Schulbereitschaft – was sie ausmacht und wie sie gefördert werden kann
Dr. Minja Dubowy vom DIPF erläutert die Grundkompetenzen für den Start in die Schullaufbahn und wie sie aufgebaut werden.
Wann ist ein Kind bereit für die Schule? Was braucht es, um das Lernen in der Schule zu beginnen? Wie stellt man das fest? Und wie kann man diese Grundkompetenzen fördern bei Kindern, die sie nicht im Elternhaus aufgebaut haben? Zu diesen und weiteren Fragen nimmt Dr. Minja Dubowy Stellung, die am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) zusammen mit Prof. Marcus Hasselhorn zum Thema Schulbereitschaft geforscht und publiziert hat.
Redaktion: Frau Dr. Dubowy, was genau ist eigentlich „Schulbereitschaft”?
Dr. Minja Dubowy: Schulbereitschaft beschreibt den Entwicklungsstand eines Kindes, der ihm ermöglicht, erfolgreich am Schulunterricht der ersten Klasse teilzunehmen. Früher ist dafür auch der Begriff Schulreife üblich gewesen. In der Wissenschaft ist man von diesem Begriff abgerückt, weil er ein biologisches Verständnis impliziert, also die Idee, das Kind „reife” allein aus sich selbst heraus. Heute hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Schulbereitschaft ein Prozess ist, der neben individuellen Merkmalen des Kindes auch sehr viele äußere Merkmale und Umwelteinflüsse umfasst, etwa wie stark ein Kind gefördert wird. Man kann im Prinzip auch nicht von Schulbereitschaft des Kindes per se sprechen, sondern von Schulbereitschaft im Hinblick auf die konkret vorhandenen Lern- und Fördermöglichkeiten an einer bestimmten Schule. Schulbereitschaft wird also heute immer mehr als Wechselspiel zwischen Schule, Kind und familiären Rahmenbedingungen verstanden. Nichtsdestotrotz wird die Schulbereitschaft im Rahmen der Einschulungsdiagnostik anhand bestimmter individueller Merkmale ermittelt, die laut empirischen Ergebnissen besonders starken Einfluss darauf haben, wie es die Anforderungen der Schule bewältigt.
Redaktion: Welche Merkmale sind das?
Dubowy: Es gibt bereichsübergreifende Merkmale, die sich allgemein auf die Schulbereitschaft des Kindes in allen Bereichen auswirken, und die bereichsspezifischen Merkmale, die spezielle inhaltliche Bereiche betreffen, etwa das Lesen, Schreiben oder Mathematik. Bei den bereichsübergreifenden Merkmalen haben wir an allererster Stelle die Sprache. Sie ist die zentrale Voraussetzung, um mit Lehrkräften und anderen Kindern zu interagieren, und um die Anforderungen zu verstehen, die im Unterricht gestellt werden. Sprachkompetenz ist auch wichtig, um eigene Bedürfnisse zu artikulieren und inhaltlich dem Lerngeschehen folgen zu können.
Bei den bereichsspezifischen Merkmalen haben wir zum Beispiel sogenannte Vorläuferfertigkeiten für das Lesen und Schreiben. Hier sind vor allem literale Basiskompetenzen wichtig, welche die Erfahrungen des Kindes mit Schrift und Sprache umfassen, etwa durch Vorlesen. Dazu kommen lautsprachliche Kompetenzen, vor allem die sogenannte phonologische Bewusstheit, also die Fähigkeit, Laute in Wörtern zu erkennen, Wörter in Laute zu zerlegen und Laute zu Wörtern zusammensetzen zu können.
„Eltern denken oftmals, es sei wichtig, dass das Kind schon möglichst weit zählen kann. Dabei ist das gar nicht so relevant, es muss vielmehr die dem Zählen zugrundeliegenden Konzepte begriffen haben.“
Dr. Minja Dubowy
Redaktion: Wie sehen die Vorläuferkompetenzen in der Mathematik aus?
Dubowy: Eltern denken oftmals, es sei wichtig, dass das Kind schon möglichst weit zählen kann. Dabei ist das gar nicht so relevant, es muss vielmehr die dem Zählen zugrundeliegenden Konzepte begriffen haben. Etwa das Anzahlkonzept, also das Verständnis, dass Zahlen die Anzahl von Objekten in einer Menge repräsentieren. Wichtig ist hier nochmal zu erwähnen, dass es bei diesen Vorläuferfertigkeiten nicht um den Vorgriff auf schulische Inhalte geht, sondern um vorausgehende Basiskompetenzen, die sowohl bei der Schriftsprache als auch bei der Mathematik vorhanden sein müssen, um mit dem Lernen schulischer Inhalte zu beginnen.
Redaktion: Welche bereichsübergreifenden Merkmale machen neben der Sprache die Schulbereitschaft aus?
Dubowy: Zunächst die sozial-emotionale Entwicklung. Lernen findet in der Regel in Gruppen, also in einem sozialen Kontext, statt. Die Fähigkeit, mit anderen Kindern zusammen lernen und interagieren zu können, ist entsprechend wichtig. Kinder müssen etwa ihre eigenen Emotionen wahrnehmen und damit angemessen umgehen können, zum Beispiel bei Frustration über Misserfolge. Sie müssen aber auch die Emotionen und Bedürfnisse von anderen Menschen berücksichtigen können, und Konflikte altersangemessen bewältigen. Dazu kommt die Motivation, ein Faktor, der sich auf das Lernen in allen Altersklassen entscheidend auswirkt. Als weitere zentrale Kompetenz hat sich in den letzten Jahren die Selbstregulation herauskristallisiert. Darunter verstehen wir unter anderem die Fähigkeiten, Emotionen zu kontrollieren, eigene Bedürfnisse vorübergehend zurückzustellen, die Aufmerksamkeit zu lenken und Ablenkungen auszublenden. Sie merken schon, die Selbstregulation beeinflusst viele andere Bereiche, die ich teilweise schon genannt habe, wie die sozial-emotionale Entwicklung. Daher wird sie zunehmend als übergeordnete Schlüsselkompetenz betrachtet.
Redaktion: Wie sieht die Diagnostik der Schulbereitschaft heute aus? Und wie hat sie sich gewandelt?
Dubowy: Früher war die Einschuldiagnostik rein selektiv, das heißt man hat sich nur darauf fokussiert, ob ein Kind schon schulfähig war, die Anderen wurden im Prinzip einfach „aussortiert“. Das hat sich deutlich gewandelt. Generell ist der Schulanfang heute flexibler geworden. Ein Beispiel hierfür ist das Modell der neuen Eingangsstufe. Hier werden alle Kinder eingeschult, unabhängig von ihrem Entwicklungsstand. Ziel des Modells ist, jedes Kind da abzuholen, wo es steht, und jedes Kind entsprechend seinem individuellen Bedarf zu fördern und fordern. Dazu wird es den Kindern ermöglicht, die Schuleingangsphase - je nach Entwicklungsstand- in einem bis drei Jahren zu durchlaufen. Die Einschulungsdiagnostik hat sich also im besten Fall zu einer Förderdiagnostik weiterentwickelt, die die Stärken und Schwächen der Kinder erfasst, um jedes von ihnen in der Schule optimal fördern zu können. In der Praxis ist das leider noch nicht überall der Fall.
Redaktion: Wie einheitlich funktioniert die Einschuldiagnostik im deutschen Föderalismus?
Dubowy: Die Einschuldiagnostik ist in der Praxis sehr heterogen, und auch die neue Eingangsstufe wird nicht in allen Bundesländern praktiziert. Wir haben also im deutschen Bildungssystem keine Einheitlichkeit. Man kann dies zum Beispiel auch an den Rückstellungsraten, also den Quoten der Kinder, deren Einschulung um ein Jahr verschoben wird, erkennen. Diese liegen zum Beispiel in Bayern erheblich höher als etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die meisten Kinder eingeschult und in der neuen Eingangsstufe binnendifferenziert, also an ihren individuellen Entwicklungsstand angepasst, unterrichtet werden.
Redaktion: Was kann nun etwa in Kindertagesstätten getan werden, um die Schulbereitschaft rechtzeitig zu fördern und sicherzustellen?
Dubowy: Die Förderung der Merkmale, die relevant sind für die Schulbereitschaft, kann sehr gut in den Alltag integriert werden. Insbesondere die Sprache wird in der Kindertagesstätte ständig im Alltag gefördert, indem möglichst viel verbalisiert, möglichst viel vorgelesen wird. Das fördert auch die literalen Basiskompetenzen. Den Kindern kann auch durch Erfahrungen mit Schrift geholfen werden, diese Vorläuferfähigkeiten aufzubauen. Etwa, indem man alle Materialien in der Kita beschriftet, indem sich die Erzieherinnen und Erzieher selbst häufig Notizen machen, so dass die Kinder viel Kontakt mit Buchstaben haben und die Funktion von Schrift erkennen. Dies geht auch in Rollenspielen wie der Kinderpost oder dem Einkaufsladen, bei denen die Kinder dann Briefe oder einen Einkaufszettel schreiben. Ähnliches gilt für die mathematischen Vorläuferfähigkeiten: Auch die lassen sich in fast jeder alltäglichen Situation fördern: etwa indem man im Stuhlkreis morgens zählt, wie viele Kinder da sind, wie viele Kinder fehlen, wie viele Stühle man noch braucht. Mit ein wenig Kreativität gibt es unbegrenzte Möglichkeiten, Schrift, Sprache und Zahlen präsent zu machen in den Einrichtungen, so dass die Kinder möglichst viel Kontakt damit haben.
Redaktion: Wie kann man Kindern helfen, bei denen diese alltägliche Förderung und Anregung nicht ausreicht, etwa weil sie in ihren Familien wenig Unterstützung erfahren?
Dubowy: Wird bei der Schulanmeldung festgestellt, dass etwa die sprachlichen Kompetenzen noch nicht ausreichen für die erfolgreiche Bewältigung der schulischen Anforderungen, gibt es in vielen Bundesländern inzwischen sogenannte Vorlaufkurse oder andere spezielle Angebote, in denen diese Kinder noch einmal gezielte Sprachförderung und weitere Anregungen erhalten. Daneben gibt es auch Förderprogramme, die im Rahmen der regulären Schulvorbereitung mit allen Vorschulkindern in den Einrichtungen durchgeführt werden, wie zum Beispiel das Programm „Hören, Lauschen, Lernen” (Link zu diesem und weiteren Programmen unter diesem Artikel, Anm. d. Red.), bei dem gezielt phonologische Basiskompetenzen wie Reimen, Wörter in Silben und Laute zerlegen oder diese zusammenzufügen und vieles mehr gezielt mit Kindern trainiert werden, um sie auf den Schriftspracherwerb vorzubereiten. Ähnliches gibt es für den mathematischen Bereich, hier wäre etwa das Programm „Mengen, zählen, Zahlen” zu nennen.
„Die sozial-emotionalen Kompetenzen werden grundsätzlich durch das Zusammenleben in der Gruppe permanent gefördert.“
Dr. Minja Dubowy
Redaktion: Wie sieht es mit der Förderung der sozial-emotionalen Fähigkeiten aus?
Dubowy: Die sozial-emotionalen Kompetenzen werden grundsätzlich durch das Zusammenleben in der Gruppe permanent gefördert. In der frühkindlichen Bildung steht dieser Bereich in den Bildungsplänen aller Bundesländer ganz vorn. Hierbei geht es im Wesentlichen darum, dass in den Einrichtungen ein wertschätzendes, respektvolles Miteinander eingeübt und vorgelebt wird. Also etwa, indem die Kinder aktiv auf die Gefühle und Bedürfnisse anderer Kinder aufmerksam gemacht werden und bei Konflikten immer wieder darauf hingearbeitet wird, dass die Kinder verstehen, wie sich alle Beteiligten in dieser Situation fühlen. Dadurch lernen die Kinder, Gefühle wahrzunehmen und zu verbalisieren. Und auch dafür gibt es wieder additive Programme, zum Beispiel „Lubo aus dem All” oder „Faustlos” für verschiedene Altersgruppen, die das soziale Miteinander der Gruppe und die Wahrnehmung von Gefühlen und Empathie stärken und Kindern Strategien zur Konfliktlösung beibringen.
Redaktion: Welche Entwicklungen sehen Sie im Bereich der Schulbereitschaft? Wie gut sind Erkenntnisse der Wissenschaft hier bereits in der Praxis angekommen?
Dubowy: Der Trend weg von der Selektion hin zur Förderdiagnostik ist sichtbar und sehr zu begrüßen, vor allem wenn das Ziel ist, alle Kinder ihren Bedarfen entsprechend zu beschulen. Allerdings gibt es hier zum Teil noch eine sehr große Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis. Das liegt unter anderem auch daran, dass ein binnendifferenzierter Unterricht viel Personal und Ressourcen braucht – daher ist dies vielerorts leider noch nicht mehr als ein schönes Ideal. Ein zweiter Punkt, bei dem große Diskrepanzen zwischen Wissenschaft und Praxis bestehen, ist der Bereich der selbstregulativen Kompetenzen: Der ist in der psychologischen Forschung erst in den letzten Jahren stark in den Vordergrund gerückt, während in anderen Disziplinen, wie der Pädagogik, das Bewusstsein über ihre Bedeutung noch nicht so verbreitet ist. Insbesondere in der Diagnostik wird dieses Merkmal meist noch gar nicht berücksichtigt und befindet sich noch in den Kinderschuhen. Gleichzeitig hat die Selbstregulation eine hohe prognostische Relevanz für den Schulerfolg. Für diesen Bereich müssten daher dringend praktikable diagnostische Verfahren entwickelt und in der Praxis etabliert werden, damit die extrem wichtigen selbstregulativen Kompetenzen in der Einschulungsdiagnostik routinemäßig erfasst und berücksichtigt werden können.
Redaktion: Frau Doktorin Dubowy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Dr. Minja Dubowy hat an der Universität Bamberg zum Zusammenhang zwischen Sprach- und Denkentwicklung bei Vorschulkindern promoviert und an der Universität Frankfurt sowie am Leibniz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) zu den Themen Erst- und Zweitspracherwerb, Frühe Bildung und Schulbereitschaft gelehrt und publiziert. Gemeinsam mit Prof. Marcus Hasselhorn hat sie kürzlich das Buch „Schulbereitschaft – Was Kinder für einen erfolgreichen Schulstart brauchen“ veröffentlicht.