Mindeststandards – ein Beitrag zu besserer Bildung für alle?

Dr. Günter Klein, Direktor des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) formuliert im Gastbeitrag ein Fazit zum Bildungspolitischen Forum 2022.

Was könnten dezidiert formulierte, fach- und schulformübergreifende Mindeststandards leisten, um unser Bildungssystem chancengerechter zu gestalten? Darüber diskutierten Verantwortliche aus Bildungsforschung, Bildungsadministration und Politik am 27. September 2022 auf dem Bildungspolitischen Forum in Berlin. Die Veranstaltung wurde vom Leibniz-Forschungsnetzwerk Bildungspotenziale (LERN) zusammen mit dem IQB (Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen), dem DIPF (Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) sowie dem WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) ausgerichtet. Dr. Günter Klein, Direktor des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) hat daran teilgenommen und formuliert im Gastbeitrag sein Fazit.

Worin liegt die Brisanz des Tagungsthemas Mindeststandards?

„Wie zahlreiche Studien belegen, ist der Anteil von Kindern und Jugendlichen, welche die Mindeststandards nicht erreichen, seit Jahren zu hoch.“

Dr. Günter Klein

Auf der Veranstaltung war die Brisanz des Tagungsthemas von Beginn an spürbar. Wenig überraschend, denn es lenkt den Blick auf eine beunruhigende Schwachstelle in der Leistungsfähigkeit unseres Schulwesens. Wie zahlreiche Studien belegen, ist der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die die Mindeststandards nicht erreichen, seit Jahren zu hoch. Dass er laut dem aktuellen IQB-Bildungstrend weiter anwächst, macht überdeutlich, dass sich die verschiedenen Akteure in den Bundesländern dringend mit der Thematik befassen müssen. Darin waren sich alle Gesprächspartner auf der abschließenden Podiumsdiskussion einig. Einige besonders wichtige Aspekte, die auf diesem Forum diskutiert wurden, möchte ich hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz zusammenfassen und skizzieren, welche Konsequenzen meines Erachtens zu ziehen sind. 

Warum reicht der Beschluss der Kulturministerkonferenz zur Entwicklung von Bildungsstandards nicht aus?

Mit dem Beschluss der Kulturministerkonferenz (KMK) zur Entwicklung von Bildungsstandards und deren Überprüfung wurde vor gut 20 Jahren erstmals die Grundlage zur Identifikation von unzureichenden Kompetenzentwicklungen geschaffen. Das war zweifellos ein wichtiger Meilenstein der Qualitätssicherung und -entwicklung unseres Bildungssystems. Aber es ist jetzt an der Zeit, den Begriff der Mindeststandards stärker in den Blick zu nehmen: als Ergebnis von Bildungsprozessen, also als Outcome einerseits aber auch als Voraussetzung im Sinne von strukturellen, organisatorischen, personellen oder materiellen Rahmenbedingungen, die für die Bildung im Sinne der Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung nötig sind. Hierfür bedarf es verstärkter Anstrengungen, den etwas „wolkigen“ Begriff von wirkungsbezogenen Mindeststandards zu konkretisieren. Gerade auch im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe muss definiert werden, was denn als notwendige und unverzichtbare Kompetenzen für weitere Bildungsprozesse verstanden werden soll. Was gilt als unverzichtbar? Woran ist dies zu erkennen? Und wer legt fest, was Mindeststandards sind? Im Weiteren bedeutet dies, dass dem konzeptionellen Verständnis von Mindeststandards ein didaktisches Verständnis folgen muss. Auf dessen Grundlage müssen schließlich integrierte Handlungskonzepte entwickelt werden, die die Anschlussfähigkeit an die unmittelbare pädagogische Praxis sicherstellen. Hier sind nicht zuletzt die Landesinstitute gefordert.

„Es geht um den Anspruch, dass prinzipiell jeder die Chance haben sollte, an Bildungsprozessen teilzuhaben, unabhängig von seinem individuellen sozio-ökonomischen Hintergrund.“

Dr. Günter Klein

Weshalb greift die Fixierung auf fachliche Kompetenzen zu kurz?

Aus mehreren Gründen ist zu klären, ob die bei der Formulierung von Bildungsstandards vorherrschende Fixierung auf fachliche Kompetenzen in den Bereichen Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften noch zeitgemäß und gegebenenfalls zu revidieren ist. Das ist bereits vor dem Hintergrund des Bildungs- und Erziehungsauftrags, wie er etwa in Landesverfassungen, Schulgesetzen und Bildungsplänen formuliert wird, relevant. Dort wird als Voraussetzung für ein eigenständiges und mündiges Leben und als Befähigung zur Teilhabe an gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Entwicklungen und zu weiteren Bildungsprozessen ein weiter Bildungsbegriff zugrunde gelegt, der weit über den Erwerb rein schulfachlicher Kompetenzen hinausgeht. Ganz aktuell zwingt uns aber auch der jüngste Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Klärung der Frage, denn er zielt in die gleiche Richtung und bestätigt dezidiert den Gewährleistungsanspruch des Schulwesens zur Förderung einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung.

„Das Ziel der Sicherung von Mindeststandards ist darauf ausgerichtet, soziale Disparitäten zu reduzieren.“

Dr. Günter Klein

Die Diskussion um die Sicherung von Mindeststandards ist daher zweifellos immer auch eine Diskussion im Kontext der Fragen um Bildungsgerechtigkeit und Bildungsbenachteiligung. Es geht um den Anspruch, dass prinzipiell jeder die Chance haben sollte, an Bildungsprozessen teilzuhaben, unabhängig von seinem individuellen sozio-ökonomischen Hintergrund. Folgerichtig ist das Ziel der Sicherung von Mindeststandards darauf ausgerichtet, soziale Disparitäten zu reduzieren und herkunftsbedingt nachteilige Effekte zu kompensieren.

Was bedeutet das für gezielte Interventionen, sowie Unterrichts- und Schulentwicklung?

Für gezielte Interventionen sind förderdiagnostische Instrumente unverzichtbar, die idealerweise den Lernprozess konsequent begleiten und anregen. Diese Form der Diagnostik setzt am Individuum und dessen Ausgangslagen für Entwicklungsprozesse an. Daneben braucht es aber auch auf Systemebene Verfahren und Daten des Bildungsmonitorings, die Schwachstellen und Trends sichtbar machen und damit unverzichtbares Steuerungswissen zur Verfügung stellen.

Im Kern ist die Sicherung von Mindeststandards zunächst ein Thema der Unterrichtsentwicklung. Hierbei geht es darum, dem Anliegen eines adaptiven Unterrichts gerecht zu werden, in dem sich die Pädagogen über die stattfindenden Lehr- und Lernprozesse im Klaren sind (Stichwort Tiefenstrukturen). In diesem Unterricht kann ein lernförderliches formatives Feedback stattfinden und anknüpfend an die Diagnostik, die selbstregulativen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler gezielt gefördert werden.

Darüber hinaus bedeutet die Sicherung der Mindeststandards aber auch eine Herausforderung für die Schulentwicklung. Die Programmatik der Einzelschule und deren professionellen Prozesse müssen funktional (auch) auf das Ziel ausgerichtet werden: das, was als unverzichtbares Bildungsminimum definiert wurde, zu sichern. Unbestreitbar sind bei dem Thema vor allem die Schulen gefordert. 

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Warum ist auch die frühkindliche Bildung dabei so wichtig?

Der Blick muss zwingend auch auf den frühkindlichen Bereich gerichtet werden, weil frühzeitige Interventionen unbestreitbar von enormer Bedeutung sind. Zahlreiche Studien zeigen doch, dass Bildungsrückstände und die daraus resultierenden nachteiligen Effekte ihren Ursprung im frühkindlichen Bereich haben.

Deshalb muss bereits dort diagnostisch angesetzt und der Erwerb basaler Kompetenzen mit sinnvollen Konzepten gefördert werden. Dabei ist es wichtig, die Familien miteinzubeziehen. Deren Einfluss und Wirkmächtigkeit auf die kindliche Entwicklung legt es nahe, sie im doppelten Sinn des Wortes als ganz wesentliche Partner wahrzunehmen.

„Es braucht ein tiefes und in der pädagogischen Praxis operationalisierbares Verständnis dessen, was mit Mindeststandards gemeint ist.“

Dr. Günter Klein

Wie lautet das abschließende Fazit zur Veranstaltung?

Die in meinem Fazit zur Veranstaltung genannten Punkte werfen gewiss nur ein kursorisches Schlaglicht auf zahlreiche spannende Facetten der Frage nach dem Beitrag von Mindeststandards zu besserer Bildung für alle – dem Thema des Bildungspolitischen Forums 2022. Auf die „Gretchenfrage“, ob Mindeststandards per se zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen, liegt die Antwort auf der Hand. Natürlich nicht! Es braucht ein tiefes und in der pädagogischen Praxis operationalisierbares Verständnis dessen, was mit Mindeststandards gemeint ist, um überhaupt professionell an deren „Gewährleistung“ zu arbeiten. Und es braucht vor allem Konsequenz und Verbindlichkeit: ein konsequentes und auf allen Ebenen verbindliches Befassen mit relevanten diagnostischen Befunden und Daten des Bildungsmonitorings. Und es braucht dann ein konsequentes und verbindliches Handeln, immer dort, wo das Erreichen der Mindeststandards nicht gelingt oder gefährdet ist. Darin liegt im Kern die Verantwortung aller Akteure auf allen Ebenen, von der bildungspolitischen Ebene, über die Schulaufsicht, bis zu den Schulleitungen und den einzelnen Lehrkräften. Darin liegt der Anspruch und das Versprechen auf beste Bildung für alle.