Nachhaltigkeit im Wirtschaftsunterricht: Darauf kommt es an
Das Forschungsprojekt ECON 2022 der Universität Duisburg-Essen hat untersucht, wie sich schulische und familiäre Strukturen auf die nachhaltigkeitsbezogene Performanz im Rahmen des Wirtschaftsunterrichts von Schüler:innen auswirken.

Im Wirtschaftsunterricht sollen Schülerinnen und Schüler lernen, ökonomische Zusammenhänge zu verstehen und darauf aufbauend fundierte Entscheidungen zu treffen. Immer wichtiger werden dabei Aspekte des nachhaltigen Wirtschaftens. Für nachhaltigkeitsbezogenes Lernen sind die Unterrichtsstruktur und Motivation der Lehrkraft ebenso entscheidend wie die Berücksichtigung der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler.
Wer die Zusammenhänge der Wirtschaftspolitik verstehen, beurteilen und mitgestalten will, muss die Komplexität der modernen Wirtschaftsgesellschaft und ihre Struktur und Funktionsweise verstehen. Ökonomische Bildung ist daher ein unverzichtbarer Bestandteil im Bildungsauftrag von Schulen. Welche Kompetenzanforderungen dabei an Schülerinnen und Schüler gestellt werden sollten, kann mit dem Konzept der Economic Literacy erfasst werden. Economic Literacy ist eine Bedingung für die Erlangung von ökonomischer Selbstständigkeit und die Mitgestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen. Dem Begriff der Literacy liegt ein funktionales Verständnis von Bildung zugrunde, das von einem kontinuierlichen Lernen über die Lebensspanne ausgeht. Ziel ist es, Wissensbestände und Fähigkeiten zu entwickeln, mithilfe derer eine ökonomische Partizipation am gesellschaftlichen Leben möglich ist.
„Der gängige Zugang zum Thema Nachhaltigkeit verschärft allein aufgrund der unterschiedlichen Kaufkraft in den Familien die sozialen Disparitäten.“
Fenna Henicz & Prof. Dr. Esther Winther
Eine Auseinandersetzung mit Fragen der ökonomischen Bildung muss heutzutage das Konzept der Nachhaltigkeit integrieren. Nachhaltiges Wirtschaften ist eine curriculare Schlüsselkategorie, die sich durch all jene Lebensbereiche zieht, in denen Schülerinnen und Schüler persönlich-finanziellen, gesamtgesellschaftlich-wirtschaftlichen oder beruflich-unternehmerischen Anforderungen gegenüberstehen. Der Wirtschaftsunterricht hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für ein solches nachhaltigkeitsbezogenes Lernen zu schaffen. Inwieweit sich Schülerinnen und Schüler diese Kompetenz tatsächlich aneignen können, hängt jedoch von unterschiedlichen familiären und schulischen Faktoren ab.
Sozioökonomischer Status beeinflusst Leistungen
Im Rahmen des Forschungsprojektes ECON 2022 haben wir beispielsweise überprüft, inwieweit die Testaufgaben mit Nachhaltigkeitsbezug für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status gleich fair sind. Das Ergebnis: Unser Testinstrument scheint fair zu sein – das System allerdings nicht: Die Leistungen bei diesen Aufgaben fallen bei Schülerinnen und Schülern mit niedrigerem sozioökonomischem Status im Durchschnitt geringer aus als bei Schülerinnen und Schülern höherer Sozialschichten. Gleichzeitig zeigt sich, dass Schülerinnen und Schüler, die einer höheren sozialen Schicht angehören, ökologischen, sozialen und ökonomischen Aspekten der Nachhaltigkeit tendenziell eine höhere Relevanz zuschreiben als jene aus sozialschwächeren Schichten. Dieser Befund spiegelt sich auch in der Schulform wider: Für Gymnasialschülerinnen und -schüler ist es relevanter, Aspekte der Nachhaltigkeit in die eigenen Konsumentscheidungen zu integrieren als für Lernende anderer Schulformen.
Diese Befunde stützen für den Bereich der Nachhaltigkeit, was Studien wie PISA immer wieder zeigen: Die soziale Herkunft beeinflusst den Bildungserfolg. Umso wichtiger ist es daher, dass schulische Lerngelegenheiten herkunftsunabhängige Zugänge zum Thema Nachhaltigkeit schaffen. Der gängige Zugang – über die mündigen Verbraucherinnen und Verbraucher – verschärft allein aufgrund der unterschiedlichen Kaufkraft in den Familien die sozialen Disparitäten.
Das Forschungsprojekt ECON 2022
Das Forschungsprojekt ECON 2022 hat sich zum Ziel gesetzt, mit einem Large-Scale-Assessment den Status quo in der ökonomischen Bildung in Nordrhein-Westfalen zu skizzieren. So können repräsentative Aussagen über die curricularen und institutionellen Voraussetzungen, die Kompetenzstände der Schülerinnen und Schüler, sowie deren familiäre und personale Ressourcen und Einflussfaktoren getroffen werden.
Lehrpläne vermitteln kaum Handlungswissen
Der Vergleich von Lehrplänen wirtschaftlicher Schulfächer aus unterschiedlichen Bundesländern und Schulformen zeigt, dass das Thema Nachhaltigkeit zum Teil sehr unterschiedlich angebunden ist. Dies betrifft einerseits die ökonomischen Lebensbereiche: Wird Nachhaltigkeit durch persönliche konsumbezogene Fragestellungen adressiert oder aus unternehmerischer Sicht fokussiert? Andererseits wird Nachhaltigkeit in der Regel als Faktenwissen vermittelt und meist weniger handlungsorientiert. Analog zielt der Kompetenzerwerb primär auf Verständnis und Analyse ab und weniger auf die Anwendung.
Tempo des Unterrichts beeinflusst den Kompetenzerwerb
Auf instruktionaler Ebene weist unser Forschungsprojekt darauf hin, dass das Tempo, in dem die Unterrichtsinhalte behandelt werden, eine wichtige Rolle für den nachhaltigkeitsbezogenen Kompetenzerwerb spielt. Wenn das Unterrichtstempo den Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt und sie nicht überfordert, profitieren die nachhaltigkeitsbezogenen Leistungen. Ein höheres Tempo, das die Schüler fordert, scheint hingegen die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen in Bezug auf Nachhaltigkeit zu fördern. Da Leistungen und Selbstwirksamkeit nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, gilt es, das Tempo gemäß der individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu wählen.
Unsere Studie bestätigt zudem den Einfluss des Fachinteresses: Je begeisterter und involvierter die Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkraft für die unterrichteten Inhalte einschätzen, desto höher sind ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugungen. Begeisterung der Lehrperson für die fachlichen Inhalte könnte sich also auf die Lernenden übertragen und möglicherweise interessegeleitete Lernprozesse fördern. Auf die Leistungen scheint das Interesse der Lehrkraft keinen direkten Einfluss zu haben. Da wir jedoch davon ausgehen, dass die Selbstwirksamkeit die Leistungen beeinflussen kann und vice versa, ist der motivationale Einfluss auf die Schülerinnen und Schüler nicht zu unterschätzen.
„Eine nachhaltige Entwicklung kann nur dann gelingen, wenn Lehrkräfte sich ihrer Rolle für erfolgreiche Lehr-Lernprozesse bewusst sind und ihre Lernangebote entsprechend gestalten.“
Fenna Henicz & Prof. Dr. Esther Winther
Sozialstatus prägt Wahrnehmung schulischer Lerngelegenheiten
Ein weiteres Ergebnis unserer Untersuchung illustriert, dass ein bloßes Mehr an Lerngelegenheiten nicht automatisch zu besseren Testeistungen führt. Dies gilt sowohl für ökonomische als auch nachhaltigkeitsbezogene Leistungen. Allerdings dokumentieren unsere Daten auch, dass Schülerinnen und Schüler mit niedrigerem sozioökonomischem Status über mehr schulische Lerngelegenheiten zu wirtschaftlichen Themen berichten als Schülerinnen und Schüler mit höherem Status. Dieselben Schülerinnen und Schüler geben zudem an, dass sie Informationen in höherem Maße von Lehrkräften erhalten. Ein höherer sozioökonomischer Status scheint dagegen mit einer gesteigerten Informationsgewinnung im Elternhaus zusammenzuhängen. Dies könnte bedeuten, dass der Umfang der schulischen Lerngelegenheiten von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten unterschiedlich wahrgenommen wird. Vor dem Hintergrund eines gerechten Zugangs zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung ist vor allem der Zusammenhang zwischen den Lerngelegenheiten und den Leistungen weiter zu untersuchen.
Tipps für die Gestaltung des Wirtschaftsunterrichts
Diese Befunde sind zunächst keine neue Erkenntnis; sie stützen die bisherigen Befunde aus der Lehr-Lern-Forschung zu Unterrichtsqualität für die ökonomische Bildung. Dennoch geben sie Hinweise auf Gelingensbedingungen für erfolgreich genutzte nachhaltigkeitsbezogene Lernprozesse. Gerade vor dem Hintergrund, dass Lehrkräfte sich aktuell häufig noch nicht ausreichend darauf vorbereitet fühlen, nachhaltige Entwicklung in ihre Lernangebote zu integrieren, können diese Befunde Hinweise für die Lehrkräftebildung und Schulentwicklungsprozesse geben. Bedeutsam ist an dieser Stelle eine strukturelle Verankerung von Themen der Nachhaltigkeit in der Lehrkräfteaus- und Weiterbildung. Dies gilt sowohl für die Sozialwissenschaften als auch darüber hinaus, da der Wirtschaftsunterricht, nicht selten von Lehrkräften ohne wirtschaftsdidaktische Ausbildung unterrichtet wird. Eine nachhaltige Entwicklung kann nur dann gelingen, wenn Lehrkräfte sich ihrer Rolle für erfolgreiche nachhaltigkeitsbezogene Lehr-Lernprozesse bewusst sind, und auch in der Lage sind, ihre Lernangebote entsprechend gestalten zu können.
„Da der Wirtschaftsunterricht von praktischen Erfahrungen wie Schülerfirmen, Planspielen oder Betriebspraktika lebt, kann Nachhaltigkeit sogar praktisch erfahrbar werden.“
Fenna Henicz & Prof. Dr. Esther Winther
Darüber hinaus sollten Aspekte der Nachhaltigkeit an alle ökonomischen Lebensbereiche (persönlich-finanziell, gesamtwirtschaftlich und unternehmensbezogen) gekoppelt werden. Auf diese Weise kann dem Thema auf verschiedenen Ebenen begegnet und eine mögliche Benachteiligung bestimmter Gruppen abgemildert werden. Gleichzeitig kann ein ganzheitlicheres Verständnis von Nachhaltigkeit vermittelt werden, das darüber hinausgeht, die Verantwortung einer nachhaltigen Entwicklung in die Hände von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu legen.
Idealerweise sollte der Wirtschaftsunterricht nicht nur domänenspezifische Sachkompetenzen fördern, sondern diese auch in den Gesamtkontext einer nachhaltigen Entwicklung einordnen. Dafür eignet sich beispielsweise der fächerübergreifende Unterricht, um Aspekte der Nachhaltigkeit über verschiedene fachliche Zugänge zu beleuchten und Systemkompetenzen zu fördern. Aber auch im Wirtschaftsunterricht lassen sich hierfür Anknüpfungspunkte finden: Indem wirtschaftliches Handeln auf allen Ebenen beleuchtet wird, können die Folgen für Mensch und Umwelt mitgedacht werden. Da der Wirtschaftsunterricht von praktischen Erfahrungen wie Schülerfirmen, Planspielen oder Betriebspraktika lebt, kann Nachhaltigkeit dadurch sogar praktisch erfahrbar werden.
Als niederschwellige Unterstützung für die fachspezifische und kompetenzorientierte Umsetzung im Unterricht können Lehrkräfte zum Beispiel den Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung nutzen. Dieser wurde von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entwickelt und ist online kostenlos verfügbar.