Risiko Klassenchats: was Schulen wissen müssen
Zwischen Hausaufgabenhilfe und Hassnachrichten: Erkenntnisse zum Thema digitale Kommunikation von Schulklassen

Klassenchats können sehr hilfreich sein für die Organisation und Zusammenarbeit in einer Schulklasse. Doch zugleich bergen sie große Risiken: Die ständige Erreichbarkeit, große Mengen an Nachrichten und unmoderierte Kommunikation können zu Konflikten, psychischer Belastung und Datenschutzproblemen führen. Ein Überblick auf Basis aktueller Studien.
Klassenchats, speziell WhatsApp-Gruppen einer Schulklasse, gehören inzwischen fest zum Alltag der meisten Schüler:innen. Spätestens ab der 5. Klasse besitzen fast alle Schüler:innen heute ein Smartphone. Und auf diesem ist WhatsApp zur wichtigsten Kommunikationsplattform aufgestiegen: Die JIM(Jugend, Internet, Medien)-Studie 2024 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest zeigt, dass 96 Prozent der 12- bis 19-Jährigen WhatsApp regelmäßig nutzen; die App sei “bei Jugendlichen praktisch auf jedem Smartphone zu finden”, heißt es in der Untersuchung. Schon die JIM-Studie 2022 zeigte, dass spätestens ab der fünften Klasse 4 von 5 Jugendlichen Teil eines Klassen-Gruppenchats sind, Tendenz steigend. Viele Lehrkräfte berichten, dass Schüler:innen ihren Klassenchat in Eigenregie gründen, selbst wenn Schulen offizielle Kommunikationswege anbieten.
Klassenchats – die praktischen Zeitfresser
Klassenchats sind zunächst einmal vor allem praktisch: In der Gruppe können schnell Informationen zu Hausaufgaben, Vertretungsplänen oder Klassenausflügen geteilt werden. Schüler:innen helfen einander bei Fragen zu Unterrichtsinhalten oder erinnern sich gegenseitig an Termine. Auch für den sozialen Zusammenhalt kann der Chat hilfreich sein, ein lustiges Bild oder Video kann das Gemeinschaftsgefühl stärken. Allerdings vermischen sich so im Chat schulische und private Inhalte auch oft, nicht selten geht es dann in den Nachrichten um Belangloses oder reine Unterhaltung. Ein stellvertretender Schulleiter berichtet im Bayerischen Rundfunk, dass in manchen Klassen bis spät in die Nacht pro Tag 500 bis 600 Chat-Nachrichten zusammenkommen.
Ein wachsendes Problem: Cybermobbing
Aktuelle Erhebungen zeigen, dass sich Cybermobbing, das systematische Verletzen, Bedrängen oder Bloßstellen Einzelner über digitale Kanäle unter Schüler:innen immer weiter verbreitet. Laut der Cyberlife-Studie 2024 waren 18,5 Prozent der mehr als 4200 befragten Schüler:innen im Alter von 7 bis 20 Jahren mindestens einmal Opfer von Cybermobbing-Angriffen, dieser Anteil ist gegenüber 2022 (16,7 Prozent) nochmals merklich gestiegen.
Cybermobbing findet in 80 Prozent der Fälle im direkten sozialen Umfeld statt, oft innerhalb der Klasse. Laut der Sinus-Studie 2023/2024 erfolgen die meisten Cybermobbing-Angriffe über Instant-Messenger wie WhatsApp (77 Prozent) und damit weit häufiger als über öffentliche soziale Netzwerke wie TikTok oder Instagram (45 Prozent).
Cyberlife-Studie
Die Cyberlife-Studie ist eine bundesweite Online-Befragung, die seit 2013 regelmäßig vom Bündnis gegen Cybermobbing durchgeführt wird und Schüler:innen, Eltern sowie Lehrkräfte zu Cybermobbing befragt. Die aktuelle fünfte Studie (2024) basiert auf über 4200 Schüler-, 1.000 Eltern- und 630 Lehrer:innen-Interviews und untersucht Umfang, Motive, Folgen und Präventionsmaßnahmen rund um Cybermobbing. Ziel ist es, das Phänomen umfassend zu erfassen und Handlungsempfehlungen für Schulen und Politik abzuleiten.
Typische Mobbing-Formen im Chat sind etwa abwertende Kommentare, Läster-Nachrichten über Mitschüler:innen, das Verbreiten peinlicher Fotos oder das gezielte Ausgrenzen einzelner Schüler:innen. Betroffen sind dabei oft Schüler:innen, die kein Smartphone haben oder denen die Nutzung bestimmter Apps verboten ist, aber auch jene, die von den Gruppen-Admins bewusst nicht eingeladen oder hinausgeworfen werden. Das soziale Gefüge der Klasse wird so in den Chat verlängert, Ausschlüsse im Chat bedeuten Ausgrenzung im realen Schulalltag. Die Folgen können drastisch sein: Fast ein Viertel der cybergemobbten Schüler:innen gab an, schon Suizidgedanken gehabt zu haben, ein Achtel griff aus Verzweiflung zu Alkohol oder Tabletten (Cyberlife-Studie 2024).
Die Studienlage macht deutlich, dass aktive Prävention und Intervention seitens der Schulen entscheidend sind. Daran hapert es allerdings vielerorts: Nur 28 Prozent der Schüler:innen gaben in der Cyberlife-Studie an, dass es an ihrer Schule ein Unterstützungsteam für Mobbing-Opfer gibt, dieser Wert ist in den letzten zwei Jahren sogar rückläufig (minus 9 Prozentpunkte). Gleichzeitig beklagen die meisten Jugendlichen, dass ihre Schule präventiv viel zu wenig gegen Cybermobbing unternimmt. Dabei würde es helfen: Schulen, die offensiv gegen Cybermobbing vorgehen (etwa durch Schulungen, klare Regeln und Ansprechpersonen), haben das Problem deutlich besser im Griff, analysieren die Autor:innen der Cyberlife-Studie. Sie verfügen über aufmerksame Lehrkräfte und greifen oft auch bei anderen diskriminierenden Verhaltensweisen wie Rassismus konsequenter durch.
Psychische Belastung und Gruppendruck
Neben direktem Mobbing bergen Klassenchats auch subtilere psychische Belastungen. Die permanente Flut an Nachrichten kann für Schüler:innen stressig und vereinnahmend sein. Viele Jugendliche fühlen sich quasi rund um die Uhr erreichbar. Der soziale Druck, die „Fear of missing out“ (FOMO) – die Angst, etwas zu verpassen – ist hoch. Ist eine Nachricht erst gelesen, entsteht wiederum der Druck, möglichst prompt zu antworten.
Die vielen und zum Teil spät nachts eintreffenden Nachrichten stellen Kinder und Jugendliche vor erhebliche Herausforderungen. Wissenschaftler warnen inzwischen vor den Folgen exzessiver Social-Media- und Messenger-Nutzung bei Jugendlichen. Eine aktuelle Langzeitstudie der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums in Hamburg-Eppendorf ergab, dass es bei mehr als 25 Prozent der 10- bis 17-Jährigen “eine riskante oder pathologische Nutzung sozialer Medien” gibt. Der Anteil jener mit eindeutig suchtartigem Nutzungsverhalten liegt bei rund 4,7 Prozent. Dieser Wert hat sich seit 2019 mehr als verdoppelt.
Datenschutz und Privatsphäre
Ein oft unterschätzter Aspekt von Klassenchats sind Risiken für Datenschutz und Privatsphäre. Der weit verbreitete Messenger WhatsApp steht dabei besonders in der Kritik, da er nicht DSGVO-konform ist und personenbezogene Daten an den US-Mutterkonzern Meta (Facebook) weitergibt. In einigen Bundesländern ist Lehrkräften daher ausdrücklich verboten, WhatsApp für die dienstliche Kommunikation mit Schüler:innen zu nutzen. Baden-Württemberg hat sogar noch weitgehender verfügt, dass Lehrer:innen prinzipiell nicht mit Schülern über Social Media oder Messenger-Dienste kommunizieren dürfen. Dahinter stehen rechtliche Befürchtungen: Sobald Lehrkräfte offizielle schulische Informationen über solche Kanäle schicken, bewegen sie sich in einer Grauzone oder gar Illegalität, Datenschutzstandards sind nicht gewährleistet.
In rein von Schülerinnen und Schülern organisierten Klassengruppen ohne Lehrkräfte fehlt oft jegliche Sensibilisierung für den Datenschutz. Handynummern aller Mitglieder sind für die ganze Gruppe sichtbar, ebenso Profilbilder und Status. Vielen Kindern ist nicht bewusst, dass sie durch unbedachtes Teilen persönlicher Daten im Chat Risiken eingehen – beispielsweise wenn Adressen, Telefonnummern oder Fotos von Klassenkameraden ohne Erlaubnis weitergereicht werden. Auch das Recht am eigenen Bild wird dabei oft missachtet: Ein lustiges Pausenfoto wird schnell in die Gruppe gepostet, ohne die Abgebildeten vorher zu fragen, ob sie einverstanden sind. Im schlimmsten Fall geraten solche Bilder in falsche Hände oder werden außerhalb der Gruppe weiterverbreitet.
Illegale Downloads, Hate Speech, Gewaltvideos: Inhalte wie diese sind nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch ein Fall für Datenschutz und Strafrecht. In einem öffentlichen Elternbrief berichtet ein Medienbeauftragter einer Schule in Hessen von rassistischen, extremistischen, gewaltverherrlichenden und pornographischen Inhalten, darunter auch Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige. Solche Inhalte in einem Chat zu teilen erfüllt mitunter Straftatbestände und kann für alle Beteiligten juristische Konsequenzen haben, selbst für diejenigen, die „nur“ Zuschauer sind.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ab welchem Alter Kinder solche Dienste überhaupt nutzen sollten. WhatsApp selbst setzt in seinen AGB ein Mindestalter von 16 Jahren fest (mit elterlicher Zustimmung ab 13 Jahren). Die Realität sieht jedoch anders aus: Bereits viele Grundschüler nutzen WhatsApp im Freundeskreis, oft mit Billigung der Eltern.
Fünf Wege zu mehr Sicherheit im Klassenchat
1. Prävention durch Aufklärung und Regeln: Ab Klasse 5 – wenn meist die ersten Klassenchats entstehen – könnten Informationen etwa zu Chat-Regeln, Netiquette und Cybermobbing Schüler:innen wichtige Orientierung geben. Ein entscheidender Schritt ist dabei, gemeinsam mit den Schüler:innen klare Regeln für den Klassenchat zu erarbeiten. Studien zeigen, dass Regeln eher akzeptiert und eingehalten werden, wenn die Jugendlichen sie mitgestalten. Mögliche Chat-Regeln könnten dabei sein: Niemanden ausschließen, keine Beleidigungen, keine privaten Streitereien im Gruppenchat, keine personenbezogenen Daten oder Bilder ungefragt teilen. Regelmäßiges Nachsteuern ist sinnvoll – Lehrkräfte können etwa alle paar Monate nachfragen, ob die Chatregeln eingehalten werden, und bei Bedarf Anpassungen mit der Klasse beschließen.
2. Medienkompetenz fördern: Die Vermittlung von Medienkompetenz ist entscheidend, um Schüler:innen zu befähigen, verantwortungsvoll mit Klassenchats umzugehen. Konkrete Inhalte könnten sein: Was tun bei Cybermobbing? Wie reagiere ich, wenn ich oder andere im Chat angegriffen werden? Wie schütze ich meine Privatsphäre? Viele Bundesländer stellen hierzu Material und Projekte bereit, etwa Workshops zu Cybermobbing-Prävention oder Angebote wie Digitale Helden. Die Schule kann Elternabende nutzen, um über Chancen und Gefahren von Klassenchats zu informieren und gemeinsame Leitlinien zwischen Schule und Erziehenden abzustimmen. Eine verantwortungsvolle Kooperation zwischen Eltern und Schule ist entscheidend, unterstreichen Experten wie etwa Prof. Dr. Rudolf Kammerl.
3. Anlaufstellen und Peer-Unterstützung schaffen: Jede Schule sollte Ansprechpersonen und Prozesse für den Fall von digitalen Konflikten haben. In jeder Schule sollte klar geregelt sein, wer bei digitalen Konflikten als Ansprechperson zuständig ist und wie im Ernstfall vorgegangen wird. Wenn Mobbing oder heikle Vorfälle im Chat auftreten, müssen Schüler:innen wissen, an wen sie sich vertrauensvoll wenden können. Schulen können zum Beispiel ein Mobbing-Interventionsteam etablieren, das aus Schulsozialarbeiter:innen und Vertrauenslehrkräften besteht. Erfolgversprechend ist auch der Ansatz, Peers einzubinden: Viele Schulen bilden inzwischen Medienscouts aus, also ältere Schüler:innen, die jüngeren als Ansprechpartner bei Problemen mit der digitalen Kommunikation zur Seite stehen. Oft vertrauen sich Jugendliche lieber Gleichaltrigen an; Medienscouts können niedrigschwellig helfen oder nötigenfalls Erwachsene hinzuziehen. Zudem berichten Schulen von guten Erfahrungen mit Klassenchats in Begleitung älterer Schüler:innen oder Tutor:innen, die moderierend mit in der Gruppe sind. Zudem berichten Schulen von guten Erfahrungen mit Klassenchats, die von älteren Schüler:innen oder Tutor:innen begleitet werden, welche beratend und in Konfliktfällen moderierend zur Seite stehen.
4. Handyzeit begrenzen: Schulen können außerdem praktische Tipps und Vereinbarungen fördern, um die digitale Dauererreichbarkeit einzudämmen. Zum Beispiel sollten Schüler:innen ermutigt werden, Gruppenchats nachts stummzuschalten oder das Handy ganz auszuschalten. Hier können Klassenlehrkräfte mit gutem Beispiel vorangehen und erklären, dass sie selbst ab einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr auf Nachrichten reagieren, das nimmt den Erwartungsdruck. In vielen Familien hat es sich bewährt, abends eine handyfreie Zeit oder eine „Handy-Abgabe“ für die Nacht zu vereinbaren. Im Schulalltag können klare Handynutzungsregeln helfen (etwa die Nutzung nur in Pausen oder nach Unterrichtsschluss), um die Ablenkung durch Chats während des Unterrichts zu minimieren. Einige Bundesländer haben bereits Handyverbote auf dem Schulgelände erlassen oder diskutieren diese. Eine Studie der Universität Augsburg (2024) plädiert für ein solches Verbot und bescheinigt Schulen „ohne Handy“ bessere Leistungen und mehr Wohlbefinden der Schüler.
5. Alternative, sichere Kommunikationswege nutzen: Für organisatorische Absprachen innerhalb der Schule empfiehlt es sich, offizielle Kanäle zu etablieren, die den Datenschutz wahren. Einige Schulen setzen inzwischen auf datenschutzkonforme Messenger wie Signal und geschlossene, DSGVO-konforme Plattformen, wie etwa kostenpflichtige Schulmessenger wie SchoolFox, EduPad oder das Lernmanagementsystem Moodle. Dort können Lehrkräfte bei Bedarf Chats einrichten, die moderiert und auf schulische Themen begrenzt sind. Solche Plattformen bieten oft Funktionen wie die Einschränkung der Schreibrechte (etwa nur Lehrer dürfen Ankündigungen posten), was die Informationsflut eindämmt. Natürlich werden informelle WhatsApp-Gruppen damit nicht vollständig verschwinden. Doch wenn wichtige schulische Infos über offizielle Wege laufen, verliert der inoffizielle Klassenchat etwas an Druck. Kein Schüler muss Angst haben, eine entscheidende Mitteilung zu verpassen, nur weil er nicht in der WhatsApp-Gruppe ist.
Fazit: Digitale Kommunikation proaktiv gestalten
Klassenchats sind ein nützliches Tool, das potentiell große Probleme mit sich bringt, aber aus der heutigen, digital geprägten Welt nicht mehr wegzudenken ist. Einerseits erleichtern die Chatgruppen Kommunikation und können den Klassenzusammenhalt stärken; andererseits bergen sie erhebliche Risiken wie Cybermobbing, Ausgrenzung, Stress und Datenschutzverstöße. Studien der letzten Jahre zeichnen ein klares Bild: Ohne präventive Maßnahmen können Klassenchats zu einem ungeregelten „rechtsfreien Raum“ werden, der einzelne Schüler:innen und die Klasse als Ganzes enorm belastet. Schulen tun gut daran, dieses Thema nicht allein den Eltern oder den Schüler:innen zu überlassen. Vielmehr sollten Schulleitungen und Lehrkräfte proaktiv Leitlinien etablieren, medienpädagogisch aufklären und bei Problemen entschlossen eingreifen. So können die Risiken von Klassenchats minimiert werden, während ihre nützlichen Aspekte erhalten bleiben.





