Negativ-Erfahrung Referendariat: was falsch läuft, was sich ändern muss
Im Interview zeigt Dr. Carolina Börries gravierende Missstände in der Lehrkräfteausbildung auf und macht Besserungsvorschläge
Zu wenig Zeit, zu viel Druck: Im Referendariat werden angehende Lehrkräfte mit teilweise extremen Erfahrungen konfrontiert – die sich langfristig auf die Persönlichkeit der Pädagogen auswirken können. Dr. Carolina Börries, Förderschullehrerin und selbst in der Lehrkräfteausbildung tätig, findet: Das Referendariat muss grundlegend neu gedacht werden. Wie, erklärt sie im Interview.
Redaktion: Frau Börries, viele Referendarinnen und Referendare erleben den Eintritt in den Schuldienst als sehr fordernd. In der Forschung ist vom „Praxisschock“ die Rede. Was ist damit gemeint und wie sieht dieser konkret aus?
Dr. Carolina Börries: Das Wort „Praxisschock” ist ein Begriff, der ursprünglich aus den 1970er-Jahren stammt. Er bezeichnet die Konsequenz einer damals eher liberalen und progressiven Bildungshaltung an den Universitäten, die allerdings in den Schulen noch gar nicht angekommen war. Die jungen Lehrkräfte kamen dann also in die Praxis und waren ‚geschockt‘ von dem eher konservativen Erziehungsstil, der in den Schulen noch vorherrschte. In Bezug auf heutige Referendarinnen und Referendare wären die Begriffe „Belastungsschock” oder „Stresstest” vermutlich passender. Wenn man sich die Befunde ansieht, etwa die Längsschnittstudie von Rudolf Engler und Kolleg:innen (2006), dann sieht man, dass Referendarinnen und Referendare auf eigentlich allen Ebenen eine sehr hohe Belastung feststellen – sie müssen ständigem Zeit-, Leistungs- und sozialem Druck standhalten. Die einzige Ebene, auf welcher es der Studie zufolge keinen sonderlichen Druck gibt, ist die des Unterrichts selbst. Es scheint also so zu sein, dass das Unterrichten und das Aufbauen einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung – sozusagen das „Kerngeschäft” der Lehrkräfte – den Referendarinnen und Referendaren eher wenige Probleme bereitet. Es sind vielmehr die gesamten Rahmenbedingungen, die mit dem Referendariat einhergehen, die problematisch scheinen.
„Das Referendariat sollte dem Feinschliff der Arbeit als Lehrkraft dienen, es darf keinen Selektionsmoment mehr haben.“
Dr. Carolina Börries
Redaktion: Welche Rahmenbedingungen sind das konkret, die so einen Druck verursachen?
Börries: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben eine Lehramtsausbildung an der Universität, die fünf bis sechs Jahre dauert. Dann habe ich als junge Lehrkraft eineinhalb Jahre Referendariat; ich habe also eine sehr lange, eher ruhige Phase und dann am Ende eine eher kurze Phase, die aber unter sehr hohem Druck steht: Ein Unterrichtsbesuch jagt dann den nächsten, man hat kaum Zeit durchzuatmen. Hinzu kommt, dass etwa in Niedersachen bei jungen Lehrkräften, die sich auf Stellen bewerben, die Note aus dem Referendariat zu drei Vierteln in die Bewerbernote eingeht. Obwohl das Studium drei- bis viermal so lange dauert, hat die Masternote also nur einen Einfluss von einem Viertel. Und nicht nur das: Eine angehende Lehrkraft kann in Deutschland heute selbst nach Abschluss des Masterstudiums – und damit ja dem Abschluss von 75 Prozent der Gesamtausbildung – am Ende des Referendariats noch durchfallen. Selbst nach einem mehrjährigen Studium mit Praxiserfahrung kann man auf dem eingeschlagenen Berufsweg scheitern. Das ist meiner Ansicht nach ein fataler Fehler im System: Das Referendariat sollte dem Feinschliff der Arbeit als Lehrkraft dienen, es darf keinen Selektionsmoment mehr haben.
Redaktion: Welche grundsätzlichen Probleme sehen Sie noch in der derzeitigen Ausgestaltung des Referendariats?
Börries: Ein grundsätzliches Problem im Referendariat sehe ich im Folgenden: Während ich als junge Lehrkraft noch lerne, wie ich unterrichte, muss ich gleichzeitig schon zeigen, dass ich schon gut unterrichten kann. Ich habe also die doppelte, geradezu absurde Anforderung, in einem sehr kurzen Zeitraum von etwa einem Jahr zu lernen, praktisch zu unterrichten und befinde mich gleichzeitig vom ersten Tag an in einer Prüfungssituation. Denn die Seminarleitenden, die kommen, um mich zu unterstützen, sind zugleich jene, die mich am Ende benoten. Das ist aus meiner Sicht eine kaum zu vereinbarende Aufgabe.
Redaktion: Welche Aspekte der universitären Ausbildung von Lehrkräften gehören Ihrer Meinung nach auf den Prüfstand?
Börries: Die Lehrkräfteausbildung hat insgesamt ein Balance-Problem. Es gibt zu wenig Inhalt in zu viel Zeit während des Studiums und zu viel Inhalt in zu wenig Zeit im Referendariat. Wir haben also eine lange universitäre Ausbildung, welche die Anwärterinnen und Anwärter selbst als wenig relevant erachten. Einer Studie von Doris Flagmeyer und Manfred Rotermund (2007) zufolge sehen nur drei Prozent der Lehrkräfte-Anwärterinnen und Anwärter die universitäre Ausbildung als bedeutsam an, im Umkehrschluss, sagen 97 Prozent der Lehrkräfte: Meine fünfjährige Ausbildung an der Universität hat eher weniger oder kaum Bedeutung für meine schulische Praxis. Der universitäre Teil der Ausbildung ist sehr zeitintensiv und dabei teilweise zu wenig praxisrelevant. Das System braucht mehr Ausbildung mit Praxis, letztlich mehr Referendariat mit weniger Druck, in dem sich Lehrkräfte wirklich entwickeln können.
„Im Referendariat ist es eine unrealistische Anforderung, von jungen Lehrkräften zu erwarten, sie hätten alles und jeden im Blick – aber genau diese Erwartungen werden formuliert.“
Dr. Carolina Börries
Redaktion: Warum sollte man jungen Lehrkräften in der Praxis mehr Zeit lassen, um sich zu entwickeln?
Börries: Es gibt eine sehr bekannte Längsschnittstudie zur Lehrkräftepersönlichkeit aus den 1975er-Jahren von Fuller und Brown, die bis heute nicht widerlegt wurde. Hier wurde über viele Jahre gezeigt, dass sich die Entwicklung der Lehrkräftepersönlichkeit über einen Zeitraum von 18 Jahren vollzieht. Die ersten drei Jahre davon bezeichnen die Autoren selbst als „Survival Stage”, also als Stadium, in denen die jungen Lehrkräfte selbst erst einmal im neuen Beruf ankommen müssen. Dann gibt es eine zweite Phase, in der man sich zunehmend eine differenzierte Perspektive erarbeitet. Und dann erst folgt die dritte Phase, in der Lehrkräfte erst wirklich ihren erzieherischen Auftrag wahrnehmen können. Was passiert aber im Kontrast dazu im Referendariat? Junge Lehrkräfte sollen all das, was weitgehend nur theoretisch erarbeitet wurde, in einem Jahr zeigen und sich unter enormen Druck unter Beweis stellen. Ich soll also eine Professionalität und Lehrerpersönlichkeitsentwicklung zeigen, die ich wissenschaftlichen Befunden zufolge noch gar nicht entwickelt haben kann.
Redaktion: Können Sie diese Befunde auch aus Ihrer eigenen Forschung bestätigen?
Börries: Ja. Ich habe an einer Studie mitgearbeitet, in der im Unterricht die Aufmerksamkeitsverteilung von jungen Lehrkräften im Klassenzimmer anhand von Eyetrackingaufnahmen untersucht wurde (Schulden et. al., 2019). Hierbei wurde mit einer digitalen Brille untersucht, wo sich der Blick der jungen Lehrkräfte während des Unterrichts hin richtete. Es zeigte sich, dass sich die Aufmerksamkeit zu großen Teilen auf die Störenfriede fokussierte und die ruhigeren Schüler:innen unbeachtet blieben. Es gab keine gleichmäßige Aufmerksamkeitsverteilung im Klassenraum. Das war zu erwarten. Man ist als junge Lehrerin oder junger Lehrer am Anfang so mit seinen Inhalten und sich selbst beschäftigt, dass gerade die ruhigen Schülerinnen und Schüler kaum registriert werden. Mit den Jahren findet aber dann eine Dezentralisierung der Lehrperson statt, wie es in der Forschung heißt. Aber zu Beginn, im Referendariat, ist es eine unrealistische Anforderung, von jungen Lehrkräften zu erwarten, sie hätten alles und jeden im Blick – aber genau diese Erwartungen werden formuliert.
Redaktion: Es wird oft kritisiert, dass Lehrkräfte in Deutschland Probleme damit haben, kooperativ Unterricht zu entwickeln und tendenziell defensiv auf das Thema Evaluation reagieren, dass also eine gewisse Einzelkämpfermentalität unter Lehrkräften herrscht. Hat das Ihrer Einschätzung nach mit der Erfahrung im Referendariat zu tun?
Börries: Auf jeden Fall. Ich würde sogar so weit gehen: Das Referendariat – so wie es heute gestaltet ist – kann durchaus traumatische Erfahrungen auslösen. So etwas kann passieren, wenn ich in einem Unterrichtsbesuch stecke, die Klasse komplett „quer geht”, der Unterricht aus dem Ruder läuft, und ich weiß, da hinten sitzt eine Person und bewertet diese Situation und mein Verhalten jetzt. Solche Erfahrungen tragen sicher zur „Pädagogik der geschlossenen Tür“ bei. Dabei sind Unterrichtsbeobachtungen so wertvoll für Referendare, um das Unterrichten zu lernen. Gleichzeitig sind sie durch die Bedingungen im Referendariat extrem stressbesetzt. Das ist bedauerlich.
Redaktion: Welche Änderungen würden Sie für die Lehrkräfteausbildung anregen?
Börries: Ich glaube es ist nicht leicht, hier nachhaltig etwas zu ändern, denn die Probleme liegen wie beschrieben tiefer. Die in Deutschland historisch lang gewachsene Lehrkräfteausbildung bedarf in ihrer Gesamtstruktur Veränderungen. Diese zu modernisieren ist ein schwerer Weg. Dennoch gibt es natürlich auch Ansätze, die auch mittelfristig bereits den Druck aus dem Referendariat etwas rausnehmen könnten: Die Forschung zeigt etwa, dass das Referendariat als weniger belastend angesehen wird, wenn die Anwärter eine hohe Selbstwirksamkeit zeigen (Messner & Reusser, 2000). Wenn die Anwärter also davon überzeugt sind, dass sie die ihnen gestellten Aufgaben schaffen und das, was sie tun, gut ist. Den betreuenden Fachlehrkräften, die die angehenden Lehrkräfte in den Schulen begleiten, fällt entsprechend eine entscheidende Rolle zu: Sie sind vor Ort, sie können die Anwärterinnen und Anwärter motivieren, bestärken und damit ihre Selbstwirksamkeit erhöhen. Wenn sie mit Zeit und Geduld mit den Nachwuchskräften den Unterricht reflektieren, kann das eine enorme Wirkung haben. Das bedeutet auch, diese Schlüsselfiguren vor Ort müssten eine viel höhere Entlastung erfahren, um sich intensiv mit den angehenden Lehrkräften auseinanderzusetzen und diese zu unterstützen. Im Moment bekommen diese, etwa in Niedersachsen, kaum Entlastungsstunden für ihre zusätzliche Arbeit – diese Aufgabe ist also quasi ein Ehrenamt. Wenn neue Referendarinnen und Referendare an die Schule kommen, ist die Haltung der Lehrkräfte daher vielerorts: „Hoffentlich kommen sie nicht in meine Klasse, ich habe schon so viel zu tun.” Dieser Aspekt der Ausbildung wird im allgemeinen Diskurs bisher sträflich vernachlässigt.
Redaktion: Halten Sie es für notwendig, in die universitäre Ausbildung mehr Praxis einzubeziehen?
Börries: Unbedingt. Es gibt hier zumindest im Bereich Grund-, Real- und Hauptschulen etwa an meiner Universität in Oldenburg Entwicklungen, die in die richtige Richtung gehen: zum Beispiel durch das niedersächsische Programm GHR 300. Hier absolvieren Studierende im Masterstudiengang ein Langzeitpraktikum mit einer Dauer von 18 Unterrichtswochen an einer allgemeinbildenden Schule. Dieses wird auch ein Semester vorbereitet und im Nachgang entsprechend evaluiert. Mir ist persönlich schon von mehreren Seiten berichtet worden, dass die Studierenden, die dieses Praktikum machen konnten, später besser vorbereitet ins Referendariat starten. Ich hätte aber noch einen anderen Vorschlag. Man könnte doch auch sukzessive die Praxis in den Studierendenalltag einbauen. Im ersten Studienjahr ein Tag Praxis, vier Tage Universität. Im zweiten Jahr dann zwei Tage Praxis, drei Tage Universität und so weiter. Eine solche duale Lehrkräfteausbildung wäre in meinen Augen ideal, um den Druck aus dem Referendariat zu nehmen und die Lehrkräfte frühzeitig und nachhaltig auf die Praxis vorzubereiten.
Redaktion: Frau Doktorin Börries, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Frau Dr. Carolina Börries ist Förderschullehrerin an einer Förderschule mit dem Schwerpunkt emotional-soziale Entwicklung und Lernen in Niedersachsen. Seit 2014 ist sie als Lehrbeauftragte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Bereich der Lehramtsausbildung tätig.