fall, ebenfalls 28 boten dies beim Kommunizieren, 18 beim Problemlösen, 24 beim Darstellen. Dennoch bleibt festzuhalten: In den allermeisten Apps sind prozessbezogene Kompetenzen weder in den Aufgabenstellungen explizit enthalten, noch implizit denkbar. Das ist ein alarmierendes Ergebnis, weil es bedeutet, dass ich mich in vielen Bereichen als Lehrkraft nicht darauf verlassen kann, dass die Kinder entsprechende Aufgaben bekommen, wenn sie selbstständig mit einer solchen App arbeiten.

Redaktion: Wie sah es bei den Apps mit den mathematikdidaktischen Potentialen aus? 

Walter: Informatives Feedback und hilfreiche Rückmeldungen boten nur 6,6 Prozent aller Apps. Strukturierte Darstellungen waren bei 14,1 Prozent der Apps zu finden, 11,5 Prozent der Apps waren in der Lage, Rechnungen synchronisiert und vernetzt darzustellen. Auch diese Potenziale werden also nur unzureichend abgebildet, da gibt es noch viel Luft nach oben.

Redaktion: Was hat Ihre Analyse bezüglich der Lernphasen ergeben, in denen die Apps eingesetzt werden können? 

Walter: Die meisten Aufgaben, die von den Apps gestellt werden, sind unstrukturiert, unzusammenhängend und rein symbolischer Natur, das heißt, sie eignen sich nur für die abschließende Phase des Lernens. Auch das ist eine wichtige Information für die Lehrkräfte, die solche Apps vielleicht auch schon früher im Lernprozess einsetzen wollen. Viele sind dafür nicht geeignet.

Redaktion: Gibt es denn auch empfehlenswerte Apps, die deutlich besser abschneiden und auch mehr leisten können als nur der Drill-Instructor zu sein am Ende des Lernprozesses?

Walter: Ja, die gibt es. Ich kann hier etwa die Lern-Apps von Christian Urff empfehlen (Link unter diesem Interview, Anm. d. Red.). Er ist gegenwärtig Lehrkraft in einer Schule in Baden-Württemberg, hat Informatik studiert und ist promovierter Mathematikdidaktiker – eine fast einmalige und zugleich ideale Kombination für die App-Entwicklung. Weitere gute App-Empfehlungen, die über einfache Rechentrainer hinausgehen, findet man beim Deutschen Zentrum für Lehrkräftebildung Mathematik und dessen Teilprojekt Pikas Digi.

„Wir brauchen mehr Apps, die auch verstehensorientiert angelegt sind und die zum tiefen Denken anregen.“

Prof. Dr. Daniel Walter

Redaktion: Was würden Sie darüber hinaus Lehrkräften empfehlen, die nach guten Mathematik-Apps für die Grundschule suchen?

Walter: Wenn ich digitale Medien nutzen möchte, bin ich als Lehrkraft mit einem riesigen Angebot konfrontiert, das ich natürlich nicht komplett sichten und prüfen kann. Wir haben auf der Website Mappsa.de die analysierten Apps in einer Datenbank hinterlegt. Dort finden Lehrkräfte auch Anleitungen, wie man diese sinnvoll für den eigenen Gebrauch filtern kann. Als Beispiel: Ich suche als Lehrkraft etwas im Bereich Geometrie, das auch den Erstkontakt und den Aufbau von Wissen abdeckt. Dann kann ich mir in der Datenbank mit entsprechenden Filtern eine Schnittmenge an Apps raussuchen, die diesen Kriterien genügen. Wir haben auch zu jeder App einen kleinen redaktionellen Text verfasst, der die App und was sie leistet, kurz beschreibt. Natürlich muss ich am Ende dann die herausgefilterte App selbst anschauen und mit meinem eigenen fachdidaktischen Know-how beurteilen, ob sie das leisten kann, was ich für meinen Unterricht benötige.

Redaktion: Wo sehen Sie nach Ihrer Analyse die größten Verbesserungspotenziale bei Mathematik-Apps und allgemein bei der Digitalisierung für die Grundschule?

Walter: Wir brauchen mehr Apps, die auch verstehensorientiert angelegt sind und die zum tiefen Denken anregen. Es sollten noch deutlich stärker prozessbezogene Kompetenzen adressiert werden. Wir brauchen auch Apps, die vor allem mehr die Potenziale digitaler Medien ausschöpfen in der Mathematikdidaktik. Positiv zu bewerten ist, dass sich im Bereich Digitalisierung der Grundschule viel bewegt. Am Ende geht es insbesondere darum, Lehrkräfte dabei zu unterstützen, digitale Medien einzusetzen und die Potenziale digitaler Medien immer besser für sich und ihre Schülerinnen und Schüler zu nutzen. Hier gibt es inzwischen eine Reihe an Initiativen, wie etwa das bundesweit agierende Qualifizierungsprogramm QuaMath, an dem ich für die Angebote zum Einsatz digitaler Medien in den Klassen 1 bis 4 beteiligt bin.

Redaktion: Herr Professor Walter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Daniel Walter ist Juniorprofessor für Didaktik der Mathematik in der Primarstufe am Institut für Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts der Technischen Universität Dortmund. In seinen Forschungsschwerpunkten widmet er sich dem fachbezogenen Einsatz digitaler Medien im Mathematikunterricht, der Sicherung arithmetischer Basiskompetenzen sowie der empirischen Bildungsforschung.