Pandemiefolge oder Negativtrend?
Prof. Dr. Olaf Köller bewertet im Gastbeitrag die im aktuellen IQB-Bildungstrend festgestellten Kompetenzverluste von Viertklässler:innen.
Die Ergebnisse des aktuellen IQB-Bildungstrends haben bundesweit für Aufsehen gesorgt. „Alarmierend“, „nicht hinnehmbar“, „ernüchternd“ - die Kommentare aus den Reihen der Politik sind gleichlautend, aber die Bewertung, welchen Anteil die Corona-Pandemie an den schlechten Ergebnissen hat, fällt unterschiedlich aus. Im Gastbeitrag liefert Prof. Dr. Olaf Köller eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf diese wichtige Frage.
Wie bewerten Sie die aktuellen Ergebnisse des IQB-Bildungstrends?
Schon die Ergebnisse, die uns im Juli auf nationaler Ebene vom IQB präsentiert wurden, waren beunruhigend. Nun steigern die länderspezifischen Ergebnisse noch einmal die Sorgen, denn schließlich sind in fast allen Ländern sinkende Leistungen in Deutsch und Mathematik zu verzeichnen. Vor allem die dramatischen Anstiege bei den Anteilen der Risikogruppen, also der Schülerinnen und Schüler, die nicht einmal Mindeststandards schulischer Bildung in Deutsch und Mathematik in der Grundschule erreichen, sind beunruhigend. Die sozioökonomisch bedingte Chancenungleichheit hat zugenommen und vor allem Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, insbesondere die Kinder der ersten Zuwanderungsgeneration, werden weiter abgehängt.
„Empirische Arbeiten zeigen, dass sozial und kulturell benachteiligte Schülerinnen und Schüler stärkere Lerneinbußen hatten.“
Prof. Dr. Olaf Köller
Welche Rolle spielt die Pandemie bei dem diagnostizierten Kompetenzverlust?
Natürlich liegt es nahe, die Covid-19-Pandemie als alleinige Ursache für die sinkenden Leistungsstände der Schülerinnen und Schüler zu benennen. In der Pandemie hat es in den Schuljahren 2019/20 und 2020/21 mehrwöchige Schulschließungen gegeben. Inwieweit sich das negativ auf die Leistungen und die sozio-emotionale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler ausgewirkt hat, dazu liegen uns mittlerweile viele Ergebnisse vor. Bezüglich der Schulleistungen gibt es vor allem belastbare Daten aus anderen europäischen Ländern, die trotz der Pandemie ihre nationalen Assessments auch in den Schuljahren mit Schulschließungen durchgeführt haben (beispielsweise Engzell, Frey & Verhagen, 2021). Dadurch ist es möglich, die Leistungen im nationalen Assessment unmittelbar vor der Pandemie mit denen in der Pandemie zu vergleichen. Diese Ergebnisse zeigen für die Grundschule, dass sich die Lernraten in der Zeit der Schulschließungen halbiert haben. Statistisch gesprochen reduzierte sich der Kompetenzzuwachs von 0.02 Standardabweichungen pro Woche auf wöchentlich 0.01 Standardabweichungen. Gegenüber einem Präsenzunterricht dürften Schülerinnen und Schüler durch die beiden achtwöchigen Schulschließungen also im Mittel 0.16 Standardabweichungen im Kompetenzzuwachs verloren haben. Weiterhin zeigen die empirischen Arbeiten, dass sozial und kulturell benachteiligte Schülerinnen und Schüler stärkere Lerneinbußen hatten (ebenfalls Engzell, Frey & Verhagen, 2021).
Das im Jahr 2021 gemeinsam von Bund und Ländern aufgelegte Corona-Aufholprogramm, das den Anspruch hat, die durch die Pandemie verursachten Rückstände auf Seiten der Kinder und Jugendlichen zu kompensieren, konnte natürlich zur Zeit der Datenerhebungen für den IQB-Bildungstrend (Frühling/Sommer 2021) noch nicht gegriffen haben. Ganz abgesehen davon, dass die Wirksamkeit des Programms für viele Länder generell infrage gestellt wird (Helbig, Edelstein, Fickermann & Zink, 2022), war deshalb zu erwarten, dass die Ergebnisse im Bildungstrend 2021 gegenüber denen von 2016 in Folge der Pandemie schlechter ausfallen würden. Nimmt man den oben angesprochenen internationalen Pandemieeffekt von rund 0.16 Standardabweichungen bei 16 Wochen Schulschließungen zum Maßstab, dann müsste sich dies auf der vom IQB gewählten Leistungsmetrik mit ca. 16 Punkten Leistungsverlust bemerkbar machen. Vereinfacht gesprochen: Ein um 16 Punkte niedriger Mittelwert zwischen 2016 und 2021 könnte durchaus die negativen Effekte der Pandemie widerspiegeln.
Wirft man allerdings den Blick auf Tabelle 1, in der die tatsächlichen Veränderungen für die nationalen und länderspezifischen Mittelwerte für die Bereiche Lesen und Mathematik verzeichnet sind, ergibt sich ein differenzierteres Bild.
„Die Tabelle zeigt, dass die Kompetenzverluste nicht allein mit den Folgen der Pandemie zu erklären sind.“
Prof. Dr. Olaf Köller
Die Tabelle zeigt nämlich, dass die Kompetenzverluste nicht allein mit den Folgen der Pandemie zu erklären sind. Wenigstens zwei Dinge fallen auf: Erstens sind die die mittleren Kompetenzstände bundesweit und in vielen Ländern bereits zwischen den Jahren 2011 und 2016 gesunken. Und zweitens: In vielen Ländern und auch bundesweit liegen die Verluste zwischen 2016 und 2021 in ihrer Größenordnung teilweise deutlich über den durch die Pandemie erwarteten 16 Punkten. Im Lesen liegt der entsprechende Verlust in zehn Ländern bei 20 oder mehr Punkten, in Mathematik sind es fünf Länder mit Verlusten von 20 oder mehr Punkten. Führt man beide Auffälligkeiten zusammen, so ergibt sich der Eindruck, dass die enttäuschenden Befunde in 2021 zwar einerseits eine Konsequenz aus der Covid-19-Pandemie sind, zum anderen aber auch einen Trend fortsetzen, der sich bereits in den Veränderungen zwischen 2011 und 2016 angedeutet hatte.
Wer sind die Hauptleidtragenden dieses Negativtrends?
Die in erster Linie Leidtragenden dieses negativen Trends sind die sozial und kulturell benachteiligten Kinder. So zeigt der IQB-Bildungstrend zunehmende soziale und migrationsbedingte Disparitäten. Sozial benachteiligte Kinder und Kinder nicht-deutscher Herkunft erreichen deutlich niedrigere Mittelwerte und klumpen vor allem in der Risikogruppe, in der die Mindeststandards schulischer Bildung nicht erreicht werden. Im Lesen umfasst diese Risikogruppe im Jahr 2021 rund 19 Prozent der Schülerinnen und Schüler, 2016 waren es noch 12,5 Prozent. In Mathematik ist der Anteil von rund 15,5 Prozent in 2016 auf knapp 22 Prozent in 2021 gestiegen.
Welche anderen Schulleistungsstudien helfen bei der Bewertung und Einordnung des IQB-Trends?
Die Befunde aus dem aktuellen IQB-Bildungstrend lassen sich tatsächlich besser interpretieren, wenn weitere Ergebnisse aus anderen großen Schulleistungsstudien zu Rate gezogen werden, in denen ebenfalls Trends berechnet wurden. Vergleichsweise lange Trends lassen sich für die 15-Jährigen im Programme for international Student Assessment (PISA) beobachten; für die Lesekompetenzen seit 2000, für die mathematischen Kompetenzen seit 2003 (Reiss et al., 2018). Die Abbildung 1 zeigt diese Verläufe für 15-Jährige im deutschen Schulsystem. Für beide Testdomänen ist zusätzlich ein quadratischer Trend angepasst.
Unübersehbar hat der sogenannte PISA-Schock Maßnahmen im Bildungssystem ausgelöst, die zwischen den Jahren 2000 und 2012 einen fast permanenten Anstieg der Leistungen zur Folge hatten. Während sich dieser Trend in Mathematik bereits zwischen 2009 und 2012 abgeflacht hat, war dies im Lesen zwischen 2012 und 2015 der Fall. Danach ist es in beiden Bereichen zu einem Absinken der Mittelwerte gekommen, sichtbar wird dies auch noch einmal am angepassten negativen quadratischen Trend.
Für die Grundschule liegen aus der Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS 2019, Schwippert et al., 2020) seit 2007 Ergebnisse für die vierte Jahrgangsstufe in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften in Deutschland vor. Die letzte TIMSS-Erhebung fand ein Jahr vor den ersten Pandemie-bedingten Schulschließungen statt. Die Abbildung 2 zeigt die entsprechenden Befunde. Erkennbar stagnierten hier schon die Leistungen zwischen 2007 und 2011, um dann bis 2019 in beiden Domänen zu sinken. Wiederum lässt sich für beide Domänen ein negativer quadratischer Trend anpassen.
„Alle 16 Länder müssen sich die Frage stellen, ob die Bemühungen der letzten 10 Jahre in der Unterrichtsentwicklung und Förderung leistungsschwacher Kinder und Jugendlicher hinreichend waren.“
Prof. Dr. Olaf Köller
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem IQB-Bildungstrend?
Man tut sich keinen Gefallen, die aktuellen Befunde des IQB-Bildungstrends allein mit negativen Effekten der Schulschließungen in der Pandemie zu erklären. Die Abnahme der sprachlichen und mathematischen Kompetenzen in der vierten Jahrgangsstufe zwischen 2016 und 2021 folgt einem negativen Trend, der sich seit gut zehn Jahren abzeichnet. Er macht deutlich, dass es dem Schulsystem in Deutschland weder in der Primarstufe noch in der Sekundarstufe I gelingt, Lerngelegenheiten so zu gestalten, dass sehr große Teile der Schülerinnen und Schüler fachliche Standards schulischer Bildung erreichen. Die Pandemie hat diesen Trend verstärkt, letztendlich müssen sich die 16 Länder aber die Frage stellen, ob die Bemühungen der letzten 10 Jahre in der Unterrichtsentwicklung und Förderung leistungsschwacher Kinder und Jugendlicher hinreichend waren. Das klare Bekenntnis zur Implementation evidenz-basierter Förderprogramme im Deutsch- und Mathematikunterricht für die sogenannte Risikogruppe steht aus. Überhaupt fehlt in unserem Schulsystem eine klare Priorisierung dieser Gruppe bei der Mittelzuweisung. Immerhin nimmt das von der Bundesregierung geplante Startchancenprogramm diese Gruppe stärker ins Visier. Doch die dort geplanten baulichen Maßnahmen an Schulen werden ebenso wenig wie mehr Stellen für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter automatisch dafür sorgen, dass Kinder das Lesen, Schreiben und Rechnen besser lernen.
Es ist auch anzuerkennen, dass in den Ländern das Bewusstsein wächst, dass die sozialen und migrationsbedingten Disparitäten in den Kompetenzen nicht erst im Schulsystem, sondern schon in der vorschulischen Zeit entstehen. Aber auch hier fehlen das klare Bekenntnis zur schulvorbereitenden Funktion der Kindertagesstätten und die flächendeckende Implementation von evidenz-basierten sprachlichen und mathematischen Förderprogrammen für sozial und kulturell benachteiligte Kinder. Letztendlich sind es überholte pädagogische Konzepte der frühen Bildung, die sich teilweise auch in den Köpfen von Politikerinnen und Politikern halten, die dazu führen, dass erhebliche Anteile unserer Kinder und Jugendlichen nicht systematisch auf die Schule vorbereitet und erfolgreiche Bildungskarrieren behindert werden.