Mit scheinbar banalen Fragen „zum Herzstück von pädagogischen Prozessen“
Dr. Günter Klein und Prof. Dr. Benjamin Fauth erläutern im Interview das Projekt Unterrichtsfeedbackfragebogen Tiefenstrukturen.
Ein neues Analysetool, um über den eigenen Unterricht effektiv zu reflektieren: Im Gespräch mit dem Online-Magazin schulmanagement informieren Dr. Günter Klein und Prof. Benjamin Fauth vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Würrtemberg (IBBW) über den Unterrichtsfeedbackbogen Tiefenstrukturen.
Redaktion: Herr Dr. Klein, das Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) und das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) haben gemeinsam das Projekt „Qualitätsentwicklung durch Unterrichtsbeobachtung und Feedback“ initiiert, in dessen Rahmen am IBBW der „Unterrichtsfeedbackbogen Tiefenstrukturen“ entwickelt wurde. Was ist die grundlegende Idee hinter diesem Tool?
Dr. Günter Klein: Ausgangspunkt des Unterrichtsfeedbackbogens Tiefenstrukturen war die Überlegung, dass es Aspekte gibt, die besonders relevant sind, wenn es darum geht, die fachliche Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern gut voranzubringen. Wir schauen dabei auf die sogenannten Basisdimensionen – kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung, strukturierte Klassenführung –, weil sich herausgestellt hat und empirisch gut belegt ist, dass vor allem diese einen maßgeblichen Einfluss auf den fachlichen Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern haben. Wir wollen mit diesem Feedbackbogen und dem zugehörigen Manual einen Impuls geben, diese drei hochgradig relevanten Basisdimensionen in der Unterrichtspraxis noch stärker in den Blick zu nehmen, zu verstehen, was dahinter konkret steckt. Und wir wollen dazu anregen, dass sich Lehrkräfte sowohl in der Unterrichtsvorbereitung, in der Reflexion ihres gehaltenen Unterrichts wie auch in kollegialen Gesprächen bewusster werden, inwieweit diese Basisdimensionen in ihrem Unterricht tatsächlich Berücksichtigung finden und zum Tragen kommen.
Redaktion: Der Unterrichtsfeedbackbogen und das Manual sind also in erster Linie kein Bewertungsinstrument?
Klein: Richtig. Wir behaupten nicht, dass dieser Feedbackbogen Unterricht in seiner gesamten Breite ausreichend beschreiben kann. Es gibt auch andere Bereiche, die wir hier nicht in den Blick nehmen. Ich möchte daher nochmals betonen: Dieser Bogen ist nicht dafür geeignet, Unterricht zu bewerten im Sinne von dienstlicher Beurteilung. Es ist kein Bewertungsinstrument, sondern ein freiwilliges, fokussiertes Reflexions- und Feedbackinstrument – ein wissenschaftlich hervorragend fundiertes Angebot, das sehr hilfreich sein kann in diesen fokussierten Zieldimensionen.
„Es gibt eine Reihe von Aspekten des Unterrichts, die einem weniger schnell zugänglich sind. Für die braucht es besondere Instrumente, um sie fassbar zu machen.“
Prof. Dr. Benjamin Fauth
Redaktion: Herr Prof. Fauth, warum die Konzentration auf diese drei Basisdimensionen?
Prof. Dr. Benjamin Fauth: Es gibt ja eine Reihe von Dingen, die einem sofort ins Auge springen, wenn man Unterricht näher in den Blick nimmt. Wenn Sie sich vorstellen, sie schauen durch ein Fenster in einen Klassenraum, dann sehen Sie sofort, wie die Schüler sitzen, ob es Frontalunterricht gibt, ob sie gerade Gruppen- oder Partnerarbeit machen, ob sie neue Medien nutzen. Und dann gibt es eine Reihe von Aspekten des Unterrichts, die einem weniger schnell zugänglich sind. Die aber, wie Herr Klein richtig gesagt hat, ganz wichtig sind für die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern. Wie ist die Qualität der Aufgaben, die eingesetzt werden? Stimmt die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern? Wie ist das Feedback gestaltet? Wird die Zeit, die fürs Lernen zur Verfügung steht, für die eigentliche Beschäftigung mit dem Unterrichtsstoff genutzt? Oder wird sie eher für organisatorische Aspekte aufgebraucht? Das sind Sachen, die springen einem nicht unmittelbar ins Auge, für die braucht es besondere Instrumente, um sie fassbar zu machen. Und ein Stück weit ist der Unterrichtsfeedbackbogen der Versuch, diese sogenannten Tiefenstrukturen tatsächlich der Erfahrung zugänglich und damit auch kommunikativ nutzbar zu machen.
Unterrichtsfeedbackbogen Tiefenstrukturen
Der Unterrichtsfeedbackbogen Tiefenstrukturen ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) und dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg (ZSL). Das fächerübergreifende Instrument macht durch die Abfrage von elf Items die Tiefenstrukturen von Unterricht – kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung, strukturierte Klassenführung – greifbar, messbar und beschreibbar. Er wurde entworfen, um eine Grundlage für das Verständnis von zentralen Aspekten der Unterrichtsqualität zu schaffen und eignet sich daher unter anderem für die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften sowie das kollegiale Feedback in der Unterrichtsentwicklung.
Redaktion: Der Fragebogen wirkt auch den ersten Blick verglichen mit ähnlichen Analyse-Tools sehr kompakt, es werden “nur” elf Fragen beziehungsweise Items abgefragt. Reicht das denn aus? Warum haben Sie sich beim Entwurf des Fragebogens auf diese Aspekte fokussiert?
Klein: Wir müssen uns dazu die Frage stellen: Wie hoch darf die Anzahl der Items in einem solchen Fragebogen überhaupt sein, damit sie noch bewältigbar ist? Und ich glaube, schon diese elf Items führen dazu, dass man sich in einer konkreten Beobachter-Situation sehr konzentrieren muss. Natürlich sind 11 Items leichter in den Blick zu nehmen als 25, aber wir wissen alle, dass viele Unterrichtsbeobachtungsbögen daran kranken, dass sie eine Vielzahl von Aspekten in einer Detailtiefe abfragen, die jeden Beobachter überfordern. Und deswegen liegt in der Fokussierung auch der große Charme dieses Bogens, er bringt in seiner Klarheit auch eine orientierende Sicherheit. Denn sie lenken den Blick auf wirklich zentrale Fragestellungen. Wenn Sie sich als Lehrkraft fragen: Habe ich in meinem heutigen Unterricht das Thema “kognitive Aktivierung” beachtet? Wie anregend sind beziehungsweise waren heute meine Aufgabenstellungen? Inwieweit habe ich die Unterstützung einzelner Schülerinnen und Schüler im Blick gehabt? Allein mit diesen scheinbar banalen Fragen kommen Sie an das Herzstück von pädagogischen Prozessen.
Fauth: Als Wissenschaftler steht man ja immer auf den Schultern von Riesen: Eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten zu den Basisdimensionen zeigen relativ deutlich deren Kernmerkmale auf. Und genau die haben wir im Fragebogen berücksichtigt. Natürlich wollten wir dabei auch ein handhabbares Instrument schaffen. Wobei man auch sagen muss, dass der Bogen nicht so kurz ist, wie er vielleicht auf den ersten Blick wirkt. Zu ihm gehört ein Manual, in dem werden für jedes Item nochmals auf einer Seite die theoretischen Hintergründe sowie mehrere konkrete Indikatoren vorgestellt. Sie beantworten die entscheidende Frage: Woran macht sich dieser Punkt konkret fest im Unterrichtsgeschehen? So wird es auch bei “nur” elf Items dann schnell ausführlicher. Unser Leitgedanke war hier: Weniger Items, aber diese besonders gut für Anwenderin und Anwender beschreiben und damit für die Unterrichtspraxis nutzbar machen.
„Unser Ziel ist es nicht 100 Prozent der Lehrkräfte zu erreichen, sondern ein sinnvolles, gutes Instrument anzubieten.“
Dr. Günter Klein
Redaktion: Welche Reaktionen haben sie bisher auf den Unterrichts-Feedbackbogen bekommen?
Klein: Ich höre immer wieder von Personen aus der Schulaufsicht und Schulen: Gerade die angesprochene Überschaubarkeit und Handhabbarkeit macht den Bogen sehr attraktiv und wertvoll als begleitendes Instrument für die eigene Professionalisierung. Es wird sicher Personen geben, die mit ihm wenig anfangen können, das ist auch nicht dramatisch. Unser Ziel ist es nicht 100 Prozent der Lehrkräfte zu erreichen, sondern ein sinnvolles, gutes Instrument anzubieten. Und wir sind uns sicher, dass sich dieses Instrument im Laufe der Zeit immer weiter verbreiten wird.
Fauth: Das Feedback, was wir bekommen, ist ganz überwiegend sehr positiv. Wir haben auch Pilotierungsstudien gemacht, bei denen die Nutzerinnen und Nutzer des Bogens erst einmal Unterrichtsvideos einschätzen ließen, auch weil es aufgrund von Corona nicht möglich war, direkt in die Schulen zu gehen. Dann haben wir systematisch gefragt: Wie hat der Bogen in der Praxis funktioniert? War der Einsatz gewinnbringend? Die Rückmeldungen haben ergeben, dass der Bogen den Lehrkräften wirklich dabei hilft, systematisch und anders als man das mit Alltagsbeobachtungen machen könnte, den Unterricht zu analysieren.
Redaktion: Es gibt ja auch Schulungen zur Benutzung des Bogens. Was bringen die den Lehrkräften?
Fauth: Bei den Schulungen haben wir sehr vielversprechende Ergebnisse gesehen, wenn es um die konsistente Anwendung des Instruments geht. Wir haben untersucht: Wie ist das, wenn wir die Leute trainiert haben in der Benutzung des Bogens? Passiert es dann auch, dass drei Leute auf denselben Unterricht gucken und zu drei ganz unterschiedlichen Meinungen kommen? Das war tatsächlich nicht der Fall. Natürlich gibt es immer Abweichungen, weil Unterricht ein komplexes Geschehen ist und die Beobachtung von der subjektiven Wahrnehmung geprägt ist. Aber die Leute, die in der Benutzung des Bogens fortgebildet worden sind, kommen, wenn sie denselben Unterricht sehen, zu sehr ähnlichen Einschätzungen. Und das ist schon mal ein großer Erfolg.
Redaktion: Wie sehen Sie die künftige Entwicklung und das Potential des Unterrichtsfeedbackbogens?
Klein: Wir arbeiten eng mit dem ZSL zusammen, das für diejenigen, die gern qualifiziert mit dem Bogen arbeiten wollen, sowohl Material wie auch Qualifizierungsangebote zur Verfügung stellt. Wir wollen weiterhin Schulleitungen und Schulaufsicht gut informieren über den Bogen, so dass er sich unter Kollegen herumspricht. Wir nehmen jetzt bereits positive Rückmeldungen auf breiter Front wahr, ich glaube aber auch, dass wir keine überzogenen Erwartungen haben sollten. Das Projekt hat eine Zeitdimension, die weit über zwei, drei Jahre hinausgeht. Wir brauchen einen langen Atem, um mit der Zeit das Bewusstsein zu stärken, dass diese Basisdimensionen bedeutsam sind. Und um die begleitenden Maßnahmen – die Qualifizierung, Kommunikation, aber auch Reflexion und Weiterentwicklung, etwa auf fachspezifischer Ebene – zu gewährleisten.
„Für die langfristige Bewährung des Projekts in der Praxis wird glaube ich entscheidend sein, dass wir ein Potential wecken können, was wir in Deutschland noch nicht ausreichend aktiviert haben: die verstärkte Kooperation zwischen Lehrkräften.“
Prof. Dr. Benjamin Fauth
Fauth: Wir erstellen derzeit Videos, die bestimmte Aspekte aus dem Unterrichts-Feedbackbogen nochmal didaktisch aufbereitet zeigen. Wir arbeiten da mit dem Medienkompetenzzentrum der Universität Tübingen zusammen, die beeindruckende Technologie einsetzen, um 360-Grad-Videos zu erstellen: Sie können sich am Ende eine Virtual-Reality-Brille aufsetzen und sich dann im Klassenraum während des aufgenommenen Unterrichts umschauen. Diese Einblicke wird man gut für die Schulungen aber auch die konkrete Unterrichtsentwicklung auswerten und nutzen können. Für die langfristige Bewährung des Projekts in der Praxis wird glaube ich entscheidend sein, dass wir ein Potential wecken können, was wir in Deutschland noch nicht ausreichend aktiviert haben: die verstärkte Kooperation zwischen Lehrkräften. Ich habe den Eindruck, in Deutschland gibt es nach dem Referendariat oftmals diese Einstellung: Hier ist die Klassenzimmertür und das ist die Grenze meines Reichs. Wenn man diese Haltung etwas aufweichen könnte, dann wäre einiges gewonnen. International zeigt sich etwa im Modell der japanischen Lesson Study (Link zum Thema unter diesem Artikel, Anm. d. Red.), dass es ganz selbstverständlich sein kann, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Unterricht vorzubereiten, zu halten, zu beobachten und weiterzuentwickeln. Natürlich ist es unangenehm, sich selbst beim Unterrichten zuschauen zu lassen – das ist eine Erfahrung, die jede Lehrkraft kennt. Aber wir wissen eben auch aus empirischen Studien, wenn man Lehrkräfte zu ihrem eigenen Unterricht befragt, dann hat das, was sie über ihre eigenen Stunden berichten, oft sehr wenig damit zu tun, was die Schülerinnen und Schüler oder neutrale Beobachter über den Unterricht sagen. Das ist kein lehrkräftespezifisches Problem, es ist natürlich, dass wir uns in Situationen, in denen wir selbst handeln, schwer selbst gleichzeitig beobachten können. Genau deshalb glaube ich, dass der Blick von außen, dass Feedback, wie wir es mit diesem Bogen fördern, so unheimlich wertvoll sein kann für die Entwicklung des Unterrichts.
Redaktion: Herr Dr. Klein, Herr Professor Fauth, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Dr. Günter Klein ist Direktor des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW). Zuvor war er Lehrer, stelllvertretender Schulleiter, Referent am Kultusministerium, Schulamtsleiter in Nürtingen und Direktor des ehemaligen Landesinstituts für Schulentwicklung.
Zur Person
Prof. Dr. Benjamin Fauth ist Leiter der Empirischen Bildungsforschung am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) und außerplanmäßiger Professor am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Unterrichtsqualitätsforschung, insbesondere Fragen der theoretischen Konzeptualisierung, der empirischen Erfassung und der Wirkung unterrichtlicher Prozesse. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die professionelle Kompetenz von Lehrpersonen und Fragen der angewandten Evaluationsforschung.