Neue Bildungsstandards für die naturwissenschaftlichen Fächer

Bildungsexperte Norbert Maritzen erklärt im Interview den Sinn und Zweck der von der KMK jüngst verabschiedeten neuen Bildungsstandards

Um Schülerinnen und Schüler auf die Anforderungen einer zunehmend von Wissenschaft und Technologie geprägten Welt vorzubereiten, hat die KMK neue Bildungsstandards für die Fächer Biologie, Physik und Chemie verabschiedet. Sie wurden von Fachexpertinnen und -experten aus den Ländern, Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Bildungsforschung sowie Lehrkräfte- und Fachverbänden entwickelt. Gremiumsmitglied Norbert Maritzen, verantwortlich für die koordinative Gesamtleitung, erläutert den Prozess und die allgemeine Zielsetzung bei der Verabschiedung von Bildungsstandards.

Redaktion: Herr Maritzen, was ist konkret gemeint, wenn wir von Bildungsstandards sprechen?

Norbert Maritzen: Bildungsstandards geben Ziele der pädagogischen Arbeit in Form von anzustrebenden Lernergebnissen vor. Sie legen fächerspezifisch fest, welche Kompetenzen Kinder und Jugendliche bis zu einem bestimmten Abschnitt in ihrer Schullaufbahn entwickelt haben sollen. Unter einer Kompetenz wird dabei die Fähigkeit verstanden, das in den jeweiligen Fächern vermittelte Wissen und Können zur Lösung von Problemen anzuwenden. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat solche konkreten Ziele für die Fächer Deutsch und Mathematik im Primarbereich sowie für Deutsch, Mathematik, die erste Fremdsprache und Biologie, Chemie und Physik in der Sekundarstufe I festgelegt. In Mathematik, Deutsch und der ersten Fremdsprache wird dabei auch noch zwischen den Anforderungen für den Ersten Schulabschluss ESA (früher Hauptschulabschluss) und dem Mittleren Schulabschluss MSA unterschieden. Auch für die Allgemeine Hochschulreife AHR gibt es Bildungsstandards in Deutsch, Mathematik, der fortgeführten Fremdsprache und den Naturwissenschaften. Einen Überblick findet man auf der Website des IQB (Link dazu unter diesem Artikel, Anm. d. Red.).

„Bildungsstandards setzen innerhalb der Kernbereiche eines Fachs Schwerpunkte, ordnen und hierarchisieren die Anforderungen.“

Norbert Maritzen

Redaktion: Wozu dienen diese Standards? Was ist der praktische Nutzen?

Maritzen: Seit der Klieme-Expertise 2007 besteht ein Konsens dahingehend, dass die wichtigste Funktion von Bildungsstandards in der Orientierung der Schulen auf verbindliche Ziele besteht. Lehrkräfte, Lernende, Erziehungsberechtigte verfügen mit ihnen über ein Referenzsystem, das ihnen signalisiert, was für bestimmte Übergänge oder Abschlüsse in Bildungsgängen von Bedeutung ist und beherrscht werden soll. Bildungsstandards sind darüber hinaus zentrale Bezugspunkte für Überprüfungsverfahren. Auf ihrer Grundlage werden Lernergebnisse erfasst und bewertet. Dies geschieht etwa in standardbasierten Testverfahren oder in Prüfungen. Bildungsstandards setzen innerhalb der Kernbereiche eines Fachs Schwerpunkte, ordnen und hierarchisieren die Anforderungen und klären so Konturen der Gegenstandsfelder in den Fächern.

Redaktion: Wie gelangen Bildungsstandards in den praktischen Alltag von Schule?

Maritzen: Vermutlich wirken Bildungsstandards auf verschiedenen Wegen eher indirekt auf den praktischen Unterrichtsalltag. Zentral ist, dass die Lehrpläne der Länder die Anforderungen der Bildungsstandards aufnehmen und konkretisieren. In der Regel nehmen auch die Entwickler von Unterrichtsmaterialien und Lehrwerken die curricularen Vorgaben der Länder auf und transferieren die Anforderungen der Bildungsstandards auf diese Weise in konkrete unterrichtliche Kontexte. Die Überführung von standardbezogenen Fachanforderungen in zentralen Prüfungsaufgaben ist ein weiterer Schritt, wie Bildungsstandards die schulische Praxis erreichen. Bei alldem ist wichtig, dass die Länder die Lehrkräfte im Rahmen von Informations- und Fortbildungsmaßnahmen systematisch mit den Bildungsstandards vertraut machen und in ihre vielfältige Nutzung einführen. Das IQB hat Beispielaufgaben entwickelt, die die Standards illustrieren. Sie können den Implementierungsprozess unterstützen (Link dazu unter diesem Artikel, Anm. d. Red.).

„Bildungsstandards gängeln nicht, sondern halten Lernwege bewusst offen.“

Norbert Maritzen

Redaktion: Was bedeutet das für die Lehrkräfte?

Maritzen: Lehrkräfte spielen eine Schlüsselrolle in der planvollen Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Lehr-Lernprozessen. Bildungsstandards fokussieren die Lernprozesse auf den Erwerb wichtiger Kompetenzen. Diesen Erwerbsprozess müssen Lehrkräfte fachbezogen so unterstützen, dass bezogen auf die individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Lernwege ermöglicht werden können. Bildungsstandards gängeln also nicht, sondern halten Lernwege bewusst offen. Bildungsstandards ordnen die Kompetenzen in Kompetenzmodellen, die die zentralen Ideen eines Fachs und die Dimensionen und Niveaustufen der Anforderungen beschreiben. Damit erhalten Lehrkräfte, aber auch Entwickler von Lehrmaterialien fachdidaktisch begründete Konzepte an die Hand, die ihnen helfen, Lernprozesse über mehrere Jahrgänge hinweg systematisch aufzubauen. Das verändert den Blick auf Unterricht hin zu einem stärker entwicklungsbezogenen, kumulativen Lernprozess. Die damit verbundenen Anforderungen an Lehrkräfte sind gleichwohl bedeutsam, da diagnostische Kompetenz ebenso wie didaktische Fantasie der Lehrkräfte in erheblichem Maße gefordert sind.

„Die nun verabschiedeten weiterentwickelten Bildungsstandards sind insgesamt präziser und in ihrer Orientierungsfunktion gestärkt.“

Norbert Maritzen

Redaktion: Warum war eine Anpassung nötig und was ist das Neue an den jetzt verabschiedeten Bildungsstandards?

Maritzen: Die erste Generation von Bildungsstandards für den Primarbereich und die Sekundarstufe I stammte noch aus den 2000er-Jahren. Nach knapp 20 Jahren erschien eine Überarbeitung angezeigt. Eine von der KMK vorab beauftragte Bedarfsanalyse hatte entsprechend auch das Ergebnis erbracht, dass ein mittlerer bis hoher Weiterentwicklungsbedarf bestehe. Dafür sprach ein ganzes Bündel von Entwicklungen: Zum einen ist der Wissensstand über den Kompetenzerwerb, auch über Hürden und Schwierigkeiten, deutlich fortgeschritten. Es liegen auch mehr Erfahrungen mit der unterrichtspraktischen Umsetzung der Bildungsstandards vor. Schließlich haben sich auch die Rahmenbedingungen des Unterrichtens in vielerlei Hinsicht gewandelt. Man denke nur an die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft, die wachsende Bedeutung digitaler Medien, die veränderte Bedeutung des Englischen im Alltag, die Ausdifferenzierung von Textsorten und vieles mehr.

Die nun verabschiedeten weiterentwickelten Bildungsstandards sind insgesamt präziser und in ihrer Orientierungsfunktion gestärkt. Auch die Progression des Kompetenzzuwachses ist jetzt über die Schulstufen hinweg besser abgebildet. In Deutsch und Mathematik über den gesamten Bildungsgang vom Primarbereich bis zum Abitur, in den anderen Fächern jeweils zwischen den Stufen. Es liegen nun Standards vor, die konsequenter aufeinander aufbauen, die jeweiligen Niveauübergänge besser markieren und von durchgehenden fachlichen Prinzipien organisiert sind.

Redaktion: Bildungsstandards beschreiben also den normativen Bezugsrahmen für die Leistungserwartungen in der Schule. Das bedeutet auch: Was jetzt als relevant gilt, ist das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses von unterschiedlichen Akteuren. Wie ist dieser Prozess gelaufen, wer war eingebunden, wie wurde entschieden?

Maritzen: Die Bildungsstandards für den Primarbereich und die Sekundarstufe I wurden im Zuge eines jeweils gut zweijährigen Prozesses in Fachkommissionen erarbeitet, die sich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der verschiedenen Fachdidaktiken, Fachleuten aus allen Bundesländern und Mitarbeitenden des IQB zusammensetzten. Die Koordination lag beim IQB. In den Fachkommissionen wurden unterschiedliche Perspektiven mit verschiedener Expertise zusammengeführt: Es wurde dafür Sorge getragen, dass neueste fachdidaktische Erkenntnisse über den Erwerbsprozess von Kompetenzen berücksichtigt werden konnten. Ferner wurden Erfahrungen aus der fachbezogenen Schulpraxis einbezogen. Schließlich spielte auch die administrative Expertise eine nicht unwesentliche Rolle, insofern die curricularen Voraussetzungen und Traditionen der Länder in den Beratungen immer bewusst gehalten wurden. Das war nicht immer ein ganz einfacher, aber ein stets in hohem Konsens zu Ende gebrachter diskursiver Prozess. 

Redaktion: Welche Punkte waren im Verlauf des Entwicklungsprozesses besonders umstritten?

Maritzen: Es wurde beispielsweise immer wieder kontrovers diskutiert, wie prominent die Nutzung digitaler Medien abgebildet und damit obligatorisch gemacht werden sollte. Auch die Frage, wie präzise beziehungsweise offen die Bildungsstandards operationalisiert werden sollten, war umstritten. Auch entlang einzelner Fragen wurden intensive Grundsatzdiskussionen darüber geführt, was Kinder und Jugendliche heutzutage können sollten: zum Beispiel, ob das Verstehen des Konzeptes bedingter Wahrscheinlichkeit für den MSA in Mathematik zur Allgemeinbildung gehöre oder ob die verbundene Handschrift im Primarbereich verbindlich gemacht werden solle. An diesen Diskussionen wurde nicht selten deutlich, dass in den Fachkommissionen tendenziell immer auch heimliche Agenden mitverhandelt wurden, etwa: Verfügen unsere Lehrkräfte über die Voraussetzungen, digitale Werkzeuge adäquat im Unterricht einzusetzen? Oder: Wie begegnen wir am besten der Lobby didaktischer Pressure Groups, die wider alle Evidenz von der Triftigkeit der eigenen Konzepte überzeugt sind? Ganz generell muss man jedoch sagen, dass sich die Diskussionen in den Fachkommissionen durch hohe Sachorientierung und dem Willen zur Konsensfindung ausgezeichnet haben. Wenn es intensivere Auseinandersetzungen gab, dann waren sie meist auf unterschiedliche Traditionen und Schwerpunktsetzungen in den einzelnen Bundesländern zurückzuführen.

Redaktion: Herr Maritzen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Norbert Maritzen ist Bildungsexperte und hat lange Jahre das Hamburger Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) geleitet. Im Prozess der Weiterentwicklung von Bildungsstandards ist er mit der koordinativen Gesamtleitung betraut.