Medienkompetenz im Klassenzimmer: Wie Jugendliche lernen, Fake News zu durchschauen
Schüler:innen haben oft Schwierigkeiten, Desinformationen von vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Doch es gibt erlernbare Strategien, die dabei helfen können.

Des- und Fehlinformationen werden gezielt eingesetzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Studien belegen, dass insbesondere Jugendliche Schwierigkeiten haben, Fake News zu erkennen und anfälliger für Manipulation sind. Prof. Samuel Greiff und Dr. Tamara Kastroff erläutern, wie Schulen die Medienkompetenz gezielt fördern können.
Redaktion: Herr Professor Greiff und Frau Dr. Kastorff, die PISA-Sonderauswertung zeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler Defizite in der Medienkompetenz haben. Was sind die zentralen Erkenntnisse Ihrer Auswertung?
Prof. Dr. Samuel Greiff: In der Sonderauswertung der PISA-Studie 2022 haben wir uns die digitale Informationskompetenz von Jugendlichen in Deutschland sehr genau angeschaut. Dabei zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler zwar problemlos Online-Quellen ausfindig machen, jeder zweite Jugendliche sich aber nicht zutraut, die Qualität von Online-Informationen kritisch zu bewerten. Diese Problematik ist besonders gravierend, da die Fähigkeit, zwischen vertrauenswürdigen Online-Quellen und Fake News zu unterscheiden, essenziell für die Teilhabe an der digitalen Gesellschaft ist.
Redaktion: Welche Konsequenzen hat es, wenn Schülerinnen und Schüler Fake News nicht ausreichend erkennen können?
Dr. Tamara Kastorff: Fehlende digitale Informationskompetenz führt zu unreflektierter Übernahme von Fake News, so werden Schülerinnen und Schüler leicht Ziel von Manipulationen. Die Jugendlichen laufen Gefahr, falsche Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel im finanziellen Bereich. Gleichzeitig tragen Fake News auch zu einem allgemeinen Gefühl der Verunsicherung bei. Das kann Stress auslösen – oder stärkere Emotionen.
Greiff: Das Problem betrifft uns auch als Gesellschaft insgesamt. Wir leben in einer Zeit, in der objektive Wahrheiten immer häufiger angezweifelt und Fakten durch Meinungen ersetzt werden. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Desinformation wird gezielt eingesetzt, um Misstrauen zu streuen und unterschiedliche Meinungen in tiefe Gräben umzubauen. Das Resultat ist häufig Spaltung. Wo Argumente nicht mehr zählen, wachsen Aggressionen, und Fake News werden zur Grundlage von Verschwörungstheorien und radikalen Bewegungen. Deshalb ist es wichtig, digitale Medienkompetenz bereits in der Schule zu fördern und Schülerinnen und Schüler auf die digitale Welt vorzubereiten.
Redaktion: Welche Fähigkeiten zeichnen eine medienkompetente Schülerin oder einen medienkompetenten Schüler aus?
Kastorff: Medienkompetente Schülerinnen und Schüler müssen heutzutage weit mehr können, als nur eine Suchmaschine zu bedienen oder ein paar Begriffe zu googeln. Sie müssen erkennen, ob eine Quelle vertrauenswürdig ist, zwischen seriösen Nachrichten und gezielter Desinformation unterscheiden und sich sicher, aber auch verantwortungsbewusst in sozialen Netzwerken bewegen. Zusätzlich geht es auch um die eigene Medienproduktion. Medienkompetente Schülerinnen und Schüler können digitale Inhalte – sei es ein Social-Media-Post, eine Präsentation oder eine Videorecherche – so gestalten, dass sie gut recherchiert, verständlich aufbereitet und für die Zielgruppe ansprechend sind, dabei aber ethische Prinzipien wahren.
„[...] Medienkompetenz muss einen Platz im fachlichen Unterricht finden, und zwar möglichst durchgängig, etwa im Mathematik-, aber auch im Deutschunterricht.“
Prof. Dr. Samuel Greiff
Redaktion: Wie sollte Medienkompetenz idealerweise vermittelt werden?
Greiff: Medienkompetenz ist ein Querschnittsthema. Es geht also nicht darum, ein eigenständiges Fach „Medienkompetenz“ einzuführen. Ganz im Gegenteil: Medienkompetenz muss einen Platz im fachlichen Unterricht finden, und zwar möglichst durchgängig, etwa im Mathematik-, aber auch im Deutschunterricht. Es geht also darum, digitale Aspekte in den bestehenden Unterricht einzubinden.
Kastorff: Der Unterricht spielt eine zentrale Rolle bei der Förderung der Medienkompetenz von Lernenden. Es ist jedoch entscheidend, dass diese Verantwortung nicht einfach auf Lehrkräfte abgewälzt wird. Vielmehr müssen Lehrkräfte in diesem Vorhaben umfassend unterstützt werden. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission empfiehlt in diesem Zusammenhang beispielsweise die Einrichtung länderübergreifender Zentren für digitale Bildung, in denen Lehr-Lern-Materialien für den digital gestützten Unterricht bereitgestellt werden. Dies kann maßgeblich zur Förderung der Medienkompetenz Jugendlicher beitragen.
Redaktion: Wie effektiv sind solche Fördermaßnahmen überhaupt? Gibt es in der Forschung Hinweise darauf, dass Jugendliche durch gezielte Medienbildung resilienter gegenüber manipulativen Inhalten werden?
Kastorff: Ja, solche Studien gibt es tatsächlich. Die Forschung zeigt beispielsweise, dass bereits leicht umsetzbare Maßnahmen Lernenden helfen können, manipulative Inhalte und Fake News zu erkennen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben gezeigt, dass Fake News mit wenigen einfachen Schritten identifiziert werden können. Dazu zählt unter anderem die Sensibilisierung dafür, dass ein ungewöhnlicher Link oder ein auffälliges Bildformat erste Hinweise auf Falschinformationen sein können. Das Problem liegt also nicht darin, dass wir nicht wissen, was zu tun ist. Das eigentliche Problem ist, diese Ansätze in die Breite zu bringen und die Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis zu überwinden.
Redaktion: Welche Strategien eignen sich besonders, um das kritische Denken von Kindern und Jugendlichen zu fördern?
Greiff: Eine einfache und gute Möglichkeit ist es, Kinder und Jugendliche gezielt zu sensibilisieren – zum Beispiel dafür, auf die Vertrauenswürdigkeit von Quellen zu achten oder diese gezielt zu prüfen. Darüber hinaus bieten viele Landesinstitute konkrete Unterrichtsmaterialien wie Arbeitsblätter oder Handreichungen für Lehrkräfte an, um Jugendliche für Fake News zu sensibilisieren. Ein Beispiel dafür ist der SWR Fakefinder. Damit können Lernende spielerisch die Glaubwürdigkeit von Posts einschätzen und erhalten direktes Feedback. Zudem wird Unterrichtsmaterial zur Vertiefung der Thematik im Unterricht geboten.
Um das kritische Denken von Jugendlichen im Unterricht zu fördern, können Lehrkräfte eine Reihe bewährter Methoden einsetzen, wie Entdeckendes Lernen. Dabei führen Schülerinnen und Schüler eigenständig kleine Experimente durch, dokumentieren ihre Ergebnisse und lernen so, verlässliche Daten zu generieren und zu interpretieren. Darüber hinaus eignen sich Diskussionsformate innerhalb der Klassengemeinschaft, um kritisches Denken gezielt zu stärken. Indem Schülerinnen und Schüler Argumente der Gegenseite inhaltsbasiert analysieren und hinterfragen, entwickeln sie ein tieferes Verständnis für unterschiedliche Perspektiven und schärfen ihre Kompetenz, gut zu argumentieren.
Redaktion: Welche Altersgruppen profitieren am meisten von gezieltem Medienkompetenz-Unterricht?
Greiff: Gezielte Unterstützung der Medienkompetenz ist für alle Altersgruppen wertvoll, aber die Schwerpunkte sollten je nach Entwicklungsstand variieren. In der Grundschule sollten vor allem Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen gefördert werden. Digitale Medien können dabei als unterstützendes Werkzeug dienen – zum Beispiel durch kreative Lernmethoden oder interaktive Aufgaben. Ein umfassender Medienkompetenz-Unterricht sollte in der Sekundarstufe stärker in den Fokus rücken. Hier können Jugendliche gezielt lernen, digitale Inhalte kritisch zu hinterfragen, verantwortungsbewusst mit Daten umzugehen und Medien nicht nur konsumierend, sondern auch kreativ-produktiv zu nutzen. Kurz gesagt: Medienbildung sollte früh beginnen, aber altersgerecht angepasst werden: Erst die Grundlagen – dann darauf aufbauend ein reflektierter und vertiefter Umgang mit digitalen Medien.
Redaktion: Viele Jugendliche kommen früh mit populistischen oder extremistischen Inhalten auf Plattformen wie TikTok in Kontakt. Wie können Schulen präventiv dagegen vorgehen?
Greiff: Plattformen wie TikTok sind längst etabliert und werden nicht mehr verschwinden. Es geht also nicht darum, den Zugang zu verhindern – das wäre auch gar nicht realistisch. Es geht darum, Schülerinnen und Schüler dafür zu sensibilisieren, populistische oder extremistische Inhalte als solche zu erkennen. Wir sehen in den Ergebnissen der Sonderauswertung, dass hier ein konkreter Handlungsbedarf besteht: Jeder dritte Jugendliche überprüft nicht, ob Informationen korrekt sind, bevor sie geteilt werden. Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Deshalb sollten Lehrkräfte bereits in ihrer Ausbildung darauf vorbereitet werden, wie sie Medienkompetenz unterstützen können. Besonders wichtig ist es hierbei auch, Risikogruppen frühzeitig zu erkennen und Lehrkräfte aktiv in diese Präventionsarbeit einzubeziehen. Daraus ergeben sich sogar ganz konkrete Chancen für den Fachunterricht: Lehrkräfte können beispielsweise mithilfe von Fake News Lernende für das Thema Rechtsextremismus sensibilisieren. Hierzu empfehlen Landesinstitute beispielsweise das Online-Spiel „Augen Auf“, das von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (BLZ) speziell für den Unterricht entwickelt wurde. Das Spiel klärt über die Strategien rechtsextremistischer Gruppen in sozialen Netzwerken auf und eignet sich somit für den geisteswissenschaftlichen Fachunterricht.
„Statt einseitiger Schuldzuweisungen, sollte der Fokus eher darauf liegen, Lehrkräfte gezielt zu befähigen, ihnen praxisnahe Lösungen an die Hand zu geben und sie vor allem in ihren zeitlichen Ressourcen nicht noch weiter zu belasten.“
Prof. Dr. Samuel Greiff
Redaktion: Nun sind nicht alle Lehrkräfte im gleichen Maße medienaffin. Welche Rolle spielen Lehrkräfte, unabhängig von ihrem Fach, bei der Vermittlung von Medienkompetenz?
Greiff: Lehrkräfte spielen eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Medienkompetenz. Wenn sie einen reflektierten Umgang mit digitalen Medien im Unterricht vermitteln, können sie Defizite ausgleichen, die manche Schülerinnen und Schüler von zu Hause mitbringen. Allerdings muss man realistisch bleiben: Viele Lehrkräfte sind selbst nicht umfassend im Unterrichten von Medienkompetenz ausgebildet und stehen vor der Herausforderung, plötzlich digitale Methoden in einen ohnehin schon viel zu vollen Lehrplan zu integrieren. Es ist daher wenig zielführend, nur die Kompetenzen der Lehrkräfte zu kritisieren, ohne ihnen gleichzeitig mehr Unterstützung und Fortbildungsmöglichkeiten zu bieten. Statt einseitiger Schuldzuweisungen, sollte der Fokus eher darauf liegen, Lehrkräfte gezielt zu befähigen, ihnen praxisnahe Lösungen an die Hand zu geben und sie vor allem in ihren zeitlichen Ressourcen nicht noch weiter zu belasten. Das wäre eine wichtige Maßnahme, um Medienkompetenz nachhaltig in den Schulalltag zu integrieren.
Redaktion: Wie können Lehrkräfte bei der Vermittlung von Medienkompetenz besser unterstützt werden?
Kastorff: Um Lehrkräfte besser bei der Vermittlung von Medienkompetenz zu unterstützen, braucht es strukturelle und langfristige Lösungen. Zwar gibt es viele Zentren für Lehrkräftebildung, doch das Angebot im Bereich der digitalen Bildung gleicht oft einem Flickenteppich – uneinheitlich, unzureichend und wenig praxisnah. Dabei gibt es bereits erfolgreiche Ansätze, wie etwa die „Berater digitale Bildung“ in Bayern. Sie begleiten Schulen im digitalen Wandel, fungieren als Bindeglied zwischen schulischen und außerschulischen Akteuren und stehen Lehrkräften aller Erfahrungsstufen unterstützend zur Seite.
Greiff: Neben der grundständigen Ausbildung muss folglich vor allem die Fort- und Weiterbildung systematisch und im Idealfall verpflichtend in das Berufsleben von Lehrkräften integriert werden. Lehrkräfte sind oft jahrzehntelang im Schuldienst – in dieser Zeit ändern sich digitale Anforderungen grundlegend. Es kann nicht sein, dass sie auf sich allein gestellt bleiben, wenn es um den Umgang mit neuen Technologien und digitalen Lehrmethoden geht. Es braucht eine nachhaltige Weiterbildungsstruktur, die Lehrkräfte kontinuierlich begleitet, statt nur punktuell Schulungen anzubieten.
Redaktion: Kinder und Jugendliche verbringen nur einen Teil des Tages im Unterricht. Welche Verantwortung tragen Eltern und außerschulische Akteure wie Medien oder Plattformanbieter in der Vermittlung von Medienkompetenz?
Greiff: Die bestmögliche Bildung für alle zu gewährleisten, ist nicht nur ein individuelles Anliegen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Ziel und Teil des staatlichen Bildungsauftrags. Selbstverständlich sind hier alle Akteure in der Verantwortung. Die Schule hat allerdings einen großen Vorteil: Sie kann über einen längeren Zeitraum gezielt Kompetenzen vermitteln. Diese Aufgabe kann und soll sie aber nicht allein bewältigen. Alle relevanten Akteure – insbesondere Eltern – müssen mit ins Boot geholt werden. Es gibt bereits erfolgreiche Projekte, die Eltern sensibilisieren und einbeziehen, und die positiven Effekte solcher Ansätze sind deutlich erkennbar. Ein Beispiel hierfür ist der Schulversuch ‚AKZENT‘, bei dem schulspezifische Konzepte für eine partnerschaftliche Elternarbeit entwickelt wurden, sodass Eltern und Lehrkräfte gemeinsam am Erziehungs- und Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler arbeiten. Im Endeffekt wird kein Weg daran vorbeiführen: Jugendliche müssen lernen, mit Fake News und digitalen Herausforderungen umzugehen – wie Kapitäne, die ihre Schiffe sicher durch stürmische digitale Gewässer navigieren. Diese Herausforderung können wir nur gemeinsam meistern, durch die enge Zusammenarbeit von Schulen, Lehrkräften, Eltern und weiteren gesellschaftlichen Akteuren.
Redaktion: Herr Professor Greiff, Frau Doktorin Kastorff, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Samuel Greiff ist Professor für Educational Monitoring & Effectiveness an der TUM School of Social Sciences & Technology. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich systemischer Bildungsfragen sowie Bildungsmonitoring auf der Basis groß angelegter Bildungsvergleichsstudien.

Zur Person
Tamara Kastorff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Postdoktorandin an der Technischen Universität München. Ihre Forschungsinteressen liegen unter anderem in den Bereichen Medienkompetenzen und Unterrichtsqualität.