Mehr Geld für arme Schulen – ein Wagnis mit Risiken und Nebenwirkungen

Prof. Marcel Helbig spricht über sein Projekt zum Abbau von Bildungsbarrieren, das Startchancen-Programm und die Probleme gerechter Ressourcenverteilung

Mit dem Startchancen-Programm wird es erneut versucht: das Bildungssystem bedarfsgerechter zu finanzieren, so dass vor allem benachteiligte Schulen unterstützt werden und die Chancengerechtigkeit zunimmt. Ob das so funktioniert, woran es in der Umsetzung hakt und wie auch in der Praxis bedarfsorientiert gedacht werden kann, erläutert Professor Marcel Helbig vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg im Interview.

Redaktion: Herr Helbig, Sie leiten das Projekt „Abbaubar”, das sich für den Abbau von Bildungsbarrieren durch bedarfsorientierte Ressourcensteuerung in Deutschland einsetzt. Jetzt veranstalten Sie am 6. und 7. Juni eine Fachkonferenz zu diesem Thema in Berlin. Zunächst: Was verstehen Sie unter dem Begriff bedarfsorientierte Ressourcensteuerung eigentlich?

Prof. Dr. Marcel Helbig: Man hat im deutschen Bildungssystem lange Zeit Geld mit der Gießkanne verteilt, so dass bei jedem Kind etwa gleich viel Unterstützung ankam. Die bedarfsorientierte Ressourcensteuerung möchte hingegen die höheren Bedarfe der Kinder berücksichtigen, die aus sozial benachteiligten Schichten kommen, und ihnen so mehr Bildungserfolg ermöglichen. Dieser Ansatz konzentriert sich heute oftmals auf Schulen, die von besonders vielen Schülerinnen und Schülern mit zugewanderten Eltern und/oder aus ärmeren Verhältnissen besucht werden. Mit entsprechend mehr finanzieller Unterstützung für diese Schulen soll dafür gesorgt werden, dass mehr Kinder mit gleichen Voraussetzungen auf ihrem Bildungsweg starten können.

Redaktion: Welche Wirkung versprechen Sie sich von diesem Ansatz? Gibt es Empirie, die ihn unterstützt?

Helbig: Was die Wirkung angeht, müssen wir in Deutschland ehrlicherweise sagen: Wir haben zu diesem Ansatz wie auch zu vielem anderen, dass wir in diesem Land bildungspolitisch versuchen, keine Empirie, also keine klaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, die darauf hindeuten würden, dass mehr Geld in sozial benachteiligten Schulen die Leistung der dortigen Kinder verbessert oder die Chancengleichheit erhöht. Wir haben diesbezüglich also ein ziemlich leeres weißes Blatt. Und zwar nicht unbedingt, weil der Ansatz nicht wirken würde, sondern weil wir keine geeignete Datengrundlage haben, um die Wirkung untersuchen zu können.

Redaktion: Warum tut man sich im deutschen Bildungssystem so schwer, Daten zu erheben und Wirkungsanalysen durchzuführen?

Helbig: Hier kann man eine Reihe kultureller und politischer Gründe anführen. Sicherlich macht es zum Beispiel das Mehrebenensystem in Deutschland nicht leichter. Vom Bund bis zu den Kommunen gibt es einen starken Wildwuchs bei der Förderung und Finanzierung von sozial benachteiligten Schulen und Lernenden. Es gibt derzeit sehr viele Fördermaßnahmen, die auch zu einem relativ ähnlichen Zeitpunkt gestartet sind. In Hamburg, wo die Datengrundlage grundsätzlich gut ist, gibt es zum Beispiel individuelle, aufs Kind zugeschnittene Sprachförderung, an Schulen mit besonders benachteiligten Kindern hat man kleinere Schulklassen eingeführt, es kommen Schulentwicklungsprogramme hinzu und viele weitere Maßnahmen, die parallel laufen. Am Ende ist es ganz schwer nachzuvollziehen: Was hat hier eigentlich wie gewirkt? Und in anderen Bundesländern, in denen die Landesebene und die kommunale Ebene nicht so verzahnt sind wie in den Stadtstaaten, sieht es noch schwieriger aus. Wie wir im Rahmen unseres Projekts im Austausch mit den Kommunen erfahren haben, agieren Länder und Kommunen teilweise sehr wenig abgestimmt. So gibt es Fachkräfte für Sozialarbeit, die durch die Kommunen finanziert werden, andere werden durch das Kultusministerium finanziert und wieder andere durch die Sozialministerien. Teilweise existieren dann nicht einmal gemeinsame Listen, aus denen hervorgeht, wer wo Schulsozialarbeitende einsetzt. Dazu kommen eine unübersichtliche Unterstützung von Stiftungen sowie zahlreiche Landesschulentwicklungsprogramme: Talentschulen in NRW, Perspektivschulen in Schleswig-Holstein, das Bonus-Programm in Berlin. Gleichzeitig fehlt es bei den Kommunen vor Ort oftmals an Wissen über die übergeordneten Maßnahmen der Länder. Das weist darauf hin, dass das Zusammenspiel zwischen Ländern und Kommunen nicht gut funktioniert. Und das erschwert es ungemein, auf all das eine Wirkungsforschung aufzusetzen. Hinzu kommt, dass bestehende Datenbestände der Länder der Forschung oftmals nicht zur Verfügung gestellt werden, um Wirkungen zu untersuchen.

„Wenn man jetzt einfach das Startchancen-Programm über alles drüberstülpt, kann das mit großen Effizienzverlusten einhergehen.“

Prof. Dr. Marcel Helbig

Redaktion: Das heißt, die eine Hand weiß nicht, was die andere tut?

Helbig: Ja, es fehlt die Übersicht. Auf der Bundesebene gibt es relativ wenig Verständnis davon, wie der Mitteleinsatz der unteren Ebenen aussieht. Noch einmal zur Schulsozialarbeit: Wenn der Bund nun über das Startchancen-Programm mehr Fachkräfte für Sozialarbeit in den Schulen einsetzen will, geht es dabei zumindest größtenteils um Schulen, an denen Schulsozialarbeit aus anderen Töpfen bereits finanziert wird und stattfindet. Es fehlt also jeglicher Überblick, wo Schulsozialarbeit ausreichend vorhanden ist und wo nicht. Auf Basis dessen, was wir im Rahmen unseres Projekts „Abbaubar” lernen, wäre mein Plädoyer daher: Wir sollten zunächst einen Schritt zurücktreten, Tabula rasa machen und uns einen Überblick darüber verschaffen, was alles wo und wie stattfindet. Und dann wäre es in einem zweiten Schritt wichtig, festzustellen, wie ein Ineinandergreifen der Programme gekoppelt mit zusätzlichen Mitteln sinnvoll zu erreichen ist. Wenn man jetzt einfach das Startchancen-Programm über alles drüberstülpt, kann das mit großen Effizienzverlusten einhergehen.

Redaktion: Stichwort Startchancen-Programm: Wir hatten vor etwa einem Jahr im Zuge Ihrer Studie zu Kinderarmutsquoten an Grundschulen auch über das Startchancen-Programm gesprochen, das ein Versuch der Regierung ist, bedarfsorientiert Ressourcen zu verteilen. Damals haben Sie das Projekt recht kritisch beurteilt. Wie hat es sich Ihrer Einschätzung nach entwickelt?

Helbig: Ich finde es etwas unlauter, dass sich Vertreter von Bund und Ländern vor die Presse gestellt und behauptet haben, es gäbe im Startchancen-Programm nun die große Abkehr vom Königsteiner Schlüssel (ein Finanzierungsmodell für gemeinsame Projekte in Deutschland, bei dem Kosten oder Leistungen für jedes Bundesland basierend auf Steueraufkommen und Bevölkerungszahl verteilt werden, Anm. d. Red.). Von den drei Säulen des Startchancen-Programms – Investitionen in den Schulbau, Schulentwicklung und multiprofessionelle Teams – gibt es nur bei der ersten Säule eine überschaubare Abkehr vom Königsberger Schlüssel. Insgesamt führt das nur zu wenigen bedarfsorientierten Abweichungen bei der Mittelzuweisung an die Länder. Zur Ausgestaltung des Programms fehlen naturgemäß noch Konkretisierungen zur Umsetzung. Man hat sich aus meiner Sicht in den Diskussionen um das Programm zu sehr auf die zweite Säule der Schulentwicklung fokussiert: Hier sind Schulämter und Landesinstitute involviert, welche nach einem gewissen Werkzeugkasten die Schulen in ihrer Entwicklung stärken sollen. Die beiden finanziell stärkeren Säulen – die Investitionen in den Schulbau und der Einsatz von Schulsozialarbeit und multiprofessionellen Teams – liegen weitgehend in den Händen der Kommunen. Und im Programm finden sich kaum Ausführungen zur konkreten Umsetzung dieser kommunalen Projekte. Mein Eindruck ist, dass man diese Ebene bisher nur unzureichend mitdenkt.

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Prof. Dr. Marcel Helbig hat erstmals empirisch ermittelt, welche Grundschulen in Deutschland eine hohe Kinderarmutsquote haben – und hofft, dass seine Studie in der Verteilung von Unterstützungsgeldern berücksichtigt wird

Redaktion: Sehen Sie auch positive Entwicklungen durch das Startchancen-Programm in Bezug auf eine bedarfsorientierte Ressourcenverteilung?

Helbig: Ja, durchaus. Das Startchancen-Programm hat Dinge auf den Weg gebracht, von denen ich nicht geglaubt hätte, dass sie in Deutschland jemals umgesetzt werden. Die Länder haben sich verpflichtet, die Mittel, die sie zugeteilt bekommen haben, nach bestimmten Indikatoren auf der Schulebene zu verteilen. Der Bund hat hierbei vorgegeben, dass mindestens die Kinderarmutsquote sowie die Migration berücksichtigt werden. Viele Länder berücksichtigen darüber hinaus noch viele weitere Hintergrundmerkmale der Schulen. Das Endergebnis ist: Jedes Land wird am Ende einen Sozialindex entwickelt haben, kann also eine datenbasierte Aussage darüber treffen, welches die sozial stärker belasteten und welches die weniger stark belasteten Schulen sind. Diese Entwicklung war in vielen Ländern wie Bayern oder Niedersachsen bisher nicht denkbar. Dass sie jetzt kommt, haben wir dem Startchancen-Programm zu verdanken. Zudem ist an das Programm eine Wirkungsforschung mit Zielsetzung gekoppelt. Es wird also überprüft, ob man es am Ende schafft, die Anteile derer, die die Basiskompetenzen nicht erreichen, zu halbieren. So klare Ziele haben sich andere Programme vorher nie gesetzt, das ist ein Paradigmenwechsel für Deutschland.

Redaktion: Welche nicht intendierten Folgen kann eine ungleiche Ressourcenzuweisung, wie sie das Startchancen-Programm versucht, im Schulsystem haben?

Helbig: Ich habe mit einem Kollegen zu diesem Thema Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz untersucht – das sind Schulen im regulären Schulbetrieb, die sich auf Inklusion konzentrieren sollen. Wir haben festgestellt, dass bei Schulen, nachdem sie den Wandel zu einer Schwerpunktschule vollzogen hatten, die soziale Zusammensetzung schlechter wurde. Die Schulen wurden also wohl aufgrund eines Labels von Mittel- und Oberschichten-Eltern eher abgelehnt und deren Kinder an andere Schulen geschickt. Nun kommt das Startchancen-Programm und deklariert auf einen Schlag 4000 Schulen als die Schulen mit dem höchsten Anteil von Kindern aus armen Verhältnissen und mit Migrationshintergrund. Laut der Bund-Ländervereinbarung gibt es dann sogar eine Art Siegel an den Schuleingängen, welches sie als „Startchancen-Schulen” kennzeichnet. Hier könnte eine nicht-intendierte Folge sein, dass dieses Label zu einer weiteren Abgrenzung der Schulen führt, dass gewisse Eltern diese Schulen meiden – aber auch andersherum: dass Eltern diese Schulen bevorzugt für den Nachwuchs auswählen, weil sie um die finanzielle Unterstützung für diese Schulen wissen.

„Mir sind in letzter Zeit viele Schulen aufgefallen, die sehr stark auf eine eigene Diagnostik setzen.“

Prof. Dr. Marcel Helbig

Redaktion: Das heißt, Schulen müssen die Teilnahme am Startchancen-Programm nicht zwangsläufig als positiv wahrnehmen?

Helbig: Meiner Meinung nach liest sich die Bund-Länder-Vereinbarung so, als würde man die 4000 benachteiligten Schulen mit Geld und Unterstützung beglücken. Nun werden die Schulen in vielen Bundesländern aber erst einmal gefragt, ob sie überhaupt mitmachen wollen – vielleicht auch aus der Erfahrung vergangener Schulentwicklungsprogramme heraus. Nach allem, was wir wissen, kann dies schon ein Problem sein. Insbesondere Schulen, die unter besonders schwierigen Bedingungen arbeiten, zum Beispiel nur eine kommissarische Schulleitung haben und keine Entwicklungskapazitäten sehen, verzichten eher auf die Teilnahme an Unterstützungsprogrammen, weil sie diese als wenig nützlich und nur als zusätzlichen Stress erleben.

Redaktion: Gibt es Best-Practice-Beispiele für eine bedarfsorientierte Ressourcenzuweisung?

Helbig: Wenn man groß denkt, ist Hamburg sicherlich ein Vorbild. Hamburg investiert massiv Geld, um die Klassengrößen an Schulen mit einer sozialstrukturell benachteiligten Schülerschaft spürbar zu senken. Hinzu kommt eine individuelle Sprachförderung im Nachmittagsbereich, die Kinder dort abholt, wo sie sind, ohne dabei schulferne Nachhilfeorganisationen einzuspannen. Dann gibt es auch kleinere Beispiele wie den Quadratkilometer Bildung, hinter dem die Freudenberg Stiftung steht. Dieses Projekt konzentriert sich darauf, an verschiedenen Standorten von benachteiligten Schulen in Deutschland eine Vernetzung mit dem Sozialraum zu schaffen und etwa Vereine mit ins Boot zu holen. Und obwohl sich viele Programme wie dieses sehr vielversprechend anhören, bleibt das Problem bei alledem – auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Es ist sehr schwierig zu sagen, ob und wie diese Maßnahmen tatsächlich wirken. Und eines muss man dazu festhalten: Gefühlt kam es in den letzten 10 bis 15 Jahren zu einem deutlich verstärkten Einsatz von Ressourcen, Programmen, Initiativen an Schulen in sozial benachteiligter Lage. Dass soziale Ungleichheiten der Kompetenzen in den letzten zehn Jahren dennoch wieder größer werden, wie zum Beispiel im IQB-Bildungstrend und in der Pisa-Studie zu sehen ist, lässt mich skeptisch ob der Wirkung zurück.

Redaktion: Am 6. und 7. Juni findet Ihre Fachkonferenz „Mehr Geld für arme Schulen? Umsetzung einer bedarfsgesteuerten Mittelzuweisung im bildungspolitischen Mehrebenensystem“ in Berlin statt. Was wollen Sie mit dieser erreichen?

Helbig: Wir haben sehr viele Bildungskonferenzen in Deutschland, die vor allem einen pädagogischen Fokus haben und den Unterricht und die Schulentwicklung diskutieren. Wir hingegen wollen mit der Fachkonferenz zur Umsetzung einer bedarfsgesteuerten Mittelzuweisung mehr die systemische Ebene adressieren. Im ersten Podium werden wir versuchen, mit Vertreterinnen und Vertretern von Bund, Ländern, Kommunen sowie Schulleitungen die Mehrebenenstruktur des Bildungssystems abzubilden und die Zusammenarbeit zwischen den Ebenen in den Blick zu nehmen. Es soll deutlich werden, dass die Probleme oftmals an den Schnittstellen und durch fehlende Abstimmung zwischen den Ebenen auftauchen. Zweitens wollen wir die kommunale Ebene mehr fokussieren, Best-Practice-Beispiele einsammeln. Dazu kommen zum Beispiel Leitende von Dezernaten und Ämtern aus Kiel, Leipzig, Dortmund und München, wo Leuchtturmprojekte stattfinden. Dabei soll es dann weniger darum gehen, was konkret vor Ort gemacht wird, sondern eher darum, wie diese Projekte überhaupt politisch umgesetzt werden konnten und welche Herausforderungen dabei zu bewältigen waren. Auch Stiftungsvertreterinnen und -vertreter werden vor Ort sein, ihre Rolle im System darstellen und schildern, wie ihre Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Akteuren aussieht.

Redaktion: Wie Sie dargestellt haben, sind viele der diskutierten Probleme beim Thema bedarfsorientierte Mittelzuweisung systemischer Natur. Welche Rolle spielen Lehrkräfte und Schulleitungen bei diesem Thema?

Helbig: Mir sind in letzter Zeit viele Schulen aufgefallen, die sehr stark auf eine eigene Diagnostik setzen. Sie überprüfen die Leistungen ihrer Kinder mit etablierten Tests, versuchen, Defizite früher zu erkennen und die betroffenen Kinder individueller zu fördern. Allein das ist eine große Herausforderung, bei der das ganze Lehrkräftekollegium mitspielen und davon überzeugt sein muss. Es zeigt aber, dass man auch im Rahmen einzelner Schulen, ohne mehr Geld zu haben, bedarfsorientiert eingreifen kann.

Redaktion: Herr Professor Helbig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Marcel Helbig ist Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und am Leibniz Institut für Bildungsverläufe (LIfBi). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem, Stadtsoziologie, Schulpolitik, und regionale Ungleichheiten.