Mit den Fingern rechnen: Warum und wie lange es sinnvoll ist – und wann nicht mehr
Lange Zeit wurde das Rechnen mit Fingern unterschätzt – dabei kann es die mathematischen Fähigkeiten nachweislich verbessern.

Sollten Kinder lernen, mit den Fingern zu rechnen? Forschungsergebnisse zeigen, dass Kindergartenkinder, die ihre Finger beim Rechnen nutzen, über ein solideres Zahlenverständnis und über eine höhere logische Denkfähigkeit verfügen als Kinder, die das nicht tun. Dr. Stephanie Rösch von der Universität Tübingen erklärt, woher diese Vorteile kommen – und wie sie in Kita und Grundschule gezielt gefördert werden können.
Redaktion: Frau Dr. Rösch, Sie erforschen das sogenannte „Fingerrechnen“, das in der Wissenschaft als ein Beispiel für „Embodied Cognition“ bekannt ist. Welche Rolle spielen Zählgesten mit den Fingern in unserem Alltag?
Dr. Stephanie Rösch: Das Zählen und Rechnen mit den Fingern ist tief in unserem Alltag verwurzelt und hat dabei unterschiedliche Funktionen. Wenn wir Erwachsenen beispielsweise in einer lauten Bar drei Bier bestellen, dann greifen wir manchmal auf die Finger zurück, um mit Hilfe einer Fingergeste die bestellte Anzahl zu verdeutlichen. Wenn wir beim Einkaufen unsere Einkaufsliste in Gedanken durchgehen, um auf die eine der fünf Sachen zu kommen, die uns noch fehlt, dann nehmen wir häufig die Finger zum Abzählen zu Hilfe. Vielen Kindern ist dadurch bereits früh klar, dass sie ihre Finger zum Zählen, zum Zeigen von Anzahlen und zum Rechnen verwenden können.
Redaktion: Ihr Fachgebiet ist das Fingerrechnen im frühkindlichen Bereich. Welche Rolle spielt das Zählen mit Händen beim mathematischen Lernen in Kitas?
Rösch: Wenn in Kitas die Finger beim mathematischen Lernen als Veranschaulichung verwendet werden, knüpft das an bestehende Erfahrungen vieler Kinder an und ermöglicht es, darauf aufbauend mathematische Vorkenntnisse zu erweitern und Strategien auszubauen. Dabei bilden Wahrnehmung, Motorik und Denken eine Einheit. Gleichzeitig sind die Finger als Anschauungsmittel leicht zu handhaben, immer verfügbar und nicht zuletzt kostengünstig, da kein extra Material angeschafft werden muss. Es spricht also vieles dafür, die Finger beim mathematischen Lernen in Kitas gezielt einzusetzen.
Redaktion: Was weiß die Forschung über die Wirksamkeit des Fingerrechnens?
Rösch: Wir wissen mittlerweile, dass beispielsweise Dreijährige ein besseres Verständnis für Zahlen und deren mengenmäßige Bedeutung erwerben, wenn in der Förderung zusätzlich mit Fingergesten gearbeitet wird. Darüber hinaus sind Kindergartenkinder, die ihre Finger zum Lösen von Rechenaufgaben verwenden, durchwegs besser im Rechnen als Kinder, die das nicht tun. Gleichzeitig verfügen sie auch über ein besseres räumlich-visuelles Arbeitsgedächtnis, über höhere logische Denkfähigkeit und bessere Zählkompetenzen im Vergleich zu Nicht-Fingerrechnern. Die frühe Verwendung der Finger beim Rechnen geht also insgesamt eher mit guten Leistungen einher.
„Mit Fingern lässt sich nicht nur zählen, sondern es lassen sich auch mathematische Strukturen verdeutlichen.“
Dr. Stephanie Rösch
Redaktion: Zieht sich dieser Befund durch die gesamte Schullaufbahn?
Rösch: Nein, ab Mitte der zweiten Klasse kehrt sich dieses Befundmuster um. Je häufiger Kinder in diesem Alter die Finger zum Rechen verwenden, desto schlechter ist ihre Rechenleistung. Dies legt den Schluss nahe, dass frühes Fingerrechnen Vorteile mit sich bringt, während es später ein Zeichen für Rechenschwierigkeiten sein kein. Dabei spricht einiges dafür, dass die späten Fingerrechner nicht jene Kindergartenkinder sind, die bereits früh und erfolgreich mit den Fingern rechneten. Späte Fingerrechner scheinen eher Kinder zu sein, die in Ermangelung notwendiger mathematischer Grundlagen wie Anzahl- und Teil-Ganzes-Verständnis längerfristig auf ein zählendes Rechnen mit den Fingern zurückgreifen. Wie sich allerdings das Fingerrechnen vom Kindergartenalter bis zur zweiten Klasse im Detail zu einem abstrakten Rechnen im Kopf entwickelt und welche Faktoren dies negativ oder positiv beeinflussen, ist bislang noch kaum erforscht. Entscheidend ist sicherlich, welche Fähigkeiten und Strategien Kinder haben, um sich von den Fingern oder anderen Anschauungsmitteln erfolgreich zu lösen. Dazu zählen solide Zählkompetenzen im entsprechenden Zahlenraum, ein Verständnis für die mengenmäßige Bedeutung von Zahlen sowie für die Beziehungen zwischen Zahlen (Teil-Ganzes-Verständnis).
Redaktion: Wie beeinflusst das Rechnen mit den Fingern in der Kita diese Kompetenzen?
Rösch: Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass mit Hilfe fingerbasierter Strategien ein breites Spektrum an frühen mathematischen Fähigkeiten gefördert werden kann.
- Zählkompetenzen: Beim Zählen mit den Fingern wird jedem Finger in einer Eins-zu-Eins-Zuordnung immer genau ein Zahlwort zugeordnet, wobei die einzelnen Finger immer in derselben Reihenfolge ausgestreckt werden. Auf diese Weise werden beim Fingerzählen zwei wichtige Grundsätze für ein korrektes (Ab-)Zählen eingeübt, nämlich das Prinzip der Eins-zu-Eins-Zuordnung und das Prinzip der stabilen Ordnung. Am Ende eines Abzählprozesses steht das letztgenannte Zahlwort für die Anzahl (kardinales Zählprinzip) – beim Fingerzählen entspricht dies der Zahl der ausgestreckten Finger.
- Anzahlverständnis: Da Finger immer in derselben Reihenfolge ausgestreckt werden, repräsentiert jede Anzahl eine spezifische Fingerkombination. So stehen Daumen, Zeige- und Mittelfinger für die Zahl 3. Dadurch werden Anzahlen schneller erkannt und gebildet. Werden die Finger zusätzlich auf den Tisch gelegt und sprachlich begleitet („Drei sind es“), verstärken Wahrnehmung und Bewegung das Verständnis für Zahlen und Mengen.
- Verständnis für Zahlbeziehungen: Mit Fingern lässt sich nicht nur zählen, sondern es lassen sich auch mathematische Strukturen verdeutlichen. Durch die Aufteilung auf zwei Hände wird die Beziehung zu den Zahlen 5 und 10 sichtbar. Jede Fingermenge besteht aus einer spezifischen Kombination ausgestreckter und eingeklappter Finger, die genutzt werden kann, um Anzahlen zu kombinieren und erste Rechenaufgaben effizient zu lösen – ohne reines Zählen. Dieses Vorgehen nennt man strukturnutzendes Fingerrechnen.
Redaktion: Das Fingerrechnen wird oft positiv mit der Feinmotorik in Verbindung gebracht. Was sagt die Forschung dazu?
Rösch: Eine Vielzahl an Studien im Kindergarten als auch im Schulalter hat gezeigt, dass feinmotorische Fähigkeiten wie beispielsweise das Auffädeln von Perlen oder das Nachspuren von Linien mit schulischen Fähigkeiten zusammenhängen: Je feinmotorisch geschickter die Kinder waren, desto besser waren sie auch im Lesen, Schreiben und Rechnen. Dabei werden die Zusammenhänge zwischen Feinmotorik und mathematischen Fähigkeiten unter anderem damit erklärt, dass viele Kinder zumindest zeitweise auf das Fingerrechnen zurückgreifen und Feinmotorik dadurch mit mathematischen Fähigkeiten verknüpft ist. Ob gute feinmotorische Fähigkeiten dabei eher eine Voraussetzung oder vielmehr eine Folge des Fingerrechnens sind, ist noch unklar.
„Nur wenn ausgestreckte und eingeklappte Finger deutlich sichtbar und unterscheidbar sind, dann können Anzahlen und Zahlbeziehungen mithilfe der Finger eindeutig erkannt werden.“
Dr. Stephanie Rösch
Redaktion: Wie können Grundschulen die mathematischen Kompetenzen von Kindern nach der Kita optimal aufgreifen und schrittweise in abstrakte Rechenstrategien überführen?
Rösch: Der Weg vom anschaulichen zum abstrakten Rechnen folgt in der Mathematikdidaktik grundsätzlich dem sogenannten E-I-S Prinzip. Darunter versteht man ein Vorgehen, bei dem zu erlernende Konzepte zunächst enaktiv, das heißt handelnd, nachvollzogen werden, bevor sie mit ikonischen, also bildhaften Darstellungen veranschaulicht werden, um sie schlussendlich abstrakt-symbolisch nachzuvollziehen. Die Finger sind in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit, Rechenoperationen handelnd zu begreifen, genauso wie dies grundsätzlich mit einem Rechenrahmen oder einem Zehnerfeld möglich ist. Dabei ist eines klar: Zum abstrakten und nicht-zählenden Rechnen gelangt man, wenn man ein gefestigtes Anzahlverständnis hat sowie ein Verständnis für die Teil-Ganzes-Beziehungen der Zahlen, und wenn einem ausreichend lange Gelegenheit gegeben wurde, die zugrunde liegenden Konzepte im Handeln wirklich zu begreifen. So verzichten einige Kinder bereits nach kurzer Zeit darauf, mit den Fingern zu rechnen, oder greifen nur in seltenen Fällen zur Absicherung darauf zurück. Andere brauchen diese Veranschaulichungsmöglichkeit wiederum länger und müssen vielleicht auch gezielt dazu ermutigt werden, sich die Handlung an den Fingern mit geschlossenen Augen im Kopf vorzustellen.
Redaktion: Welche Empfehlungen würden Sie Lehrkräften und Erziehenden geben, um Fingerrechnen als Übergangsmethode zu nutzen?
Rösch: Im Großen und Ganzen halte ich drei Punkte für zentral.
- Finger auf den Tisch! Nur wenn ausgestreckte und eingeklappte Finger deutlich sichtbar und unterscheidbar sind, dann können Anzahlen und Zahlbeziehungen mithilfe der Finger eindeutig erkannt werden. Dabei hat es sich am praktikabelsten erwiesen, mit dem Handrücken nach oben gerichtet auf dem Tisch zu arbeiten.
- Strukturen nutzen! Um die Struktur der Fingermengenbilder vollständig zu nutzen, empfehle ich grundsätzlich, immer beide Hände zu verwenden, auch wenn man zur Anzahldarstellung nur eine Hand bräuchte. So können Kinder begreifen, dass beispielsweise die Zahl 3 mit einem spezifischen Fingermengenbild verknüpft ist, welches strukturiert ist in drei ausgestreckte und zwei eingeklappte Finger an einer Hand sowie fünf eingeklappte Finger an der anderen Hand. Anhand eines Fingermengenbildes lässt sich so nicht nur die mengenmäßige Bedeutung der Zahl veranschaulichen, sondern auch deren Beziehung zur Zahl 5 und zur Zahl 10.
- Schritt für Schritt! Zu guter Letzt sollte man immer bedenken, dass Fähigkeiten aufeinander aufbauen. Genauso wie man Anzahlverständnis und Teil-Ganzes-Verständnis am Zehnerfeld Schritt für Schritt aufbaut, sollte man dies auch mit den Fingern als Anschauungsmittel tun: vom Zählen mit den Fingern zum strukturierten Fingermengenbild, das auf einen Sitz gebildet werden kann, hin zu Zahlbeziehungen und schließlich zu einem strukturnutzenden Fingerrechnen, auf das man bei Bedarf immer zurückgreifen kann.
Redaktion: Frau Dr. Rösch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Stephanie Rösch ist Postdoctoral Researcher am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Entwicklung und Förderung mathematischer Fähigkeiten. Insbesondere ist sie daran interessiert, wie sich numerische, arithmetische und geometrische Fähigkeiten entwickeln und welche Bedingungen zu einer erfolgreichen Entwicklung bzw. zu späteren Rechenschwierigkeiten führen.