Mit Daten zu besserem Unterricht

Erkenntnisse von der 30. EMSE-Tagung „Nutzung von Daten zur Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich“

Dr. Alexandra Dehmel vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) beleuchtet das Thema Datenerhebung und -nutzung im Bildungssystem.

Daten sind wichtige Informationsquellen, die dabei unterstützen können, Qualitätsentwicklung im schulischen Bildungsbereich voranzubringen. Sie dienen als Entscheidungshilfe. Der Nutzen von Daten gilt mittlerweile als unbestritten, doch trotz einer stetig wachsenden Zahl an Daten und Möglichkeiten der Datengewinnung und -nutzung zu Themen des Lernens und der Steuerung von Bildungsprozessen schlagen sich diese noch wenig in der Praxis nieder – aus verschiedensten Gründen.

Dazu gehören unter anderem mangelnde Relevanz, Aufbereitung und Anschlussfähigkeit von Daten, fehlende Datenkompetenz („data literacy“) und unzureichende systematische Einbettung von Strukturen und Prozessen datengestützter Qualitätsentwicklung ins Bildungssystem (vgl. Dehmel, 2019). Hierdurch geht wichtiges Potenzial verloren! 

Für wen sind Daten relevant?

Denn die Nutzung von Daten ist für viele Berufsgruppen relevant: Lehrkräfte und Schulleitungen aus der Schulpraxis ebenso wie Personen aus der Bildungsadministration, beispielsweise aus der Schulaufsicht, aus dem Kultusministerium oder aus der Lehrkräfteaus- und -fortbildung nutzen heute Daten aus unterschiedlichen Quellen: Zum einen Daten, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, etwa Daten aus Vergleichsarbeiten wie VERA 8 oder aus wissenschaftlichen Studien. Zum anderen Daten, die sie mit Hilfe von eigenentwickelten oder verfügbaren Instrumenten selbst generieren, etwa über Schüler- oder Unterrichtsfeedbackbögen.

Das Netzwerk EMSE

Das unabhängige Netzwerk zur „empiriegestützten Schulentwicklung" (EMSE) besteht seit 2004 und dient als Forum, um sich über aktuelle Ansätze und Verfahren empirisch orientierter Weiterentwicklung auszutauschen. Mitglieder sind vor allem Mitarbeitende in den Kultus- und Schulministerien der 16 Bundesländer, den Landesinstituten und Qualitätsagenturen, die mit empirischen Verfahren der System-, Schul- und Unterrichtsentwicklung befasst sind. Auch Personen aus wissenschaftlichen Einrichtungen und Institutionen – etwa das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen – sind vertreten. Institutionen aus Österreich und der Schweiz sind ebenfalls beteiligt. Um Austausch zu ermöglichen, richtet das Netzwerk EMSE halbjährlich zweitägige Fachtagungen aus, zu denen abwechselnd ein Institut einlädt. Bisher fanden 30 Tagungen statt. Die 30. Tagung zum Thema „Nutzung von Daten zur Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich“ wurde vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) ausgerichtet und war die erste Online-Tagung des Netzwerks. Sie stieß auf viel Resonanz.

Beide Datenquellen, ihre Zugänglichkeit und Aussagekraft sind wichtig für die schulische Qualitätsentwicklung und sollten genutzt werden. Denn datenbasierte Arbeit kann zur Qualitätsentwicklung auf allen Ebenen im schulischen Bildungsbereich beitragen, von der Ebene des individuellen Lernens bis hin zur Ebene der Systementwicklung. So können Lehrkräfte beispielsweise über den Einsatz individueller Lernverlaufsdiagnostik, die die individuelle Lernentwicklung eines Kindes über regelmäßige, kurze Testungen misst und dokumentiert, didaktische Entscheidungen für die weitere Förderung des Kindes treffen und es in seinem Lernprozess bestmöglich unterstützen.

Welche Daten? Für wen und welchen Zweck?

Um die Arbeit mit Daten zu fördern, müssen die konkreten Fragestellungen, die Perspektiven und der jeweilige Unterstützungsbedarf der verschiedenen Nutzenden in der Praxis stärker in den Blick genommen werden. Dabei sollten alle Ebenen, auf denen datengestützte Qualitätsentwicklung stattfindet, berücksichtigt werden. Relevante Fragestellungen sind etwa:

  • Ebene des individuellen Lernens: Welche Daten sind aussagekräftig für die Wahl passender Unterstützung in der individuellen Lernentwicklung? Was benötigen Lehrkräfte und Lernende, um solche Daten sinnvoll zu nutzen und / oder selbst zu generieren? 
  • Ebene der Unterrichtsentwicklung: Welche Daten können Lehrkräfte erheben und / oder nutzen, um ihren Unterricht weiterzuentwickeln? Und wie können sie dabei unterstützt werden? 
  • Ebene der Schulentwicklung: Welche Daten sind für Schulleitungen und Schulentwicklungsteams in der schulischen Qualitätsentwicklung relevant und welche Unterstützungsinstrumente gibt es? 
  • Ebene der Systementwicklung: Welche Daten sind auf der Systemebene steuerungsrelevant und wie können sie systematisch analysiert, adressatenorientiert aufbereitet und zielführend genutzt werden?
  • Innerhalb der einzelnen Ebenen und ebenenübergreifend: Wie können Maßnahmen, Instrumente, etc. aufeinander abgestimmt und in ein kohärentes System datengestützter Qualitätsentwicklung eingebettet werden?

Wie kann datengestützte Qualitätsentwicklung gefördert werden?

Als Ergebnis der Tagung kristallisieren sich einige zentrale Punkte heraus, die zu einer Weiterentwicklung und Förderung der datengestützten Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich beitragen können. Deutlich wurde beispielsweise:

  • Notwendig ist die (Weiter-)Entwicklung geeigneter Instrumente, auch solcher, die von den Beteiligten selbst genutzt werden können. Dabei gilt es insbesondere auch, die Möglichkeiten, die sich durch Digitalisierung bieten, aufzugreifen, beispielsweise im Bereich computerbasierte Lernverlaufsdiagnostik. Über entsprechende Online-Tools können regelmäßig Testaufgaben beim Lernen eingesetzt und automatisiert individuelle Auswertungen und Rückmeldungen gegeben werden. 
  • Die Nützlichkeit und Relevanz der Instrumente und der erhobenen Daten für die Praxis muss immer wieder kritisch überprüft werden.
  • Die Praxis sollte bei der Arbeit mit Daten unterstützt und professionalisiert werden; entsprechende Maßnahmen, etwa Fortbildungen oder Verfahren wie das ebenfalls auf der 30. EMSE Tagung vorgestellte Data-Team-Verfahren sollten systematisch genutzt werden. Bei diesem beschäftigen sich Teams aus Lehrkräften und Schulleitungen an Schulen mittels eines mehrstufigen, datengestützten Vorgehens mit selbst identifizierten, praxisbezogenen Herausforderungen und werden dabei auch von externen Datencoaches unterstützt (vgl. Schildkamp et al., 2016).
  • Es bedarf einer systematischen Beteiligung der Praxis bei der Entwicklung von Instrumenten, bei empirischen Vorhaben und bei der Vermittlung und Verbesserung der Daten-kompetenz beziehungsweise der Nutzung von Daten in der Praxis. Nur so kann vor allem an den Schulen mehr Akzeptanz für einen Umgang mit Daten erreicht werden, die dann für diagnostische Zwecke und für die Qualitätsentwicklung von Schule und Unterricht vor Ort fruchtbar werden können. 

Wie kann die Umsetzung nun konkret aussehen? Um dies zu verdeutlichen abschließend drei Beispiele datengestützter Qualitätsentwicklung aus Baden-Württemberg, die vom IBBW entwickelt wurden. Zu dessen zentralem Auftrag gehört der Aufbau eines strategischen Bildungsmonitorings für Baden-Württemberg, das eine datengestützte Qualitätsentwicklung auf allen Ebenen des Bildungssystems bis hin zu den Schulen unterstützen soll.
Dazu erfolgt eine systematische Gewinnung, Auswertung, Aufbereitung und adressatenbezogene Analyse von steuerungsrelevanten Daten, die zielgruppengerecht und mit Fokus auf eine hohe Nutzbarkeit bereitgestellt werden, und die Entwicklung entsprechender Instrumente, die auch von der Praxis selbst direkt genutzt werden können. Konzepte, Instrumente, Verfahren werden stets auf einer wissenschaftlichen Basis entwickelt. Zudem bezieht das IBBW die Praxisebene bereits in frühen Konzeptionsphasen, während der Projektentwicklung und bei der Umsetzung eng mit ein. Ziel ist es, die Fragen der Nützlichkeit und der Relevanz für die Praxis stets im Blick zu behalten (vgl. Dehmel et al., 2021). 

Beispiel 1: Ebene des individuellen Lernens – Computerbasiertes formatives Assessment in der Grundschule

Um Grundschullehrkräfte beim Einsatz von formativen Assessments in den Bereichen Deutsch und Mathematik im Unterricht zu unterstützten, wird am IBBW ein Online-Tool entwickelt, das eine unterrichtsbegleitende computerbasierte Diagnose und Dokumentation von Lernfortschritten ihrer Schülerinnen und Schüler basierend auf regelmäßig eingesetzten, kurzen Aufgaben ermöglicht. Die Lehrkraft und der oder die Lernende sowie die Eltern erhalten jeweils adressatengerecht aufbereitete Rückmeldungen zum aktuellen Lernstand. Der Einsatz des Online-Tools soll durch ein begleitendes Unterstützungssystem ergänzt werden. Dieses soll den beteiligten Personengruppen helfen die Rückmeldungen des Tools zu verstehen, einzuordnen und davon abgeleitet effektive Lern- und Unterstützungsangebote anzubieten.

Beispiel 2: Ebene der Unterrichtsentwicklung – Unterrichtsfeedbackbogen

Um die Grundlage für ein gemeinsames Verständnis für die zentralen Aspekte der Unterrichtsqualität (kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung und strukturierte Klassenführung) zu schaffen, wurde ein wissenschaftlich validierter Unterrichtsfeedbackbogen sowie begleitende Materialien entwickelt. Der Unterrichtsfeedbackbogen ist fächer- und schulartübergreifend einsetzbar. Er kann für das kollegiale Feedback, aber auch für die Beratung im Rahmen der Aus- und Fortbildung genutzt werden, ist aber kein Beurteilungs-instrument. Zudem werden in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung in Baden-Württemberg begleitende Qualifizierungsmaßnahmen entwickelt, durchgeführt und evaluiert.

Beispiel 3: Ebene der Schulentwicklung – Schulbezogenes Datenblatt

Im Rahmen des Aufbaus einer systematischen datengestützten Qualitätsentwicklung im baden-württembergischen Bildungssystem entwickelt das IBBW unter anderem ein schulbezogenes Datenblatt, das in komprimierter Form qualitätsrelevante Daten auf Einzelschulebene darstellt (1. Rahmendaten, etwa Informationen zur Zusammensetzung der Schülerschaft, 2. Daten zur Prozessqualität, etwa Daten aus Evaluationen, bspw. zur Unterrichtsqualität, und 3. schulische Ergebnisdaten, etwa aus zentralen Prüfungen und Lernstandserhebungen). Es wird den Schulen und den jeweils zuständigen Schulaufsichtsbehörden zur Verfügung stehen und dient als wesentliche valide Datenbasis für die künftigen regelmäßigen Statusgespräche zwischen Schulaufsicht und Schulen, die in Ziel- und Leistungsvereinbarungen münden sollen. Gleichzeitig bietet die Zusammenstellung zentraler schulischer Daten den Schulleitungen eine hilfreiche Orientierung für die Steuerung innerschulischer Qualitätsentwicklung. Um eine größtmögliche Nutzbarkeit des Formats sowie Passung zum künftigen Prozess der Statusgespräche zu erreichen, werden Beteiligte aus der Praxis bei der Entwicklung einbezogen.

30. EMSE-Tagung „Nutzung von Daten zur Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich“

Die mehr als 350 Teilnehmenden der ersten Online-EMSE-Tagung schalteten sich überwiegend aus Deutschland, aber auch aus Österreich, der Schweiz, Italien und den Niederlanden zu. Ihnen wurden knapp 30 Beiträgen geboten. Die Keynotes wurden von zwei international renommierten Experten gehalten: Prof. Dr. Timo Leuders (Pädagogische Hochschule Freiburg) referierte zum Thema „Lernstandsdiagnosen – Wann ist externe Diagnoseunterstützung nützlich?“. Prof.‘in Dr. Kim Schildkamp (Universiteit Twente) sprach in ihrem Vortrag „Data-informed decision making: from compliance to improvement“ über datengestützte Qualitätsentwicklung und stellte auch das von ihr entwickelte, preisgekrönte Data-Team-Verfahren vor, das an Schulen in verschiedenen Ländern, u.a. den Niederlanden, Schweden, Belgien und den USA bereits erfolgreich umgesetzt wird, und sich dadurch auszeichnet, dass Teams an Schulen praxisbezogene Herausforderungen mittels eines mehrstufigen, datengestützten Vorgehens angehen. In Vorträgen und Workshops präsentierten Landesinstitute und Qualitätsagenturen, Hochschulen, weitere wissenschaftliche Institutionen und Kommunen ihre Studien, Projekte und Instrumente und stellten diese zur Diskussion.