Profitieren Kinder mit Sprachdefiziten von einer späten Einschulung?

Wenn Kinder zum Schulstart nur bedingt Deutsch sprechen, können sie zurückgestellt werden. Wie sinnvoll ist eine späte Einschulung aus Sicht der Bildungsforschung?

In Deutschland werden Kinder mit sechs oder sieben Jahren eingeschult. In Ausnahmefällen werden sie zurückgestellt. Jamine Hartmann, Ben Ulmer und Dorothee Schwanauer machen in ihrem Gastbeitrag deutlich, dass eine konsequente Sprachförderung in der Kita und sprachliche Förderung in allen Schulfächern die gängige Praxis der Zurückstellung in vielen Fällen überflüssig machen würde.

In einem Interview mit der Rheinischen Post im Jahr 2019 sagte CDU-Politiker Carsten Linnemann: „Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen." Auch fünf Jahre später ist dieses Thema noch hochaktuell, da jedes fünfte Schulkind mit einer nicht-deutschen Muttersprache aufwächst. Doch wie berechtigt ist Linnemanns Forderung? Wie wirken sich unzureichende Deutschkenntnisse auf die schulische Laufbahn aus, und welche Auswirkungen hat eine Zurückstellung?

Warum Deutschkenntnisse für die Schullaufbahn entscheidend sind

Eine angemessene Sprachbeherrschung – insbesondere die Bildungssprache – ist der Schlüssel zum schulischen Erfolg. Bildungssprache unterscheidet sich von Alltagssprache durch ihren komplexen Satzbau und die angemessene Verwendung von Fachbegriffen. Gute Kenntnisse der Bildungssprache sind nicht nur für das Fach Deutsch wichtig. Große Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA und TIMSS zeigen, dass auch die Leistungen in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern stark davon abhängen, in welchem Maß ein Kind die deutsche Sprache beherrscht. Lehrkräfte und der Unterricht haben die Aufgabe, den Kindern Deutsch (als Bildungssprache) beizubringen. Diese Aufgabe wird besonders schwierig, wenn Kinder bei der Einschulung nicht einmal über grundlegende Sprachkenntnisse verfügen. Eine mögliche Maßnahme besteht darin, diese Kinder vom Schulbesuch zurückzustellen.

Was eine Zurückstellung bedeutet

In Deutschland bestimmen sowohl das Alter als auch die Schulfähigkeit, wann ein Kind eingeschult werden kann. Altersbezogen gilt die Schulpflicht unabhängig vom Bundesland für alle Kinder, die bis zu einem gesetzlich festgelegten Stichtag ihr sechstes Lebensjahr vollenden. Der Aspekt der Schulfähigkeit umfasst sozio-emotionale, kognitive und körperliche Befähigungen, die zum Einschulungszeitpunkt gegeben sein sollten. Eine Zurückstellung vom Schulbesuch wird dann erforderlich, wenn ein Kind die entsprechenden Voraussetzungen für eine fristgerechte Einschulung nicht mitbringt, obwohl es das schulpflichtige Alter erreicht hat. Für eine Zurückstellung müssen Kinder eine pädagogisch-psychologische Prüfung für die Schuleignung sowie eine Prüfung durch das Gesundheitsamt ablegen. Über die Bewilligung der Zurückstellung entscheidet die zuständige Grundschule.

Wie die Bundesländer mit Zurückstellungen umgehen

Trotz teilweise erheblicher Unterschiede in den einzelnen Bundesländern teilen Grundschulen bundesweit einen gemeinsamen Auftrag: Sie sollen ihre Schüler an komplexere Lernformen heranführen und dabei die individuellen Voraussetzungen jedes Kindes berücksichtigen. Dabei legen sie den Grundstein für eine grundlegende Bildung, insbesondere im sprachlichen und mathematischen Bereich. Wenn Kinder jedoch die Voraussetzungen für diese Grundbildung noch nicht erfüllen, liegt es in der Verantwortung der Grundschule, Einschulungszeiträume flexibel zu handhaben und gegebenenfalls Kinder vom Unterricht zurückzustellen.

Die genauen Bedingungen für eine Zurückstellung variieren zwischen den Bundesländern. In Bremen, dem Saarland und Nordrhein-Westfalen wird eine Zurückstellung nur bei gesundheitlichen Vorbehalten bewilligt. In Baden-Württemberg und den meisten anderen Bundesländern erfolgt die Zurückstellung, wenn erwartet wird, dass ein Kind mit seinen aktuellen Voraussetzungen dem schulischen Alltag nicht gewachsen sein wird. Bei einer Zurückstellung besteht in den meisten Bundesländern die Möglichkeit – in Berlin und Brandenburg die Pflicht – eine vorschulische Bildungseinrichtung wie einen Schulkindergarten, eine Vorklasse oder eine Grundschulförderklasse zu besuchen.

Wie sinnvoll sind Zurückstellungen?

Bestehende Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine spätere Einschulung im Alter von sieben statt sechs Jahren positive Auswirkungen auf die Leistungen in den Kernkompetenzen Deutsch und Mathematik haben kann, wobei die Langfristigkeit dieser Effekte nicht gesichert ist. Zurückstellungen scheinen dann sinnvoll für den Bildungsverlauf eines Kindes zu sein, wenn sie eine spätere Klassenwiederholung verhindern. Tatsächlich wiederholen zurückgestellte Schüler seltener eine Klasse. Diese eher positive Ansicht vertreten beispielsweise Puhani & Weber (2005).

Zudem sind zurückgestellte Kinder ein Jahr länger der Aufsicht durch eine Bildungsinstitution entzogen, sofern sie keinen Kindergarten besuchen, was bedeutet, dass Förder- und Nachhilfeunterricht ebenfalls erst ein Jahr später beginnen. Beim Eintritt ins Berufsleben sind zurückgestellte Kinder ein Jahr älter, arbeiten bis zum Rentenalter ein Jahr weniger und zahlen dadurch ein Jahr weniger in die Sozialkassen ein. Diese Folge scheint für den Einzelnen unerheblich, kann aber in der Summe einen deutlichen gesellschaftlichen Einfluss haben. Dies gilt besonders, wenn man bedenkt, dass dies möglicherweise auch auf die Eltern der Kinder zutrifft, wenn diese erst wieder berufstätig werden, sobald das Kind die Schule besucht.

Neutralere Stimmen, wie sie in der Untersuchung von Faust & Roßbach (2014) gehört werden können, kommen zu dem Schluss, dass es keinen Unterschied macht, ob Kinder mit sechs oder erst mit sieben Jahren eingeschult werden, wenn man die Eingangsvoraussetzungen kontrolliert. Den neutralen bis positiven Stimmen stehen jedoch auch einige negative Meinungen gegenüber. Fertig & Kluve (2005) sowie Shepard & Smith (1987) argumentieren, dass die Schule die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten fördert, während ein weiteres Jahr im (Schul-)Kindergarten nicht die gleiche stimulierende Wirkung haben kann.

Die Zurückstellung garantiert den Kindern auch keine Verbesserung ihrer Leistung, wenn sie schließlich in der Schule sind. Neben den traditionellen Leistungsmaßen beeinflussen Zurückstellungen auch die Einschätzungen der Kinder durch die Lehrkräfte negativ. Zurückgestellte Kinder werden eher als ängstlich eingeschätzt und ihre sozialen Kompetenzen werden niedriger bewertet als bei fristgerecht eingeschulten Kindern.

Kita oder Schule: Wo gelingt Sprachförderung besser?

Es gibt viele Gründe dafür, Kinder möglichst früh und intensiv der neuen Sprache auszusetzen, gemäß dem Motto: „Viel hilft viel“. Allerdings reicht es nicht aus, lediglich den Kontakt zur Zweitsprache zu erhöhen, um Defizite bei Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache auszugleichen. Die Qualität der Förderung ist entscheidend, so die Position des NICHD - Early Child Care Research Network (2005). Es gibt vielfältige Möglichkeiten zur Förderung, doch keine ist vollständig empirisch belegt, und es besteht weder innerhalb der Wissenschaft noch zwischen Wissenschaft und Praxis ein Konsens darüber, welche Maßnahmen am besten wirken. Klar ist jedoch, dass frühe Sprachförderung zu den zentralen Aufgaben von Kindertagesstätten gehört, und das Schlagwort der letzten Jahre ist die alltagsintegrierte Sprachförderung.

Alltagsintegrierte Sprachförderung

Im Kern bedeutet alltagsintegrierte Sprachförderung, dass Kinder die deutsche Sprache „nebenher“ erlernen. Anders als bei der additiven Sprachförderung, die einer festen Struktur folgt und vom restlichen Gruppengeschehen abgetrennt ist, soll hier die Sprache im direkten Austausch, im freien Spiel und in der alltäglichen Kommunikation erworben werden. Damit pädagogische Fachkräfte als Sprachvorbilder für eine Zweitsprache dienen können, müssen sie fundierte Kenntnisse spezifischer Sprachförderstrategien haben (Definition nach Metzler, 2018).

Doch was passiert, wenn ein Kind niemals einen (deutschen) Kindergarten besucht hat? Der Unterschied zwischen Bedarf und Angebot an Kitaplätzen ist gravierend. Jede fünfte Familie (21 Prozent) mit Kindern zwischen einem und drei Jahren bekommt keinen Kitaplatz, obwohl sie Bedarf hat. Bei Familien, die zu Hause kein Deutsch sprechen, liegt der Anteil ungedeckten Bedarfs sogar bei fast 40 Prozent. Auch wenn diese Lücke in der Betreuung ab drei Jahren etwas kleiner wird, bleibt es dabei, dass Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, benachteiligt sind. Sie besuchen seltener einen Kindergarten, und der Anteil ungedeckten Bedarfs ist ebenfalls größer als bei Kindern mit deutscher Familiensprache. Sprachförderung bleibt daher auch an den (Grund-)Schulen ein brisantes Thema.

Was wir von Kanada und Singapur lernen können

Nicht nur in internationalen Vergleichsstudien belegen Kanada und Singapur Spitzenplätze, auch im Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit unzureichenden Sprachkenntnissen können sie als Positivbeispiel hervorgehoben werden.

In Kanada liegt die Entscheidungsmacht im Bildungsbereich bei den einzelnen Provinzen, die jedoch meist einen ähnlichen Ansatz verfolgen: Statt einer Zurückstellung liegt der Fokus darauf, diese Schülerinnen und Schüler in den regulären Unterricht zu integrieren und parallel Sprachförderung anzubieten. In der Provinz Alberta wird beispielsweise das Programm „English as an Additional Language“ (EAL) durchgeführt. Dabei erhalten betroffene Schülerinnen und Schüler zusätzlichen Englischunterricht, während Lehrkräfte mit Informationen und Werkzeugen ausgestattet werden, um Englisch als zusätzliche Sprache effizient zu vermitteln und die erzielte Sprachkompetenz zu messen.

Ein ähnlicher Ansatz wird auch in Singapur verfolgt: Dort gibt es unter anderem das „Learning Support Programme“ (LSP). Hier wird beim Schuleintritt geprüft, welche Kinder über unzureichende Sprachkenntnisse verfügen. Diese Kinder erhalten zusätzlich zum regulären Unterricht täglich eine halbe Stunde Sprachförderung in kleinen Gruppen, die von speziell ausgebildeten Lehrkräften durchgeführt wird.

Perspektiven für Deutschland

In Deutschland dienen die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) als Orientierung für die Länder und beinhalten Grundsätze zur erfolgreichen Stärkung der bildungssprachlichen Kompetenzen in der deutschen Sprache sowie Hinweise zur Umsetzung. Dazu gehören die Integration der Sprachförderung in den Elementarbereich und sprachliche Übungen in allen Schulfächern. Diese Empfehlungen liefern weder klare Argumente für noch gegen eine Zurückstellung, sondern betonen vielmehr, dass die sprachliche Förderung umfassend – in vorschulischen und schulischen Bereichen – angegangen werden muss. Die KMK rät, sich auf die pädagogische Kompetenz von Fachkräften zu konzentrieren und allen Beteiligten die Bedeutung der Bildungssprache näherzubringen.

Die Ganzheitlichkeit der KMK-Empfehlungen kann ihre Umsetzung erschweren, stärkt jedoch die Erkenntnis, dass das ″Wie" bei der Frage nach dem "Was" mitgedacht werden muss. Eine Maßnahme kann nur dann als sinnvoll betrachtet werden, wenn sie sich durch qualitativ hochwertige Förderung auszeichnet. Die Frage nach der Zurückstellung könnte an Bedeutung verlieren, wenn diese Empfehlungen konsequent umgesetzt werden. Dann würden Kinder sowohl im Elementarbereich als auch an den Schulen seltener über unzureichende Sprachkenntnisse verfügen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass weniger Kinder für eine Zurückstellung in Frage kämen.