Schreiben ist mehr als Tippen – Die Bedeutung der Handschrift im digitalen Zeitalter

Die Handschrift bietet immer noch Vorteile für den Schriftspracherwerb – aber sollten Schüler:innen nicht ebenso früh das Tippen lernen?

Wir schreiben immer häufiger am Computer – doch in der Schule hat die Handschrift weiterhin Vorrang. Wie zeitgemäß ist es, dass Grundschüler:innen zuerst mit der Hand schreiben lernen, bevor sie tippen? Prof. Michael Becker-Mrotzek, ehemaliger Direktor des Mercator-Instituts, erklärt im Interview, warum die Handschrift nach wie vor wichtig ist und weshalb das Verfassen längerer Texte trotz Zeichenbegrenzung in sozialen Medien unverzichtbar bleibt.

Redaktion: Herr Prof. Becker-Mrotzek, wir führen dieses Interview digital, verschriftlicht wird es am Computer. Warum ist das Erlernen der Handschrift im digitalen Zeitalter noch relevant?

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek: Dafür sprechen drei einfache Gründe: Erstens erfordert das handschriftliche Schreiben keine technischen Hilfsmittel. Dadurch gewinnt die Handschrift eine Robustheit, die sie selbst im digitalen Zeitalter einzigartig macht.

Zweitens unterstützt die Handbewegung beim Schreiben das Verständnis für den Zusammenhang zwischen Lauten und Buchstaben. Kinder, die Buchstaben mit der Hand schreiben, merken sich deren Aussehen leichter. Das fördert die Entwicklung der Schriftsprache. Beim Tippen entfällt diese motorische Komponente, da jede Bewegung gleich und lediglich das Drücken einer Taste erforderlich ist.

Drittens sind Kinder unterschiedliche Lerntypen und benötigen daher verschiedene Zugänge zum Schreiben. Während das handschriftliche Schreiben eine wichtige Rolle spielt, sollte deshalb auch das Tippen frühzeitig gefördert werden.

Redaktion: Ab welcher Klassenstufe sollten Kinder lernen auch mit der Tastatur zu tippen?

Becker-Mrotzek: Damit sollten Lehrkräfte parallel zur Handschrift bereits in der 1. Klasse beginnen. Wichtiger als die gewählte Technik ist jedoch, dass die Zusammenhänge verständlich vermittelt werden und ausreichend Gelegenheiten zum Üben bestehen. Entscheidend ist, frühzeitig eine flüssige Schrift zu entwickeln – ob dies durch das Schreiben per Hand oder mit der Tastatur geschieht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Redaktion: Von der lateinischen über die vereinfachte Ausgangsschrift bis hin zur Druckschrift kommen dafür einige Schrifttypen in Frage – welche Schrift sollten Grundschüler:innen heute lernen, um flüssig zu schreiben?

Becker-Mrotzek: Beim Schreiben geht es unter anderem darum, Wörter und Sätze schnell, orthografisch korrekt und mit möglichst geringem Aufwand zu notieren. Dafür sind sowohl sprachliche als auch motorische Fähigkeiten erforderlich. Studien zeigen, dass unverbundene Schriften, wie die Druckschrift, diesen Prozess erleichtern. Kinder mit einer verbundenen Schrift schreiben nachweislich am langsamsten. In unserem Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) empfehlen wir daher, die Druckschrift als Erstschrift einzuführen, da sie klare Strukturen bietet. Auf die verpflichtende Einführung einer verbundenen Schrift, also einer Schreibschrift, kann verzichtet werden. Stattdessen sollten Kinder gezielt dabei unterstützt werden, aus der Druckschrift heraus eine individuelle, teilverbundene, gut lesbare und flüssige Handschrift zu entwickeln.

Redaktion: Inwiefern beeinflusst die Art des Schreibens, Handschrift oder Tippen, das Verständnis von Texten oder das Lernen neuer Inhalte? 

Becker-Mrotzek: Die meisten Studien zu diesem Thema wurden mit Studierenden durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass diejenigen, die ihre Mitschriften am Computer anfertigen, in der Regel mehr notieren, da sie schneller tippen können. Hingegen müssen Studierende, die von Hand schreiben, das Gehörte zunächst kognitiv verarbeiten, da sie langsamer schreiben und sich daher stärker auf das Wesentliche konzentrieren. Es gibt Hinweise darauf, dass dies zu einer besseren Verarbeitung und längerfristigen Behaltensleistung führen kann.

Allerdings existieren auch Studien, die zu gegenteiligen Ergebnissen kommen – die Forschungslage ist hier nicht eindeutig. Zudem ist davon auszugehen, dass sich diese Effekte mit zunehmender Übung im Umgang mit digitalen Geräten angleichen, insbesondere in jüngeren Altersgruppen, die mit dieser Technik aufwachsen. 

Redaktion: Wie steht es um die oft erwähnte Annahme, dass das Schreiben von Hand kreativer macht?

Becker-Mrotzek: Mir ist keine Studie bekannt, die einen direkten Zusammenhang zwischen handschriftlichem Schreiben und mehr Kreativität nachgewiesen hat. Was wir jedoch aus umfangreichen Studien wissen, ist, dass Notizen nach wie vor häufig handschriftlich gemacht werden, da sich farbliche Markierungen und Skizzen einfacher von Hand umsetzen lassen. Das eigentliche Schreiben und Verfassen von Texten erfolgt jedoch meist am Computer.

Redaktion: Inzwischen gibt es auch für das Schreiben von Hand digitale Hilfsmittel wie Touch-Pens. Kann das Schreiben mit einem solchen Stift auf einem Tablet dieselben Vorteile wie das Schreiben mit Stift und Papier bieten?

Becker-Mrotzek: Der Widerstand - und damit die Haptik - ist bei einem Touch-Pen etwas anders als bei einem regulären Stift auf Papier, die Vor- und Nachteile sind jedoch noch nicht vollständig erforscht. In diesem Fall ist praktisches Experimentieren sicherlich sinnvoll. Lehrkräfte können schnell feststellen, ob Kinder mit dem Stift auf dem Tablet genauso gut schreiben können wie mit herkömmlichem Stift und Papier.

Redaktion: Wie sinnvoll ist es, in Schulen überhaupt noch lange Aufsätze schreiben zu lassen, wenn die alltägliche Kommunikation der Schüler:innen über WhatsApp oder Instagram eher in kurzen Beiträgen erfolgt?

Becker-Mrotzek: Das Schreiben hat eine wichtige kognitiv-epistemische Funktion. Wenn wir selbst Gedanken formulieren und schriftlich ausdrücken, behalten wir diese besser und verarbeiten sie tiefgehender. Das eigene Schreiben hilft uns außerdem, zu reflektieren, was einen qualitativ guten Text ausmacht. Besonders relevant wird dies, wenn generative KI wie ChatGPT zum Einsatz kommt. Nur wenn wir selbst in der Lage sind, zu schreiben, können wir gute Texte erkennen und sind nicht anfällig für grammatikalisch ansprechend klingende, aber inhaltlich schwache Argumente. Ich vergleiche das gerne mit dem Schwimmen, das man nur durch eigenes Üben erlernt und nicht durch einen Schwimmroboter.

Redaktion: Bleibt uns die Handschrift also auch in Zukunft erhalten?

Becker-Mrotzek: Ob die Handschrift langfristig erhalten bleibt, lässt sich derzeit schwer abschätzen. Schriftkritische Argumente gab es schon immer – von Platon bis Goethe, die überzeugt waren, dass allein die mündliche Kommunikation wirklich zählt. Doch ebenso, wie das Schreiben historisch das Sprechen nicht ersetzt hat, ist die Handschrift trotz digitaler Medien nicht verschwunden. Vielmehr erweitert sich unser Schreibrepertoire stetig.

Fest steht, dass die epistemische Funktion der eigenen Textproduktion nicht ersetzt werden kann. Das bedeutet: Um Erkenntnisse zu entwickeln und Inhalte tiefgehend zu verarbeiten, muss man selbst schreiben können. Gleichzeitig werden Schreibaufgaben zunehmend automatisiert, etwa durch generative Sprachmodelle. Die Auswirkungen dieser technologischen Entwicklungen auf die Handschrift und die Textproduktion sind noch nicht absehbar. Meine persönliche Einschätzung ist jedoch, dass uns die Handschrift erhalten bleibt, vor allem aufgrund ihrer Robustheit und ihrer Unabhängigkeit von technischen Hilfsmitteln.

Redaktion: Herr Professor Becker-Mrotzek, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek war Direktor des Mercator-Instituts, Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Universität zu Köln und Mitglied der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz.