Modellprojekt Klassenassistenz: Auf dem Weg zu einer inklusiveren Schule?
Die Autorinnen und Autoren der Studie „Modellprojekt Klassenassistenz“ erklären im Interview, welchen Beitrag das Modell der Klassenassistenz zu einer gelingenden Inklusion an den Schulen in Deutschland leisten kann.

Bei der Umsetzung von Inklusion bauen die meisten Schulen auf den Einsatz von Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern. Ohne sie wäre derzeit für viele Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Schulbesuch nicht möglich. Aus Sicht von Prof. Barbara Jürgens, Prof. Dietlinde Vanier und Wilfried W. Steinert gibt es jedoch eine besser Alternative: die sogenannte Klassenassistenz. Sie haben das Modell erprobt und erforscht und erläutern im Interview die Vorteile.
Redaktion: Worum ging es in Ihrem Modellprojekt, was ist das entscheidende Anliegen?
Prof. Dr. Dietlinde Vanier: Wir haben uns in unserem Begleitforschungsprojekt die Frage gestellt, wie Brennpunktschulen trotz unzureichender finanzieller und personeller Rahmenbedingungen allen Kindern Lernfreude und Lernerfolge ermöglichen und ihre Chancen im weiteren Bildungs- und Berufsweg erhöhen können. Auf diese Weise möchten wir verschiedenen Problemen an den Schulen entgegenwirken.
Redaktion: Welchen Problemen?
Vanier: Egal ob Sie den IQB-Bildungstrend 2023 oder die aktuelle PISA-Studie, die Studie „Bildung in Deutschland 2024“ des BMWF oder das „MINT Nachwuchsbarometer 2024“ heranziehen: Mangelnde Chancengerechtigkeit und tendenziell nachlassende Leistungen der Schülerinnen und Schüler werden da durchgängig thematisiert. Und bei aller Unterschiedlichkeit finden sich in fast allen aktuellen Leistungsvergleichsstudien Hinweise darauf, dass „Bildungsbeteiligung und -erfolg im Schulalter beständig von sozialen Ungleichheiten geprägt“ und vom sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses abhängig sind (vgl. Bildungsbericht 2024).
Redaktion: Betrifft das auch die Grundschule, auf die Sie sich in Ihrem Projekt ja beziehen?
Vanier: Ja! In dem erwähnten Bildungsbericht 2024 wird ja auch explizit auf „[w]achsende Probleme am unteren Ende des schulischen Qualifikationsspektrums“ hingewiesen. Und an deren Lösungen wollten wir als Forschungsteam gemeinsam mit der Grundschule Wesendorf arbeiten: Die Schule hatte schon viel Entwicklungsarbeit geleistet und arbeitete inklusiv. Das Unterstützungskonzept fußte jedoch auf individuellen Schulbegleitungen, was aus unserer Sicht nicht erfolgsversprechend ist (Jürgens et. al. 2024).
Redaktion: Sowohl die Lehrkräfte als auch die Schulbegleitungen berichteten in diesem Zusammenhang von hohen beruflichen Belastungen, sehe ich das richtig?
Vanier: Genau! Das Einbeziehen, die Selbstregulation und der Lernfortschritt von Kindern, die mit „ihren“ Schulbegleitungen im Klassenraum waren und mit deren Unterstützung an ihren eigenen Aufgaben arbeiteten, blieb unbefriedigend.
„„Klassenassistenz“ bedeutet also, dass nicht jedes förderbedürftige Kind eine einzelne Schulhelferin oder einen einzelnen Schulhelfer hat, sondern eine Person allen SchülerInnen und Schülern einer Klasse zur Verfügung steht. Es geht um multiprofessionellen, leistungsdifferenzierten und kompetenzorientierten Unterricht auf Augenhöhe“
Prof. Dr. Dietlinde Vanier
Redaktion: Welche Alternative haben Sie daraufhin angestrebt beziehungsweise erprobt?
Vanier: Als Lösung bot sich eine für alle Kinder in der Klasse ansprechbare Klassenassistenz an, die im Team mit der Klassenlehrkraft arbeitet. Sie tritt an die Stelle von individuellen Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern. „Klassenassistenz“ bedeutet also, dass nicht jedes förderbedürftige Kind eine einzelne Schulhelferin oder einen einzelnen Schulhelfer hat, sondern eine Person allen SchülerInnen und Schülern einer Klasse zur Verfügung steht. Es geht um multiprofessionellen, leistungsdifferenzierten und kompetenzorientierten Unterricht auf Augenhöhe.
Redaktion: Gibt es hierzu bereits quantifizierbare Ergebnisse?
Vanier: Wir haben mit unserer Längsschnittstudie untersucht, wie gut dieses Modell für alle Beteiligten funktioniert. Wir wollten wissen, wie wirksam der Einsatz der Klassenassistenzen in unserem Modellprojekt war. Wir haben Lehrpersonen, Klassenassistenzen, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern an drei Zeitpunkten im Verlauf des Projekts befragt und konnten so die Entwicklung und mögliche Veränderungen über fast vier Jahre verfolgen. Dabei fiel ein großer Teil der Laufzeit des Projekts in die Zeit der Corona-Pandemie, die sich laut Studien ja negativ auf die Berufszufriedenheit und das Selbstwirksamkeitsempfinden von Lehrpersonen ausgewirkt hat. Die Ergebnisse zu unserem Projekt sehen anders aus und alles spricht dafür, dass sich das Projekt Klassenassistenz sehr bewährt hat. Vor allem bei den Lehrkräften konnten wir trotz vergleichsweise hoher Ausgangswerte noch Verbesserungen feststellen: Ihr Enthusiasmus, ihre Berufszufriedenheit und das Gefühl, bei den Schülerinnen und Schülern etwas bewirken zu können, nahmen im Verlauf des Projekts zu. Auch bei den Schülerinnen und Schülern gab es positive Auswirkungen. Die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler hängt deutlich mit ihren Schulleistungen zusammen. In unserem Projekt war sie schon zu Beginn des Projekts höher als in anderen Untersuchungen und nahm im Verlauf des Projekts sogar noch etwas zu. Nur bei den Eltern scheint sich die Pandemie etwas ausgewirkt zu haben; ihre Bewertung der Zusammenarbeit mit der Schule nahm im Verlauf des Projekts etwas ab, sie schätzten aber das Projekt Klassenassistenz als sehr positiv ein. Sehr erfreulich fanden wir, dass sowohl aus der Sicht der Lehrpersonen als auch aus der Sicht der Klassenassistenzen das Ausmaß an Unterrichtsstörungen im Projektverlauf deutlich abnahm.
Redaktion: Die Art und Weise, wie sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird, ist derzeit ja heftig umstritten. Zu Recht?
Vanier: Eindeutig ja. Insbesondere das vom nordrhein-westfälischen Schulministerium beauftragte und im Juni 2024 übergebene Gutachten hat für eine intensive Debatte gesorgt.
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Weil die Feststellungsverfahren für sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf oft willkürlich sind, hat NRW ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben. Über die Ergebnisse spricht Co-Autor Prof. Gino Casale im Interview.
Anlass hierfür war die Quote der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf, die inzwischen auf 6,4 % angestiegen ist – und damit in NRW so hoch lag wie nie zuvor. Auch in anderen Bundesländern hat es einen auffälligen Anstieg gegeben, was auf eine willkürliche Praxis der Feststellung verweist. Ganz offensichtlich werden ganz gezielt sonderpädagogische Zuschreibungen vorgenommen, um für die Kinder Unterstützung zu bekommen, die anders nicht erhältlich ist. Von Seiten der Wissenschaft ist das Zuschreiben eines sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Kindern mit Lernschwierigkeiten jedoch höchst umstritten – zu Recht!
Redaktion: Und was wäre in dieser Hinsicht beim Modell der Klassenassistenz anders?
Vanier: Beim Modell Klassenassistenz kann mit Zustimmung der Beteiligten jeweils eine Schulbegleitung für die gesamte Klasse beantragt werden. Es würde ggf. nur für pflegerische Tätigkeiten eine weitere Kraft benötigt. Das gibt es auch an der von uns evaluierten Grundschule. Ansonsten ist pro Klasse dauerhaft eine Assistenzkraft vorgesehen. Das ermöglicht Beziehungsaufbau, konstante Anwesenheit und Unterstützung nach Bedarf – und nach dem Vieraugenprinzip . Lehrkraft und Assistenzkraft werden von den Kindern als Team wahrgenommen. Und für die Kommune sowie für die Träger wird die Finanz- und Personalplanung deutlich überschaubarer. Der beträchtliche Aufwand und die Etikettierungen rund um den sonderpädagogischen Förderbedarf reduzieren sich.
Redaktion: Wann und wie entstand das Modellprojekt Klassenassistenz?
Vanier: Die ersten Gespräche fanden 2018 statt. Die Schulleitung der Grundschule am Lerchenberg war von der Stadt Gifhorn ausgewählt worden, um modellhaft zu überprüfen, ob sich eine Klassenassistenz positiv auf Unterricht und Inklusion, sowie die kommunale Finanzplanung auswirkt.
Die Kommune wollte weniger Verwaltungsaufwand, eine überschaubare Kostenplanung und auch ein Ende der Stigmatisierung von Kindern und Eltern durch das Feststellen von besonderen Unterstützungsbedarfen. Und die Schule sah die Chance, endlich inklusiv arbeiten zu können, ohne dafür exkludierende Praktiken wie ein „Labelling“ von Kindern mittels Gutachten nutzen zu müssen.
Redaktion: Im Moment gibt es in Deutschland einen Mix aus überwiegend individuellen Modellen der Schulbegleitung und Poollösungen, sowie vereinzelten Modellen für Schulassistenz oder Klassenassistenz. Warum ist das so – und was sagen Sie nach vier Jahren Forschung dazu?
Vanier: Wir haben hier einen föderalen Flickenteppich. Eigentlich ist die Finanzierung von Schulbegleitungen oder Schulassistenzen für inklusive Schulen Ländersache. Tatsächlich geschieht das aber maßgeblich durch das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII, IX und XII und damit über die Jugend- und Sozialämter der Kommunen. Hinzu kommt: Wir haben eine aufwendige, diagnostisch gesehen indiskutable Zuteilung von Mitteln gemäß verwaltungstechnisch erforderlich erscheinenden Gutachten. Und wir haben Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen, neben denen dann eine Schulbegleitung sitzt, die sich bemüht, individuell zu unterstützen. In der Praxis werden dabei jedoch weder zunehmende Selbstorganisation – die ja ein Ziel wäre – noch Inklusion, also das Einbezogensein in das Klassenlernen und -leben, realisiert. Barbara Jürgens hat in unserem Band (Jürgens et. al. 2024) auch internationale Studien zur Individualbegleitung ausgewertet. Das Ergebnis: Bei pflegerischen Tätigkeiten ist u. a. eine Individualbegleitung sinnvoll und geboten. Zur Unterstützung von Lernprozessen scheint sie jedoch nicht erfolgversprechend zu sein.
Redaktion: Was haben Sie in den – in Ihrem Band thematisierten – Unterrichtshospitationen beobachtet, die Sie zu Beginn des Projektes durchgeführt haben?
Vanier: Wir haben beobachtet, dass das „Inklusionskind“ permanent von der Begleitkraft „unterstützt“ wurde – es war zwar in der Klasse, jedoch nicht als Teil der Klasse. Die übrigen Schülerinnen und Schüler machten immer etwas anderes.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen: Wir kritisieren nicht die Schulbegleitungen selbst, die ja ihre Aufgaben vertragsgemäß erfüllen. Wir möchten das System kritisieren, das exklusive Praktiken extensiv nutzt und vorgibt, damit Inklusion umsetzen zu wollen.
Redaktion: Wie ging es weiter mit Ihrem Projekt in Wesendorf?
Vanier: Nach vier Jahren erfolgreicher Arbeit, die sich auch in entsprechenden Evaluationsergebnissen niederschlug – und damit die Qualität dieser Arbeit bestätigten –, wurde unser Projekt leider nicht mehr gefördert. Was folgte, war die Rückkehr zur individuellen Schulbegleitung – und dies, obwohl die Analyse von Studien zur Schulbegleitung, die Barbara Jürgens für unseren gemeinsamen Band zum Modellprojekt vorgenommen hat, belegt, dass Schulbegleitung keinesfalls das bewirkt, wozu sie vorgeblich dient: nämlich die Zunahme an Eingebundensein bzw. Partizipation, Selbstregulation und Selbstständigkeit, Lernfreude und Lernerfolg.
Landespolitiker sämtlicher Parteien sprachen sich zwar für die Beibehaltung oder Verlängerung des Modellversuchs aus, blieben damit aber leider erfolglos. Dies war für uns sehr ernüchternd.
„In letzter Konsequenz ist Klassenassistenz eine Maßnahme zur Weiterentwicklung der Institution Schule, um der Diversität der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden und allen eine kompetente Teilhabe zu ermöglichen.“
Prof. Dr. Barbara Jürgens
Redaktion: Setzen aber im Grunde nicht alle Modelle – egal ob Schulbegleitung, Schulassistenz, Integrationshelferinnen und -helfer oder Klassenassistenz – das Prinzip der Inklusion in der Schule um?
Prof. Dr. Barbara Jürgens: Prinzipiell schon, aber die Vorstellungen von Inklusion sind unterschiedlich. Um es einmal ganz plakativ auszudrücken: Auf der einen Seite steht der Gedanke der Eingliederungshilfe, wie ihn das Sozialgesetzbuch formuliert. Förderbedürftige Kinder und Jugendliche sollen individuell so weit unterstützt werden, dass sie im bestehenden Schulsystem zurechtkommen oder, überspitzt formuliert, dort „hineinpassen“. Dies ist die Idee beim Einsatz von Schulbegleitung, Schulassistenz und Integrationshelferinnen und -helfern.
Beim Modell der Klassenassistenz soll hingegen nicht wie bei der Schulbegleitung der Mensch an die bestehenden Verhältnisse (und dazu gehören auch Verordnungen und Praktiken der Institution Schule) angepasst werden, sondern es sollen – ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention – diese Verhältnisse so verändert werden, dass auch förderbedürftige Personen in ihnen ihren Platz finden. Klassenassistenzen sind nicht einzelnen Schülerinnen und Schülern zugeordnet, sondern stehen in Zusammenarbeit mit der Lehrperson allen zur Verfügung – um dort zu unterstützen, wo akut Hilfe benötigt wird. In letzter Konsequenz ist Klassenassistenz eine Maßnahme zur Weiterentwicklung der Institution Schule, um der Diversität der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden und allen eine kompetente Teilhabe zu ermöglichen.
Redaktion: Welche Forschungsergebnisse gibt es denn allgemein zur Wirkung von Schulbegleitungen?
Jürgens: Die Forschungsergebnisse dazu sind wenig ermutigend: Vergleicht man die Leistungen förderbedürftiger Schülerinnen und Schüler mit und ohne Schulbegleitung, so gibt es im besten Falle keine Unterschiede. In einigen Untersuchungen schnitten die von einer Schulbegleitung einzeln betreuten Schülerinnen und Schüler jedoch sogar schlechter ab. Auch im sozialen Bereich sind Schulbegleitungen eher hinderlich als förderlich. Je mehr Zeit die förderbedürftigen Schülerinnen und Schüler mit den Schulbegleitungen verbrachten, desto weniger Kontakt hatten sie mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern und mit den Lehrkräften. Auch kann die individuelle Unterstützung einer einzelnen Schülerin oder eines einzelnen Schülers die Gleichheitsvorstellungen der Mitschülerinnen und Mitschüler verletzen, sie in eine Sonderstellung bringen und die Interaktion mit den anderen Schülerinnen und Schülern schwieriger machen.
„Insbesondere Projekte wie die Klassenassistenz, die langfristig positive Auswirkungen auf die Bildung und Zukunftschancen von Kindern haben können, werden häufig aufgrund kurzfristiger Budgetzwänge gekürzt oder eingestellt, wobei implizit bzw. fälschlicherweise davon ausgegangen wird, dass die bestehende Praxis bewährt und kostengünstiger sei.“
Wilfried W. Steinert
Redaktion: Und warum investieren die Bundesländer dann nicht in das Modell der Klassenassistenz, das ja beispielsweise in der Schweiz gut zu funktionieren scheint?
Wilfried W. Steinert: Das verstehen wir auch nicht. Nicht nur unser Modellversuch zur Klassenassistenz, sondern auch andere, vergleichbare Modellversuche wurden mit dem Argument eingestellt, sie seien zu teuer. In Bezug auf den Einsatz von Klassenassistenzen beruht die Argumentation aus unserer Sicht jedoch auf keiner seriösen Berechnungsgrundlage. Es werden hier offensichtlich allein die finanziellen Aufwendungen berücksichtigt, die Effizienz der jeweiligen Modelle in Hinblick auf Schülerinnen und Schüler, Lehrerkräfte und Unterricht aber nicht in die Kalkulation mit einbezogen.
Es müssten bei einer Vergleichsrechnung jedoch alle Kosten einer Schulbegleitung inklusive der „Nebenkosten“, wie zum Beispielt Kosten für Diagnostik, berücksichtigt und auch die durch den Einsatz einer Klassenassistenz eingesparten Kosten für individuelle Schulbegleitungen mit einberechnet werden. Wir haben selbst noch einmal – am Beispiel einer inklusiven Grundschule in einem sozialen Brennpunkt – unter Berücksichtigung aller Kosten und Einsparungen nachgerechnet und festgestellt: Bei einem solchen Vergleich schneiden Klassenassistenzen – zumindest in inklusiven sozialen Brennpunktschulen – finanziell betrachtet nicht schlechter ab als Schulbegleitungen.
Unserer Meinung nach fehlt hier eine langfristige Perspektive bei den finanziellen schul- und bildungspolitischen Entscheidungen. Aktuelle Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen sind ja oft an kurzfristige Haushalts- und Wahlzyklen gebunden, was dazu führt, dass langfristige Investitionen in Bildung vernachlässigt werden. Insbesondere Projekte wie die Klassenassistenz, die langfristig positive Auswirkungen auf die Bildung und Zukunftschancen von Kindern haben können, werden häufig aufgrund kurzfristiger Budgetzwänge gekürzt oder eingestellt, wobei implizit bzw. fälschlicherweise davon ausgegangen wird, dass die bestehende Praxis bewährt und kostengünstiger sei. Die negativen Folgen einer solchen Politik haben die letzten Schulleistungsuntersuchungen mehr als deutlich gemacht. Eine effektive Möglichkeit, dies zu verbessern, könnte in der Umsetzung des Startchancen-Programms vom BMBF für die ausgewählten Schulen liegen.
Redaktion: Bei Ihrem Modellprojekt könnte man natürlich einwenden, dass die von Ihnen begleitete Schule in mancher Hinsicht besonders günstige Voraussetzungen bot. Sie betonen ja selbst den großen Konsens und die gute Kooperation innerhalb des Kollegiums und den schon länger etablierten individualisierenden schülerorientierten Unterricht. Wie repräsentativ sind Ihre Ergebnisse?
Jürgens: Natürlich wären weitere Untersuchungen wünschenswert. Aber einige Belege für den Erfolg des Modells der Klassenassistenzen gibt es ja durchaus: Andere Autorinnen und Autoren fanden beispielsweise heraus, dass insbesondere förderbedürftige Schülerinnen und Schüler sowie diejenigen am unteren Ende des Leistungsspektrums profitieren, wenn Unterstützungspersonen nicht einzelnen Schülerinnen und Schülern zugeordnet werden, sondern in Zusammenarbeit mit der Lehrperson immer da unterstützen, wo es benötigt wird.
Das bestätigt auch eine weitere Untersuchung unsererseits. Wir wurden von einer städtischen Grundschule mit ausgesprochen diverser Schülerschaft, die ebenfalls ein Modellprojekt Klassenassistenz durchgeführt hat, mit einer Evaluation beauftragt. Zwar war es nicht möglich, die Entwicklung über die gesamte Projektlaufzeit nachzuvollziehen, da wir hier nur einmal eine Befragung durchführten.
Es fällt jedoch auf, dass trotz der im Vergleich zu unserer Modellschule schwierigeren Ausgangslage die Befragungsergebnisse denen unserer Modellschule nach einer Laufzeit von vier Jahren ähneln. Nur ein paar Beispiele: Ähnlich wie in unserer Modellschule sind die Lehrkräfte besonders enthusiastisch und veränderungsbereit und davon überzeugt, bei ihren Schülerinnen und Schülern viel bewirken zu können. Sie nehmen etwas mehr Unterrichtsstörungen wahr als die Lehrkräfte in unserer Modellschule, aber immer noch weniger als in vergleichbaren Untersuchungen. Auch das Unterrichtsverhalten der Lehrkräfte wird von den Klassenassistenzen ähnlich positiv beurteilt wie in unserer Modellschule. Wir konnten also entsprechende positive Wirkungen feststellen wie an unserer Modellschule.
Redaktion: Welche Lehren können aus der wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs gezogen werden?
Steinert: Es ist unerlässlich, dass Kommunal- und Bildungspolitik gemeinsam an einer Lösung arbeiten. Die Finanzierung von Maßnahmen wie der Klassenassistenz darf nicht allein von der Finanzkraft oder dem Wohlwollen von Gemeinden abhängen. So wird unser Bildungssystem niemals chancengerecht. Wir müssen sicherstellen, dass Bildungserfolge von Schülerinnen und Schülern weder vom Elternhaus, noch vom Wohnort oder der finanziellen Lage der Kommune abhängen.
Jürgens: Wir empfehlen nach vier Jahren begleitender Forschung ein konsequentes Umsteuern von der individuellen Schulbegleitung zu Klassenassistenzen – pflegerische und vergleichbaren Tätigkeiten einmal ausgenommen. Zugleich können wir Gelingensbedingungen für Schulen beschreiben: ein hohes Maß an kollegialer Kooperation im Kollegium, lernwirksame Unterrichtskonzeption mit einer guten Balance von individualisierenden und konstruktiven Angeboten, ein Steuerkreis mit den Beteiligten, pragmatische Vereinbarungen statt überbordender Bürokratien und ein gestaltbares, verlässliches Budget für die Schulen .
Redaktion: Frau Professorin Vanier, Frau Professorin Jürgens, Herr Steinert, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Dietlinde Vanier ist Professorin im Ruhestand und als Lehrbeauftrage am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Weiterbildung und Medien an der Technischen Universität Braunschweig tätig. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Lehrkräftefortbildung und Führungskräftetrainings, inklusives und kooperatives Lernen, Beratung und Coaching sowie entwicklungsorientierte Evaluation und Schulentwicklung.

Zur Person
Barbara Jürgens ist Professorin im Ruhestand und war am Institut für Pädagogische Psychologie an der Technischen Universität Braunschweig tätig. Ihr Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die sozialen und beruflichen Kompetenzen von Lehrer/-innen Lern- und Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen.

Zur Person
Wilfried Steinert ist ehemaliger Schulleiter der Waldhofschule Templin. Er war Mitglied im „Expertenkreis Inklusive Bildung“ der Deutschen UNESCO-Kommission e. V. (2010-2018), Mitglied der Vorjury des Dt. Schulpreises (2011-2019).