Mit Empathie gegen Antisemitismus
Das Projekt Empathia3 untersucht, wie Lehrkräfte antisemitische Äußerungen erkennen, richtig einordnen und souverän intervenieren können – und dabei Sicherheit im pädagogischen Alltag gewinnen

Umfragen zeigen, dass Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet ist. Wie können Lehrkräfte antisemitische Denkmuster bei Schüler:innen erkennen und im Unterricht effektiv darauf reagieren? Und warum ist professionelle Empathie der Schlüssel, um diese Themen sensibel und nachhaltig anzusprechen? Prof. Nicola Brauch und Dr. Marc Grimm geben Antworten.
Redaktion: Umfragen belegen, dass Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet ist. Wie hoch ist der Anteil antisemitischer Einstellungen bei Kindern und Jugendlichen?
Prof. Dr. Nicola Brauch und Dr. Marc Grimm: Die genauen Zahlen lassen sich nicht seriös bestimmen. Die letzte große qualitative Studie zu deutschen Schulen zeigt klar: Das Schimpfwort „Du Jude“ ist weit verbreitet und wird oft – auch von Lehrkräften – nicht als antisemitisch erkannt.
Der hohe Unterstützungsbedarf für Lehrkräfte zeigt sich auch in der Vielzahl an Handreichungen und Fortbildungen – und das nicht erst seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Zwar lässt sich der Anteil nicht beziffern, doch die zunehmende Normalisierung ist unübersehbar – Schulen sind immer auch ein Spiegel der Gesellschaft.
Redaktion: Das Projekt Empathia3 zielt darauf ab, angehende Polizist:innen und Lehrkräfte im Umgang mit Antisemitismus zu schulen. Welche besonderen Verpflichtungen haben diese Berufsgruppen, wenn es darum geht, antisemitischen Vorurteilen entgegenzutreten?
Brauch und Grimm: Künftige Staatsbedienstete sind per Eid auf die Verfassung verpflichtet, demokratische Werte aktiv zu vertreten – Neutralität gibt es hier nicht. Antisemitismus bricht mit diesen Werten und muss erkannt, benannt und professionell bearbeitet werden. Im schulischen Kontext bedeutet das, Taten und Äußerungen klar als antisemitisch zu benennen, ohne das Kind selbst zu stigmatisieren, sondern gemeinsam zu reflektieren, warum sie antisemitisch sind.
Besonders wichtig ist professionelle Empathie, die die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt – ein Aspekt, der Lehrkräften oft nicht bewusst ist. Viele Betroffene berichten von Empathielosigkeit seitens der Beamtinnen und Beamten. Lehrkräfte sollten daher klar Solidarität zeigen und Sicherheit vermitteln.
Redaktion: Können Sie genauer beschreiben, welche Rolle Empathie für den Umgang mit Antisemitismus spielt?
Brauch und Grimm: Alltagsnah wird „Empathie“ oft mit „Nächstenliebe“ oder „Mitleid“ gleichgesetzt. Das von der Sozialpsychologin Jana-Andrea Frommer entwickelte Modell professioneller Empathie hingegen betont gezielten Perspektivwechsel und kontinuierliche Selbstreflexion in professionellen Kontexten. Es geht nicht um Mitleid, sondern um bewusstes, professionelles Handeln. Gerade in der Lehrkräfteausbildung gibt es hier Lernpotenzial aus der Sozialpsychologie. Marc Grimm und Florian Beer haben dies in ihrer Handreichung in konkrete Handlungsempfehlungen für Lehrkräfte übersetzt.“ in konkrete Handlungsempfehlungen für Lehrkräfte übersetzt.
„Geschichtslehrkräfte meiden oft "hot historical issues" aus Angst vor Konflikten.“
Prof. Nicola Brauch & Dr. Marc Grimm
Redaktion: Wie erkennen Lehrkräfte antisemitische Denkweisen ihrer Schüler:innen?
Brauch und Grimm: Zunächst durch Wissen über Erscheinungsformen, historische Hintergründe und antisemitische Codes – zum Beispiel wird anstatt von den geldgierigen Juden" etwa vom „Ostküstenkapital“ gesprochen. Darüber hinaus sind rechtliche und pädagogische Grundlagen essenziell. Heranwachsende lassen sich durch sachliche Einordnung verunsichern und können angeleitet ihre Denkmuster hinterfragen und korrigieren. Pädagogisch bleibt der Fokus auf der Aussage oder Tat – nicht auf der Person –, da Lehrkräfte Verantwortung für ihre (Demokratie-)Bildung tragen.
Das notwendige Wissen zu Antisemitismus ist komplex und gehört zur Demokratiebildung, doch Lehrkräfte werden derzeit nicht systematisch darauf vorbereitet. Die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) zur „Demokratiebildung als Auftrag der Schule“ berücksichtigen dies.
Redaktion: Welche Präventionsmaßnahmen halten Sie im Schulkontext für besonders wirksam, um Antisemitismus zu verhindern?
Brauch und Grimm: Für Deutschland fehlen belastbare empirische Daten. Doch wir wissen, dass das Vermeiden gesellschaftlich brisanter Themen in Schulen eher zu ihrer Verstärkung führt. Geschichtslehrkräfte meiden oft „hot historical issues“ aus Angst vor Konflikten. Auch angehende Lehrkräfte empfinden es als „mutig“, Antisemitismus als Lerngegenstand in der Hochschule zu behandeln, wie erste Rückmeldungen aus unserem EMPATHIA-Kursprogramm zeigen. Eine zentrale Präventionsmaßnahme wäre die systematische Verankerung des Themas in der Lehrkräfteausbildung, begleitet von Studien zur Wirksamkeit der Maßnahmen. Neben Fachwissen müsste auch die Demokratiebildung stärker integriert werden. Die Methode der Classroom Discussion – also Klassendiskussionen über kontroverse Themen, die von der Lehrperson moderiert werden – zeigt nachweislich positive Effekte, wird aber kaum genutzt, da Lehrkräfte nicht entsprechend geschult werden.
Ein weiterer wichtiger Schritt wäre eine Reform der Curricula in Geschichte und Politik: Der Nationalsozialismus sollte nicht erst in den Klassen 8 bis 10 behandelt werden, wenn Stereotype bereits gefestigt sind. Schon Grundschulkinder kennen Adolf Hitler, nutzen „Du Jude“ als Schimpfwort und zeigen den Hitlergruß. Geschichtsunterricht darf sich daher nicht auf chronologische Abläufe beschränken, sondern muss früh problematische Narrative aufgreifen. Auch eine konsequente Überarbeitung der Schulbücher wäre essenziell.
Redaktion: Wie können Lehrkräfte konkret reagieren, wenn Schüler:innen sich diskriminierend äußern?
Brauch und Grimm: Die Lehrkraft sollte eine antisemitische Situation sofort als problematisch und verletzend benennen. Dabei gilt: ansprechen, begründen, die Schwere verdeutlichen und – wenn möglich – fachlich einordnen. Fehlt das Wissen, sollte dies offen kommuniziert und auf die Notwendigkeit einer fundierten Einordnung hingewiesen werden. Wird die Situation nicht klar benannt, bleibt sie unwidersprochen, und die Lehrkraft verpasst die Chance, für den demokratischen Wert der Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot einzustehen.
Zum Thema: Was tun bei Antisemitismus im Klassenzimmer?
Redaktion: Es wird häufig betont, dass Lehrkräfte diskriminierende Schüler:innen nicht direkt zurechtweisen, sondern vielmehr Gesprächsanlässe bieten sollten, um zum Nachdenken anzuregen. Wie könnte ein solcher Ansatz in der Praxis aussehen?
Brauch und Grimm: Unterricht soll Bildungserfahrungen ermöglichen – auch im Umgang mit problematischen Äußerungen. Lehrkräfte können verschiedene Strategien nutzen, um Betroffene zu schützen, menschenfeindliche Positionen zu ächten und einzudämmen. Gleichzeitig darf dies nicht nur zu einer rein sprachlichen Anpassung führen. Die Grenzziehung selbst muss legitimiert werden und es müssen Möglichkeiten geboten werden, eine Haltung zu solchen Positionen entwickeln zu können.
Redaktion: Antisemitische Äußerungen kommen in der Regel unvorhergesehen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Lehrkräfte schnell handeln und intervenieren. Welche spezifischen Handlungskompetenzen helfen Lehrkräften, um in stressigen oder konfliktreichen Momenten lösungsorientiert zu reagieren?
Brauch und Grimm: Professionelle Empathie, Selbstreflexion und klare Solidarität mit Betroffenen sind essenziell – also: benennen, abkühlen, fachlich einordnen. Lehrkräfte kennen ihre Schülerinnen und Schüler meist gut, doch nach dem 7. Oktober 2023 berichteten viele von Überraschung und Schock über Äußerungen, die das Hamas-Massaker legitimierten oder feierten. Sie erkannten, dass sich hier ein über soziale Medien und Musik vermitteltes, scheinbar machtkritisches Weltbild Bahn bricht.
Die Thematisierung dieser Problematik erfordert Zeit, aber keine speziellen Kompetenzen – es gehört zur Lehrkräfteprofession, sich neue, politisch aufgeladene Themen anzueignen. Antisemitismus ist einerseits ein Unterrichtsthema wie jedes andere. Nach dem 7. Oktober 2023 wurde Lehrkräften teils unterstellt, sie würden nur die Position der Bundesregierung vertreten. Mit solidem Basiswissen über Antisemitismus können Lehrkräfte solche Anwürfe besser einordnen und souverän darauf reagieren – sei es durch klare Grenzziehung oder diskursiv.
„Ein erster Schritt ist die Ehrlichkeit der Schulgemeinschaft: „Schule ohne Rassismus“ gibt es nicht, denn Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft.“
Prof. Nicola Brauch & Dr. Marc Grimm
Redaktion: Über soziale Medien kommen Kinder und Jugendliche früh mit ungefilterten diskriminierenden Äußerungen in Kontakt. Wie können Schulen mit medienpädagogischen Maßnahmen auf diese Entwicklung reagieren?
Brauch und Grimm: Der Medienkompetenzrahmen NRW bietet einen guten Überblick über die nötigen Kompetenzen, um als mündige Bürgerin und mündiger Bürger in einer Welt zu agieren, in der soziale Medien allgegenwärtig sind. Besonders wichtig ist es, Schülerinnen und Schülern grundlegendes Wissen über die Funktionsweise sozialer Medien zu vermitteln, insbesondere über das Geschäftsmodell der Plattformen, die Inhalte so kuratieren, dass Nutzungszeit und Interaktionen maximiert werden – zum Beispiel durch Likes und Shares. Dieses Basiswissen ermöglicht es Schülerinnen und Schüler, reflektiert mit den Inhalten umzugehen, denen sie oft unbeabsichtigt begegnen: Warum sehe ich dieses Video? Löst es eine Emotion in mir aus und wurde dies von den Produzenten des Videos beabsichtigt?
Redaktion: Wie können Lehrkräfte und Schulleitungen aktiv dazu beitragen, dass Schulen zu Orten der Sicherheit und Wertschätzung werden?
Brauch und Grimm: Ein erster Schritt ist die Ehrlichkeit der Schulgemeinschaft: „Schule ohne Rassismus“ gibt es nicht, denn Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft. Ein sicherer Ort entsteht erst, wenn Lehrkräfte und Schulleitung klare Haltungen einnehmen und eine demokratische Schulkultur praktizieren – ohne Augenwischerei. Statt von „Schule ohne Diskriminierung“ zu sprechen, sollte es besser heißen: „Schule kümmert sich um Diskriminierung“.
In den schulischen Konzepten muss klar zwischen Antisemitismus, Rassismus und anderen Diskriminierungsformen unterschieden werden, da sich ihre Kontexte und historischen Hintergründe unterscheiden und daher auch spezifische Maßnahmen erfordern. Wir verweisen hier auf die Empfehlungen der SWK zur „Demokratiebildung als Aufgabe für die Schule“, die eine konsequente Umsetzung in den schulischen Strukturen fordert. Im Leitfaden „Eine sichere Schule für Jüdinnen und Juden“ werden zudem verschiedene Aspekte der Schulentwicklung, Unterrichtsarbeit und Elternbildung behandelt. Der Grundsatz bleibt: Es muss einen verbindlichen Umgang mit Antisemitismus geben, der transparent kommuniziert wird und den Lehrkräften Handlungssicherheit bietet.
Redaktion: Frau Professorin Brauch, Herr Doktor Grimm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Nicola Brauch ist Professorin für Geschichtsdidaktik an der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. Sie leitet das Projekt „Empowering Police Officers and Teachers in Arguing Against Antisemitism“ (EMPATHIA³).

Zur Person
Marc Grimm vertritt die Professur für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Er ist Mitherausgeber der Reihe „Antisemitismus und Bildung“ im Wochenschau Verlag und leitet das Teilprojekt „Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung zu aktuellem Antisemitismus in jugendlichen Milieus und zu Einstellungen bei Polizist*innen“ des BMBF-Verbundforschungsprojekts EMPATHIA³.