Neue NEPS-Studie fragt nach mündigem Umgang von Schulkindern mit dem Internet

Wie das Nationale Bildungspanel künftig digitale Kompetenzen testet und was daran neu ist, erklärt Leiterin Prof. Dr. Cordula Artelt im Interview.

Das Nationale Bildungspanel (NEPS) untersucht seit zwölf Jahren Bildungsverläufe vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter. Es ist die größte Langzeit-Bildungsstudie in Deutschland. Mit einer neuen Teilstudie will es künftig Schulentwicklung und digitale Kompetenzen von Jugendlichen stärker in den Blick nehmen. Studienleiterin Prof. Dr. Cordula Artelt spricht im Interview über bisherige Befunde, die Besonderheit der NEPS-Daten und ihre Wünsche an die Bildungspolitik.

Redaktion: Im Oktober startet eine neue Langzeitstudie innerhalb der NEPS-Studie. Der Titel ist „Bildung für die Welt von morgen“. Worum geht es genau?

Prof. Dr. Cordula Artelt: Im Mittelpunkt der neuen Kohorte im NEPS steht die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern, die sich jetzt in der fünften Jahrgangsstufe befinden. In der neuen Startkohorte nimmt das NEPS stärker als bisher auch die Schulentwicklung und den Unterricht in den Blick, auch wenn das NEPS keine Unterrichtsstudie im engeren Sinne ist. Wichtige Entwicklungskontexte sind auch die Familien und die sozialen Netzwerke der Kinder und Jugendlichen. Das beides ist ebenfalls Gegenstand der Studie. 
Das NEPS mit seinen bisher sechs Kohorten vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter startete zwischen 2009 und 2012 mit den Erhebungen in den verschiedenen Kohorten. Doch nach gut zehn Jahren sind viele Studienteilnehmenden nicht mehr in der Schule oder werden – wie die Kinder aus der Startkohorte 1 – nicht im schulischen Kontext, sondern in den Familien untersucht. Deshalb war es eine Frage der Zeit, bis wir eine neue Kohorte mit Erhebungen in der Schule starten. Und mit hoher Parallelität im Erhebungsprogramm zu der zwölf Jahre vorher gestarteten Startkohorte 3. Wichtige Erkenntnisse entstehen gerade durch den Vergleich der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler dieser beiden Kohorten, da hierüber auch die Auswirkungen der Veränderungen der vergangenen Jahre in den Blick genommen werden können. Und es gibt diverse gesellschaftliche, schulstrukturelle und fachdidaktische – und auch weitere – Veränderungen, die wichtige bildungsforschungsbezogene Fragen beinhalten. So hat sich die gesamte Schulstruktur verändert. Der Trend zur Zweigliedrigkeit etwa hat enorm Fahrt aufgenommen. Und 2010 war die Digitalisierung auf einem ganz anderen Stand als heute. Wenn man diesbezüglich empirisch fundierte Aussagen machen möchte, braucht man einfach einen neuen Datensatz und damit auch die neue Kohorte im NEPS. Auch, um eine aktuelle Datengrundlage für den regelmäßig erscheinenden Nationalen Bildungsbericht zu haben. 

Die NEPS-Studie

Die NEPS-Studie „Bildungsverläufe in Deutschland“, auch bekannt unter dem Namen „Nationales Bildungspanel“ (National Educational Panel Study), ist mit inzwischen rund 60.000 Teilnehmenden aller Altersstufen und zusätzlich 40.000 Personen aus deren Umfeld die größte Langzeit-Erhebung zu Bildung in Deutschland. Angelegt als sogenanntes Multi-Kohorten-Sequenz-Design erfasst sie seit zwölf Jahren in immer neuen Teilstudien die Kompetenzentwicklung und die Bildungsverläufe von der frühen Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter. Die NEPS-Daten werden der nationalen und internationalen Wissenschaft in Form eines Scientific Use Files zugänglich gemacht. Verantwortlich für die Planung und Koordination ist ein interdisziplinäres Konsortium von Forschungsinstituten unter der Leitung von Prof. Dr. Cordula Artelt, der Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg.

Redaktion: Welche neuen Fragen stellen sich speziell mit Blick auf die Digitalisierung?

Artelt: Ein Aspekt, den wir neu aufgenommen haben, bezieht sich auf digitale Kompetenzen. Damit meinen wir weniger den Umgang mit dem Rechner und die Handhabung von Mäusen und Excel-Dokumenten – Kompetenzen, die zur „ICT literacy“ (Anm. der Red.: Information and Communications Technologies) gehören. Wir meinen vielmehr ein Mündigsein im Umgang mit dem, was einem in der Medienwelt des Internets an Phänomenen begegnet: Algorithmen, eingeschränktes Wissen, Filtereffekte und so weiter. Das ist ein Novum. Wir haben viel investiert, um hier einen Test zu entwickeln. Das wird spannend. 

„Wir meinen ein Mündigsein im Umgang mit dem, was einem in der Medienwelt des Internets an Phänomenen begegnet: Algorithmen, eingeschränktes Wissen, Filtereffekte und so weiter.“

Prof. Dr. Cordula Artelt

Es geht einerseits um die Digitalisierung im Unterricht und wie Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrkräfte digitale Medien dort konkret nutzen. Es geht aber auch darum, wie sie vorbereitet sind für bestimmte Anforderungen, die uns allen allgegenwärtig sind. Das wird in unseren bisherigen Studien oder auch in der ICILS-Studie am Rande tangiert, aber nicht in dem Maße, wie wir es jetzt aufgreifen werden.

Neue Langzeitstudie „Bildung für die Welt von morgen“

Im Oktober 2022 startet die neue Langzeitstudie „Bildung für die Welt von morgen“ innerhalb des Nationalen Bildungspanels (NEPS). Bis zu 20.000 Schülerinnen und Schüler der fünften Jahrgangsstufe sowie zusätzlich Personen aus deren Umfeld sollen regelmäßig befragt und getestet werden. Neu ist, dass dies in der Schule und nicht zu Hause geschehen wird. Alle Kinder der fünften Klassen einer Schule bearbeiten dann beispielsweise verschiedene Typen von Aufgaben am Computer. Im Mittelpunkt stehen die Themen Digitalisierung des Lernens, Inklusion, Bildungsgerechtigkeit, gesellschaftliches Engagement. Viele Regel- und Förderschulen haben laut NEPS bereits ihre Teilnahme zugesagt; weitere Schulen werden noch kontaktiert.

Redaktion: Welche Erwartungen haben Sie an die Ergebnisse?

Artelt: Man ist natürlich geprägt von Befunden aus anderen Studien. Die ICILS-Studie zeigt uns, dass Luft nach oben ist in den ICT-Kompetenzen deutscher Schülerinnen und Schüler. Wir haben unterschiedliche Annahmen darüber, wie stark die Corona-Effekte waren, dass sich die Schere wieder geöffnet hat zwischen den privilegierteren Schülerinnen und Schülern und den weniger privilegierten. In welchem Ausmaß – das lassen wir uns dann von den Daten erzählen.

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Prof. Birgit Eickelmann gibt Antworten auf die Frage, ob und wie die „Corona-Krise“ zur Initialzündung für digitalere Schulen in Deutschland werden kann.

Redaktion: Welche Befunde über Schulkinder gibt es bislang aus der NEPS-Studie?

Artelt: Zum Leseverhalten von Schulkindern gibt es beispielsweise einen interessanten Befund. Wir können mit den längsschnittlichen Daten feststellen, dass der Vorsprung der Mädchen bei der Lesekompetenz – sie schneiden in der PISA-Studie, in der IGLU-Studie deutlich besser ab – sich zum Ende der Schulzeit, also mit dem Übergang von der Schule ins Berufsleben insofern verändert, als die Jungen deutlich aufholen. Die Gründe können wir nicht kausal benennen. Aber es gibt Indikatoren, die mit veränderten Anreizen zu tun haben. Man liest dann etwa, um die Berufsausbildung gut hinzubekommen. Das instrumentelle Lesen, um etwas zu erreichen, nimmt also deutlich zu. In den Erwachsenenstudien finden sich dann keine Vorteile mehr von Frauen gegenüber Männern.

Bei den mathematischen Kompetenzen gibt es eine große Kontinuität von Unterschieden. Die Eingangsunterschiede, die zwischen verschiedenen Gruppen bestehen, sind nahezu gleichbleibend. Weder vergrößern sie sich über die Zeit noch verringern sie sich substantiell. Wenn ein Vorteil für Kinder aus bessergestellten Familien besteht, setzt er sich über die Zeit fort. Es gibt kein großes Aufholen der schwächeren Schülerinnen und Schüler – dabei ist es ja der Auftrag der Schule, Eingangsunterschiede zu kompensieren. Gleichzeitig öffnet sich die Schere aber auch nicht weiter. Das stellen wir jedenfalls mit Blick auf die mittlere Gesamtentwicklung fest, aber es gibt natürlich große Unterschiede und damit Varianz. Interessant ist: Unter welchen Bedingungen ist etwa die Kompensation von Eingangsunterschieden möglich, oder aber die gezieltere Förderung der Leistungsspitze? Zwar sind wir mit den NEPS-Daten nicht aussagekräftig für einzelne Bundesländer. Aber unsere neue Startkohorte wird uns auch hier mehr Information zur Verfügung stellen, indem wir etwa Schulentwicklungsprozesse und fachliche Förderung gerade in Bezug auf die Möglichkeiten und Herausforderung der Digitalisierung in den Blick nehmen. Das hat durchaus das Potenzial, über das ganze Land hinweg zur Erklärung von Unterschieden beizutragen.

Redaktion: Wie stark werden die NEPS-Daten denn von anderen Forschenden genutzt? 

Artelt: Je mehr Daten die Studie zur Verfügung gestellt hat, desto mehr ist sie auch in ihrem Wert gewachsen. Wir mussten eine ganze Weile warten, bis wir die ersten längsschnittlichen Datensätze veröffentlichen konnten. Seitdem entwickeln sich die Datensätze zu einem Datenschatz. Jetzt werden die Daten der NEPS-Studie rege genutzt, in Deutschland und auch international. Mehr als 3.000 Personen weltweit haben bereits mit den Daten gearbeitet. Die Prognosen, die es bei der Gründung des NEPS dazu gab, haben wir weit überschritten. Aber es gibt viele Früchte, die man noch ernten kann. 

Redaktion: Und wer arbeitet mit den Daten?

Artelt: Das ist disziplinär unterschiedlich. Und hängt auch vom inhaltlichen Schwerpunkt ab. Die Fragen sind natürlich nicht auf schulische Fragen beschränkt. Viele Bildungsökonomen arbeiten beispielsweise mit den Daten aus unserer Erwachsenenkohorte. Wir haben auch viele Forschungsarbeiten zur Säuglingskohorte. Diese liefert aufwändig erhobene und interessante Daten, die international einzigartig sind. Aber das hat natürlich seinen Preis. Es ist teuer, wenn man in die Familien geht und Videos dreht über die Art der Interaktionen, die dort zwischen Eltern und Babys stattfinden. 

„In bestimmten Bereichen sind wir mit den NEPS-Daten einzigartig.“

Prof. Dr. Cordula Artelt

In bestimmten Bereichen sind wir mit den NEPS-Daten einzigartig, gerade im Hinblick auf die Bildungsverläufe. Wir in Deutschland haben ja anders als andere Länder keine „personal identifier“, also keine Möglichkeit, auf andere Art und Weise den individuellen Gang durchs Bildungssystem nachzuzeichnen. Wir benötigen Survey-Daten wie die des NEPS, um Bildungsverläufe zu analysieren. Und wenn man sich die Verläufe über verschiedenen Etappen und Phasen hinweg anschaut, ist die Unterschiedlichkeit, das Abweichen von „Normalbiographien“ schon bemerkenswert und für die Bildungspolitik und ihre Maßnahmen auch praktisch relevant. Durch das NEPS wissen wir über Biographien und Bildungswege von Personen, die sich etwa in der Ausbildung, im Studium oder im Übergangssystem befinden oder Abschlüsse nachholen und können feststellen, wie dies und die weitere Entwicklung von Bildungsverläufen, der sozialen Herkunft, schulischer Förderung und individuellen Kompetenzen abhängt.

Redaktion: Haben Sie denn den Eindruck, Bildungspolitik und -verwaltung ziehen ihre Schlüsse aus solchen Daten?

Artelt: Leider wird die Logik der Zuständigkeit in Administration und Politik gern in Ressorts gedacht, wodurch Übergange und die damit verbundenen Anforderungen zwischen den Stühlen bleiben. Frühe Bildung ist Frühe Bildung. Dann kommt die allgemeinbildende Schule. Dann gibt es Weiterbildung und Hochschule und die berufliche Bildung. Es gibt keine Lobby für den Übergang. Auch Förderprogramme und politische Maßnahmen enden häufig an Bildungsetappen. Sie hören dann auf, wenn man an einer Stelle angelangt ist. Das muss nicht schlecht sein, aber es birgt eben auch Probleme.

„Es gibt keine Lobby für den Übergang.“

Prof. Dr. Cordula Artelt

Wir sind bei der Betrachtung von Bildungsverläufen natürlich besonders an den Übergängen interessiert und sammeln Informationen darüber. Es ist eine Entwicklungsaufgabe, zu sehen, dass Bildungsverläufe nicht an jeder Etappe neu beginnen, sondern auch eine Historie haben, und dass man von diesem Wissen profitieren kann. Und dann ist es eine Systemfrage, in welche Zuständigkeit etwas gehört.

Redaktion: Frau Professorin Artelt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Cordula Artelt ist Professorin für Bildungsforschung im Längsschnitt an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe und Leiterin des Nationalen Bildungspanels (NEPS-Studie).