Rechnen im Team: „Gemeinsam Mathelernen muss stärker betont werden"
Prof. Dr. Christoph Selter erklärt im Interview, wie das Projekt Quamath Lehrkräfte unterstützt, Mathestunden in der Schule moderner, effektiver und kommunikativer zu gestalten

Der Mathematikunterricht steht in Deutschland vor großen Herausforderungen, wie die internationale Timss-Studie kürzlich wieder gezeigt hat: fehlende Spitzenleistungen, starke Kopplungen zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg sowie ein hoher Anteil leistungsschwacher Schüler:innen. Prof. Dr. Christoph Selter erklärt, wie das Projekt QuaMath die mathematische Bildung nachhaltig verbessern soll.
Redaktion: Herr Professor Selter, die Timss-Studie zeigt erneut Schwächen im deutschen Mathematikunterricht und naturwissenschaftlichen Fächern: ein hoher Anteil leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler, starke Kopplungen zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg sowie ein geringer Anteil an Spitzenleistungen. Worauf ist das Ihrer Einschätzung nach zurückzuführen?
Prof. Dr. Christoph Selter: Bevor wir uns auf die weniger erfreulichen Ergebnisse konzentrieren, möchte ich betonen, dass die Studie ein überraschend positives Ergebnis hervorgebracht hat: Entgegen den Erwartungen, die zum Beispiel aufgrund der IQB-Bildungsstudie bestanden, ist kein genereller Einbruch der Leistungen zu verzeichnen. Das ist erfreulich, auch wenn wir nicht kausal erklären können, woran das liegt. Ein möglicher Grund könnte sein, dass die Corona-Aufholprogramme tatsächlich gewirkt haben.
Timss-Studie
Die Timss-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study) untersucht seit 1995 alle vier Jahre die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen von Viert- und Achtklässlern weltweit. Sie wird von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführt und bietet umfassende Daten zu Schülerleistungen, Unterrichtsbedingungen und Bildungssystemen. Die Methodik umfasst standardisierte Tests, die auf international abgestimmten Curricula basieren, sowie Fragebögen für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte sowie für Schulleitungen, um Unterrichtsqualität, soziale Hintergründe und weitere Einflussfaktoren zu erfassen. In Deutschland nahmen 2023 rund 4500 Schülerinnen und Schüler sowie ihre Lehrkräfte aus einer repräsentativen Auswahl von Schulen teil. Weltweit beteiligten sich mehr als 60 Länder, wodurch TIMSS detaillierte internationale Vergleiche ermöglicht. Die Ergebnisse zeigen regelmäßig Stärken und Schwächen im deutschen Bildungssystem, insbesondere bei Basiskompetenzen, sozialen Disparitäten und der Förderung von Spitzenleistungen.
Redaktion: Trotzdem bleibt Deutschland hinter anderen Ländern zurück, insbesondere bei Spitzenleistungen. Wie kann das aufgeholt werden?
Selter: Wir sehen tatsächlich nur einen leichten Anstieg bei leistungsstarken Schülerinnen und Schülern, aktuell liegt der Anteil dieser Gruppe nur bei etwa 8,3 Prozent. Das ist im westeuropäischen Vergleich deutlich zu niedrig. Um hier Fortschritte zu erzielen, müssen wir in mehreren Bereichen ansetzen:
Basiskompetenzen stärken: Mathematik ist hierarchisch strukturiert. Ohne solide Grundlagen ist das Weiterlernen nicht möglich. Lehrkräfte benötigen Unterstützung, um diagnosegeleitet fördern zu können. Dabei geht es nicht darum, Kinder einfach mehr üben zu lassen, sondern passgenaue Förderangebote zu entwickeln. Das erfordert gute Aufgaben, klare Interpretationshilfen und gezielte Materialien.
Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler fördern: Diese Kinder fallen oft nicht auf, weil sie das Standardprogramm problemlos bewältigen. Hier brauchen Lehrkräfte Unterstützung, um anspruchsvollere Aufgaben zu entwickeln, die auch für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler eine Herausforderung darstellen und sie nicht bloß beschäftigen.
Sprachbildung im Mathematikunterricht: Mathematik ist eng mit Sprache verknüpft, sei es bei der Beschreibung von Strukturen oder bei der Kommunikation von Lösungswegen. Gerade Kinder aus benachteiligten Haushalten profitieren davon, wenn die Unterrichtssprache gezielt gefördert wird. Sprache ist nicht nur Mittel des Austauschs, sondern auch Medium des Denkens.
Redaktion: Sie sind Teil des Leitungsteams für das bundesweite Projekt QuaMath, das die Qualität der mathematischen Bildung in Deutschland nachhaltig verbessern soll. Welchen Ansatz verfolgt das Programm?
Selter: QuaMath steht für einen systematischen Ansatz zur Stärkung des Mathematikunterrichts über einen Zeitraum von zehn Jahren. Was QuaMath besonders macht, ist schulstufenübergreifend die Kombination aus klaren Prinzipien wie Lernenden-Orientierung, Adaptivität oder Verstehensorientierung und einem umfassenden Netzwerkansatz.
QuaMath
QuaMath (Unterrichts- und Fortbildungs-Qualität in Mathematik entwickeln) ist ein von der Kultusministerkonferenz (KMK) initiiertes Programm, das die Qualität des Mathematikunterrichts in Deutschland nachhaltig verbessern soll. Im Zentrum von QuaMath stehen fünf zentrale Prinzipien, die einen modernen Mathematikunterricht prägen:
- Kognitive Aktivierung: Lernende werden zu aktivem und tiefgründigem Denken angeregt. Dies geschieht durch herausfordernde Aufgaben, die eigenständiges Denken fördern und die Anwendung von Wissen in neuen Kontexten ermöglichen.
- Verstehensorientierung: Der Aufbau tragfähiger Konzepte sowie die sichere Beherrschung von Strategien und Verfahren basieren auf tiefgehendem Verständnis. Lernende werden unterstützt, indem sie sich mit sinnstiftenden Situationen auseinandersetzen und verschiedene Darstellungen vernetzen.
- Durchgängigkeit: Mathematische Inhalte werden über die Schuljahre hinweg kontinuierlich vertieft und erweitert. Grundlegende Ideen und Darstellungsformen werden auf verschiedenen Niveaus wiederholt, um ein langfristiges Verständnis zu fördern.
- Lernenden-Orientierung & Adaptivität: Der Unterricht wird an die individuellen Lernstände der Schülerinnen und Schüler angepasst. Diagnosen ermöglichen es, den Unterricht flexibel zu gestalten und auf die Bedürfnisse der Lernenden einzugehen.
- Kommunikationsförderung: Die mathematische Kommunikation wird gezielt unterstützt. Durch den Austausch über mathematische Inhalte vertiefen Lernende ihr Verständnis und entwickeln zudem ihre Sprachkompetenzen weiter.
Redaktion: Wie wird QuaMath umgesetzt? Worauf legen Sie dabei Wert?
Selter: Ein vielfach empirisch belegter Schlüssel zum Erfolg liegt in der Arbeit in Schulnetzwerken: Drei bis fünf Lehrkräfte einer Schule – das sogenannte Schulteam – treffen sich regelmäßig mit Kolleginnen und Kollegen anderer Schulen, um voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu inspirieren. Diese Netzwerke brechen das "Einzelkämpfertum" auf, das in Deutschland leider immer noch vorherrscht.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Einbindung der Schulleitung. Ohne deren Unterstützung ist eine nachhaltige Implementierung kaum möglich. QuaMath bietet nicht nur praxisorientierte Materialien und konkrete Anregungen, sondern auch eine strukturierte Fortbildung für Multiplikatoren. Diese qualifizierten Lehrkräfte unterstützen ihre Kolleginnen und Kollegen dabei, innovative Ansätze direkt in den Unterricht zu übertragen.
Ein besonderer Fokus liegt darauf, dass die Lehrkräfte das Gelernte unmittelbar ausprobieren und reflektieren. Wir nennen das Praxiserprobungen. Nur wenn Lehrkräfte die Ideen mit ihrem eigenen Unterricht verbinden, werden sie langfristig wirksam. QuaMath schafft hier einen Balanceakt: Einerseits bietet es einen klaren konzeptionellen Rahmen, andererseits bleibt genug Flexibilität, damit die Ansätze an die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort angepasst werden können.
Redaktion: Sie sprachen Materialien an. Welche Rolle spielt der Einsatz von Lernmaterialien im Mathematikunterricht, insbesondere in der Grundschule?
Selter: Lernmaterialien sind in der Grundschule besonders wichtig, um mathematische Strukturen begreifbar zu machen. Dabei reicht es nicht, den Kindern einfach Material zur Verfügung zu stellen. Lehrkräfte müssen mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam untersuchen, wie das Material gezielt eingesetzt werden kann. Beispielsweise sollten sie besprechen, wie ein Hunderter-Punktefeld verwendet wird, um Additionen anschaulich darzustellen, oder wie eine Hunderter-Tafel Muster und Zusammenhänge sichtbar macht. Dieser aktive Austausch zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern macht das Lernen wirklich greifbar und hilft, mathematische Strukturen tiefer zu verstehen.
„Gemeinsames Sprechen, Verstehen und Arbeiten sind gerade im Mathematikunterricht entscheidend, um komplexe Inhalte nachhaltig zu verstehen.“
Prof. Christoph Selter
Redaktion: Ist dieser Austausch etwas, das in Zeiten eigenständiger, individueller Arbeitsweisen der Lernenden auf der Strecke bleibt?
Selter: Ja, gemeinsames Lernen muss wieder stärker betont werden. In vielen Schulen gibt es eine Tendenz zur individuellen Förderung, bei der Schülerinnen und Schüler Lernpakete eigenständig bearbeiten. Dadurch kann jedoch schnell der essenzielle Austausch mit der Lehrkraft und den Mitschülerinnen und Mitschülern verloren gehen. Gemeinsames Sprechen, Verstehen und Arbeiten sind gerade im Mathematikunterricht entscheidend, um komplexe Inhalte nachhaltig zu verstehen. Es ist unverzichtbar, den Mathematikunterricht langfristig wieder stärker auf Gemeinschaft und Interaktion auszurichten, um sowohl leistungsschwächere als auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler besser zu fördern.
Redaktion: Braucht es aber für die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten in den sehr diversen Schulklassen heute nicht gerade auch dieses individuelle Arbeiten?
Selter: Es spricht nichts dagegen, dass Schülerinnen und Schüler auch individuell arbeiten und Zeiten haben, um sich alleine mit Dingen zu beschäftigen. Aber es wird problematisch, wenn das nahezu ausschließlich passiert und der einzige Moment der Gemeinsamkeit darin besteht, dass die Lehrkraft am Ende der Stunde fragt: „Welche Aufgabe war leicht und welche schwierig?“ – ohne dabei in einen fachlichen Austausch zu gehen. In QuaMath möchten wir deutlich machen, dass viele mathematische Aufgaben das Potenzial haben, auf unterschiedlichen Niveaus bearbeitet zu werden, während sie gleichzeitig einen gemeinsamen Kern aufweisen. Eine Aufgabe kann etwa so gestaltet sein, dass manche Kinder sie mit Material bearbeiten, andere im kleineren Zahlenraum bis 20 oder im größeren Zahlenraum bis 100. Unsere Grundprinzipien – insbesondere Lernenden-Orientierung und Adaptivität – unterstützen die Lehrkräfte dabei, solche Konzepte umzusetzen. Das Ziel ist, den Unterricht fachlich zu rahmen und einen gemeinsamen Kern herauszustellen, statt jedes Kind isoliert an individuellen Lernpaketen arbeiten zu lassen.
Was wir darüber hinaus dringend brauchen, sind jedoch mehr Ressourcen für gezielte Einzel- oder Kleingruppenförderung. Dies betrifft sowohl Kinder, die grundlegende Verstehenslücken haben, als auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, die herausgefordert werden müssen. Bei aller Notwendigkeit zur Individualisierung bleibt das Gespräch und die Kommunikation – sowohl zwischen Lehrkraft und Lernenden als auch zwischen den Schülerinnen und Schülern untereinander – ein zentrales Prinzip.
„Das größte Brett, das wir bohren müssen, ist jedoch die fachliche Kooperationskultur in deutschen Schulen. Oft beschränkt sich die Zusammenarbeit auf den Austausch von Materialien.“
Prof. Christoph Selter
Redaktion: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für Lehrkräfte und Schulleitungen, die Prinzipien von QuaMath in die eigene Schule und den eigenen Unterricht zu übertragen?
Selter: Die Hürden, denen Lehrkräfte und Schulleitungen begegnen, sind vielfältig. Ein oft genanntes Problem ist die Zeit: "Ich habe keine Zeit, das zu machen." Deshalb ist es wichtig, mit überschaubaren und niederschwelligen Angeboten zu starten, die Lehrkräften den Einstieg erleichtern. Ein weiterer Punkt ist die Überzeugung: "Warum sollte ich das machen?". Die Angebote müssen einen klaren Nutzen zeigen und Lehrkräfte davon überzeugen, dass es sich lohnt, neue Wege auszuprobieren.
Manchmal scheitern Initiativen auch daran, dass die Schulkultur oder das Kollegium nicht mitzieht: "Ich möchte das umsetzen, aber in meiner Schule wird das anders gesehen." Deshalb beziehen wir nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Schulleitungen und sogar die Schulaufsicht mit ein. Die Schulaufsicht kann durch Gespräche mit Schulleitungen Prozesse anstoßen und unterstützen.
Ein entscheidender Faktor ist die enge Verknüpfung von Theorie und Praxis. Lehrkräfte müssen die Theorie als relevant für ihren Unterricht erleben. Abstrakte Theorien oder lange Präsentationen mit Spiegelstrichen allein bewirken wenig. Stattdessen braucht es konkrete Anregungen und Materialien, die Lehrkräfte direkt in ihrem Unterricht ausprobieren können (Links zu Materialien unter diesem Interview, Anm. d. Red.). Diese Praxiserprobungen sind essenziell, um Weiterentwicklungen anzustoßen.
Das größte Brett, das wir bohren müssen, ist jedoch die fachliche Kooperationskultur in deutschen Schulen. Oft beschränkt sich die Zusammenarbeit auf den Austausch von Materialien. Wir müssen einen Schritt weitergehen: Lehrkräfte sollten gemeinsam über Unterricht nachdenken, reflektieren und ihn weiterentwickeln können. In Ländern wie England oder Japan gibt es eine ganz andere Kooperationskultur, die durch den Ganztagsbetrieb erleichtert wird. Lehrkräfte arbeiten dort ganztägig an der Schule und haben feste Zeiten für Kooperation. In Deutschland dagegen begegnet man sich oft nur flüchtig in Pausen. Hier gibt es noch viel zu tun, um eine nachhaltige Veränderung zu erreichen.
Redaktion: Herr Prof. Selter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Prof. Dr. Christoph Selter ist Professor für Mathematikdidaktik an der Technischen Universität Dortmund, Mitglied des Timss-Konsortiums und einer der Leiter des bundesweiten Projekts QuaMath. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Förderung mathematischen Verstehens, der Entwicklung diagnosegeleiteter Förderkonzepte sowie der Professionalisierung von Lehrkräften. Zudem beschäftigt er sich mit der Bedeutung von Sprache im Mathematikunterricht und der Gestaltung nachhaltiger Unterrichts- und Fortbildungskonzepte.