Politische Bildung in der Grundschule: Warum sie früher beginnen sollte und wie sie gelingen kann

Grundschulkinder sind politisch kompetenter als gedacht – doch ungleich informiert. Professorin Simone Abendschön erklärt, warum und wie politische Bildung früh ansetzen sollte.

Politik schon in der Grundschule? Ist das nicht zu früh? Studien zeigen das Gegenteil: Grundschulkinder haben oft ein erstaunliches Verständnis für demokratische Prozesse und nehmen politische Ereignisse intensiv wahr. Prof. Simone Abendschön erläutert im Interview, welche Faktoren das politische Wissen von Kindern beeinflussen, welche Themen sich besonders für den Grundschulunterricht eignen und wie Lehrkräfte die politische Bildung stärken können – auch mit einfachen, praxisnahen Methoden.

Redaktion: ​Frau Professorin Abendschön, wie würden Sie den aktuellen Stand des politischen Wissens und Verständnisses von Grundschüler:innen in Deutschland beschreiben? 

Prof. Dr. Simone Abendschön: Forschungsergebnisse zeigen, dass Grundschulkinder in der Regel kompetenter sind, als oft angenommen wird. Ihre politischen Kenntnisse und ihr Verständnis hängen jedoch von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere vom familiären Umfeld und den individuellen kognitiven Voraussetzungen. Kinder starten nicht mit einem umfassenden politischen Wissen in die Grundschule. Dennoch zeigt sich, dass sie bereits in jungen Jahren politische Themen verstehen können, wenn sie sich damit beschäftigen. Grundschülerinnen und Grundschüler haben so oft bereits ein grundlegendes Verständnis von politischen Rollen und Institutionen. Sie wissen beispielsweise, dass Politikerinnen und Politiker Entscheidungen treffen und im Land bestimmen. Das detaillierte Wissen über demokratische Prozesse wie Bundestagswahlen oder Parteien variiert jedoch stark. Einige Erstklässlerinnen und Erstklässler wissen bereits, dass alle vier Jahre Wahlen stattfinden, der Bundestag den Kanzler oder die Kanzlerin wählt und welche Funktion Parteien haben, während andere damit kaum vertraut sind. Trotz dieser Unterschiede lässt sich feststellen, dass viele Kinder bereits ein grundlegendes Verständnis für Demokratie haben und entsprechende Werte und Normen unterstützen. Dies bietet eine wichtige Grundlage, auf der die schulische politische Bildung aufbauen sollte. Studien belegen, dass eine gezielte Auseinandersetzung mit politischen Inhalten im Grundschulunterricht zu einem Kompetenzgewinn führen kann. 

Redaktion: Wie unterscheidet sich das politische Verständnis von Grundschüler:innen im Vergleich zu vorherigen Generationen?

Abendschön: Ein wesentlicher Unterschied zu früheren Generationen besteht in der medialen Präsenz politischer Inhalte. Während es vor 30 oder 40 Jahren noch geschützte Räume gab, in denen Kinder wenig mit Weltpolitik in Berührung kamen, ist dies heute kaum mehr der Fall. Durch Smartphones, Social Media und allgemein verfügbare digitale Inhalte sind politische Informationen schon früher allgegenwärtig. Kinder nehmen diese Inhalte auf, können sie jedoch oft nicht selbstständig einordnen.

Redaktion: Welche Faktoren sind entscheidend dafür, wie gut die politische Bildung bei Grundschüler:innen ausgeprägt ist?

Abendschön: Aus der Forschung mit Erwachsenen wissen wir, dass Bildung, sozialer Status und finanzielle Ressourcen oft einen starken Einfluss darauf haben, wie viel politisches Wissen und Partizipationsbereitschaft jemand erwirbt – und das setzt sich auch bei den Kindern fort. Unsere Studien zeigen, dass Kinder aus privilegierteren Elternhäusern tendenziell mehr über Politik wissen. Das liegt unter anderem daran, dass in diesen Familien häufiger über politische Themen gesprochen wird. Kinder haben so mehr Gelegenheiten, sich mit Politik auseinanderzusetzen und Wissen mitzunehmen. Neben dem sozialen Hintergrund spielt auch das Geschlecht nach wie vor eine Rolle. In unseren Studien sehen wir immer wieder, dass Jungen in bestimmten Bereichen mehr politisches Wissen haben als Mädchen. Sie geben zudem häufiger an, sich für Politik zu interessieren. Das führen wir auf geschlechtsspezifische Sozialisationsmuster zurück, die offenbar nach wie vor bestehen. Ein dritter wichtiger Faktor ist, ob das Kind mit oder ohne Migrationshintergrund aufwächst. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Kinder, deren Eltern oder Großeltern aus einem anderen Land stammen, oft weniger über das politische System in Deutschland wissen als Kinder aus Familien, die seit Generationen hier leben. Des Weiteren hängt politisches Wissen generell auch mit kognitiven Kompetenzen zusammen. In unseren Befragungen bitten wir Kinder oft, ihre schulischen Fähigkeiten einzuschätzen, zum Beispiel, wie gut sie lernen können. Dabei zeigt sich eine klare Korrelation: Kinder mit einem hohen akademischen Selbstkonzept – also mit dem Gefühl, in der Schule kompetent zu sein – verfügen auch über mehr politisches Wissen. Sie nehmen in diesem Bereich offenbar mehr auf und setzen sich intensiver mit politischen Themen auseinander.

„Die Idee, Kinder seien für Politik noch zu jung oder sollten damit nicht „belastet“ werden, geht an der Realität vorbei. Diese Themen erreichen sie ohnehin – nur eben oft ungefiltert und unstrukturiert.“

Prof. Dr. Simone Abendschön

Redaktion: Ihre Forschungsergebnisse legen nahe, dass politische Bildung bereits im Grundschulalter vermittelt werden kann und sollte. Warum erachten Sie das als wichtig?

Abendschön: Ein zentrales Argument ist die angesprochene soziale Verzerrung, die wir in politischen Wissensbeständen und manchen politischen Einstellungen beobachten. Wenn politische Bildung frühzeitig und systematisch in den Unterricht integriert wird, könnte sie dazu beitragen, diese Unterschiede zumindest teilweise auszugleichen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir uns nicht der Illusion hingeben sollten, Kinder wären von politischen Themen unberührt oder müssten davor geschützt werden. Das funktioniert in einer Gesellschaft, in der Nachrichten und Informationen allgegenwärtig sind, einfach nicht mehr. Die Idee, Kinder seien für Politik noch zu jung oder sollten damit nicht „belastet“ werden, geht an der Realität vorbei. Diese Themen erreichen sie ohnehin – nur eben oft ungefiltert und unstrukturiert. Eine Kollegin von mir, die früher als Erzieherin gearbeitet hat, erzählte mir beispielsweise, dass am 11. September 2001, als die Anschläge in den USA passierten, die Kinder in ihrer Kindergartengruppe mit vielen Fragen zu ihr kamen. Sie wollten genau wissen, was passiert war und warum. Kinder nehmen politische Ereignisse sehr wohl wahr und verarbeiten sie – oft intensiver, als wir denken. Gerade in Zeiten, in denen viele Menschen Unsicherheit und Ängste empfinden, ist es umso wichtiger, dass Kinder einen strukturierten und kindgerechten Zugang zu politischen Themen bekommen. Eine aktive und begleitete Auseinandersetzung mit Politik kann dazu beitragen, dass sie sich informiert und selbstwirksam statt machtlos oder überfordert fühlen.

Redaktion: Wie sollten Lehrkräfte Kriege oder Konflikte im Unterricht ansprechen?

Abendschön: Wie man mit politischen Krisensituationen in der Grundschule umgeht, hängt stark von der jeweiligen Klasse und den individuellen Hintergründen der Kinder ab. Gerade Themen wie Klimawandel, Krieg, Flucht oder Migration betreffen einige Kinder ganz unmittelbar. Es gibt heute viele altersgerechte Medienangebote, die Lehrkräfte nutzen können. Formate wie logo! oder andere kindgerechte Nachrichtensendungen leisten bereits eine professionelle Aufbereitung politischer Themen und helfen, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen, anstatt sie nur bruchstückhaft aus Erwachsenengesprächen oder Social Media mitzunehmen. Natürlich reicht das allein nicht aus. Gerade im Sachunterricht, in dem politische Bildung oft verortet ist, gibt es inzwischen zahlreiche Materialien, die Lehrkräfte bei der Vermittlung schwieriger Themen unterstützen können. Diese Materialien sind speziell für Kinder aufbereitet und helfen, schwierige Inhalte greifbar zu machen. Letztlich geht es darum, Kindern eine Sprache für das zu geben, was sie ohnehin wahrnehmen. Anstatt politische Krisen komplett aus dem Unterricht herauszuhalten, sollte man den Kindern altersgerechte Wege anbieten, um Fragen zu stellen und ihre Ängste oder Unsicherheiten zu äußern. So lassen sich Unsicherheiten abbauen und ein reflektierter Umgang mit politischen Ereignissen fördern.

Redaktion: Gibt es politische Themen und Inhalte, die sich besonders gut für die Grundschule eignen?

Abendschön: Ein bewährter Weg ist es, die Kommunalpolitik in den Unterricht einzubinden. Viele Grundschulen arbeiten bereits mit lokalen Akteuren zusammen, indem sie beispielsweise den Bürgermeister oder Vertreter:innen des Stadtrats in die Schule einladen. Ebenso können Exkursionen ins Rathaus dabei helfen, politische Abläufe greifbar zu machen und zu zeigen, wie Entscheidungen getroffen werden, die ihren Alltag betreffen. Solche Formate sind besonders wertvoll, weil sie Politik nicht abstrakt erscheinen lassen, sondern konkret erlebbar machen. Ein weiterer Ansatz ist die direkte Mitbestimmung der Kinder in ihrer eigenen Umgebung. Wenn es in der Schule oder im Wohnviertel etwas gibt, das die Kinder stört oder das sie verbessern möchten, kann das ein Ausgangspunkt für politisches Lernen sein. Ein klassisches Beispiel wäre die Forderung nach einer verkehrsberuhigten Straße vor der Schule. Die Kinder könnten in einem Projekt erarbeiten, welche Schritte notwendig wären, um diese Veränderung zu erreichen – von der Formulierung eines Anliegens bis hin zur Kontaktaufnahme mit der Stadtverwaltung. Solche praktischen Erfahrungen vermitteln nicht nur Wissen über politische Prozesse, sondern zeigen den Kindern auch, dass sie selbst Einfluss nehmen können. Auch außerschulische Beteiligungsformen wie Kinder- und Jugendparlamente spielen eine wichtige Rolle. Sie bieten Kindern die Möglichkeit, sich aktiv einzubringen und zu verstehen lernen, dass Politik nicht nur von Erwachsenen gemacht wird. Diese frühen Erfahrungen mit Partizipation können dazu beitragen, dass sich Kinder später stärker politisch engagieren.

„In einem Schulsystem, das ohnehin unter Zeit- und Ressourcendruck steht, ist es nicht einfach, politische Bildung als zusätzlichen Schwerpunkt zu etablieren.“

Prof. Dr. Simone Abendschön

Redaktion: Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Implementierung politischer Bildung in der Grundschule?​

Abendschön: Es gibt mehrere Herausforderungen, die berücksichtigt werden müssen. Eine der zentralen Schwierigkeiten ist sicherlich der ohnehin bereits stark gefüllte Lehrplan. Der Sachunterricht, in dem politische Bildung in der Regel verortet ist, deckt eine Vielzahl von Themen ab, darunter auch naturwissenschaftliche Inhalte. Das bedeutet, dass politische Bildung in Konkurrenz zu vielen anderen wichtigen Lernbereichen steht. In einem Schulsystem, das ohnehin unter Zeit- und Ressourcendruck steht, ist es nicht einfach, politische Bildung als zusätzlichen Schwerpunkt zu etablieren.

Ein weiteres Problem liegt in der Ausbildung der Lehrkräfte. Eine Kollegin aus Kassel hat dazu eine Studie durchgeführt, in der sie mit Grundschullehrkräften über ihre Haltung zur politischen Bildung gesprochen hat. Dabei zeigte sich, dass viele Lehrkräfte eine gewisse Zurückhaltung oder sogar Skepsis gegenüber diesem Thema haben. Ein Grund dafür ist, dass sie selbst oft keine spezifische Ausbildung im Bereich politische Bildung haben. Anders als in der Sekundarstufe gibt es für Grundschullehrkräfte keine passenden politikdidaktischen Studieninhalte. Dadurch fühlen sich einige unsicher, wie sie politische Themen kindgerecht vermitteln können.

Hinzu kommt eine gesellschaftliche Debatte darüber, inwieweit Kinder in diesem Alter überhaupt mit politischen Themen konfrontiert werden sollten. Es gibt durchaus Eltern – und auch Lehrkräfte – die befürchten, dass politische Bildung in der Grundschule eine unnötige Belastung für die Kinder darstellt. Diese Haltung ist nicht selten von der Annahme geprägt, dass Kinder von Politik „verschont“ bleiben sollten, weil es sich um ein schwieriges, möglicherweise überforderndes Thema handelt. Doch diese Sichtweise verkennt, dass Kinder ohnehin mit politischen Themen in Berührung kommen. Die Frage ist also nicht, ob sie Politik wahrnehmen, sondern wie sie dabei begleitet und unterstützt werden.

Redaktion: Wie können diese Hindernisse überwunden werden?

Abendschön: Um diese Herausforderungen zu bewältigen, wäre es wichtig, Lehrkräfte gezielt zu qualifizieren und ihnen praxisnahe Methoden an die Hand zu geben. Gleichzeitig braucht es eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz für das Thema, damit politische Bildung als selbstverständlicher Bestandteil schon in den Grundschuljahren betrachtet wird und nicht als Zusatzaufgabe, die je nach Zeit und Ressourcen mal mehr oder weniger berücksichtigt wird.

Redaktion: Sie haben zu einem Projekt geforscht, bei dem Grundschulkinder an einem Landtagsprogramm teilgenommen haben. Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?

Abendschön: Der Landtag Rheinland-Pfalz hat ein Programm für Grundschulkinder entwickelt, das eine spielerische Einführung in das Thema Parlament bietet. Die Kinder kamen mit ihren Lehrkräften in den Landtag und nahmen dort an einem Rollenspiel teil. Dabei wurde ihnen ein konkretes, altersgerechtes Thema aus dem Bereich Schule vorgegeben. Die Kinder übernahmen verschiedene Rollen und erlebten den politischen Entscheidungsprozess aus erster Hand: Sie berieten sich in Gruppen, formulierten Argumente, diskutierten im Plenum und stimmten schließlich über den Vorschlag ab. Das Ziel war es, ihnen auf spielerische Weise nahezubringen, wie ein Parlament funktioniert und wie politische Entscheidungen getroffen werden. Unser Forschungsteam begleitete das Programm und untersuchte, inwieweit sich das politische Wissen und Interesse der Kinder durch diesen Besuch veränderten. Direkt nach der Teilnahme konnten wir einen deutlichen Anstieg sowohl des Interesses als auch des Wissens über das politische System feststellen. Einige Wochen später haben wir nochmals getestet und festgestellt, dass zwar ein Teil des neu gewonnenen Wissens wieder abgebaut wurde – was völlig normal ist –, aber dennoch ein messbarer Lerneffekt bestehen blieb. Das Programm wurde von den teilnehmenden Kindern und Lehrkräften sehr positiv aufgenommen und als bereichernde Erfahrung bewertet. Außerschulische Lernorte wie der Landtag bieten hier eine gute Möglichkeit, Kinder aktiv einzubeziehen und ihr Verständnis für politische Prozesse zu fördern.

Redaktion: Wenn eine Lehrkraft oder Schulleitung politische Bildung stärker in ihrer Grundschule verankern möchte: Welche Botschaft würden Sie Ihnen mitgeben?

Abendschön: Der wichtigste Punkt ist zunächst, dass Lehrkräfte und Schulleitungen wissen: Sie stehen mit diesem Anliegen nicht allein da. Es gibt bereits zahlreiche Initiativen und Organisationen, die Schulen in diesem Bereich unterstützen können – gerade, wenn es um Themen wie Kinderrechte oder demokratische Mitbestimmung geht. Viele dieser Organisationen bieten nicht nur ausgearbeitete Unterrichtsmaterialien, sondern kommen auch direkt in die Schulen und führen Workshops mit den Kindern durch oder entwickeln vor Ort spezielle Programme. Das kann eine Entlastung für Lehrkräfte sein.

Redaktion: Frau Professorin Abendschön, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Professorin Simone Abendschön ist Politikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Methoden der Politikwissenschaft unter Berücksichtigung der Demokratie- und politischen Sozialisationsforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und hat sich intensiv mit der politischen Entwicklung von Kindern im Grundschulalter beschäftigt. In ihrer Forschung untersucht sie, wie frühkindliche Erfahrungen und das Umfeld die politischen Einstellungen und das Wissen von Kindern prägen. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt darauf, wie politische Bildung bereits in der Grundschule effektiv gestaltet werden kann, um demokratische Werte zu vermitteln und politisches Interesse zu wecken.