Schule für alle: Wie digitales Lernen inklusiv gestaltet werden kann

Wie wird digitales Lernen für alle möglich? Drei Expert:innen sprechen im Interview über praxisnahe Ansätze und Strategien zur individuellen Förderung und zeigen, wie Exklusionsrisiken minimiert werden können.

Digitale Medien gelten als Schlüssel zur inklusiven Bildung – doch ihr Potenzial entfaltet sich nur durch bewusste didaktische Entscheidungen. Dieser Ansatz wird im Konzept der Diklusion deutlich, das die Verbindung von digitalen Medien und Inklusion beschreibt. Im Interview diskutieren die Expert:innen Prof. Dr. Traugott Böttinger, Prof. Dr. Anja Kürzinger und Dr. Lea Schulz zentrale Chancen, Herausforderungen und konkrete Umsetzungsstrategien für den schulischen Alltag.

Redaktion: Digitale Medien gelten als Leuchttürme für adaptives und individualisiertes Lernen. Worin liegt dieses Potenzial begründet?

Dr. Lea Schulz: Digitale Technologien können Lernbarrieren abbauen und den Zugang zu Bildung für alle Lernenden erleichtern. Sie ermöglichen interaktiven Unterricht, unterstützen beispielsweise durch Text-to-Speech-Anwendungen oder Animationen das Verständnis und bieten sofortige Rückmeldung für individuelles Lernen. Ihre Anpassungsfähigkeit macht sie zu einem Schlüssel für inklusive Bildung, die die Vielfalt der Lernvoraussetzungen als Chance begreift.

Prof. Dr. Traugott Böttinger: Die Kombination von Text, Bild, Audio oder Video spricht verschiedene Sinneskanäle an und schafft anschauliche Lernmöglichkeiten, etwa durch Erklärvideos, die individuell nutzbar sind. Gemeinsam mit Lernenden produziert, können diese Videos Motivation, eine tiefere inhaltliche Auseinandersetzung mit Lerninhalten und zugleich die Aneignung von Medienkompetenz fördern.

„Studien zeigen, dass digitale Kompetenzen der Lernenden stark mit Merkmalen wie Zuwanderungsgeschichte, Mehrsprachigkeit und sozialer Herkunft zusammenhängen. Die Förderung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler bleibt daher eine zentrale Aufgabe für Schule und Gesellschaft.“

Juniorprofessorin Anja Kürzinger

Redaktion: Ihre Forschung zeigt: Trotz aller Potenziale können digitale Medien Schülerinnen und Schüler aus Lernsettings ausschließen. Können Sie das erläutern?

Böttinger: Der Digital Divide beschreibt die Kluft zwischen Schülerinnen und Schülern, die Zugang zu digitalen Technologien haben und entsprechende digitale Kompetenzen erwerben, und jenen, die diesen Zugang nicht oder nur eingeschränkt besitzen. Aus dieser Kluft ergeben sich Exklusionsrisiken mit negativen Folgen für Bildungschancen und digitale Teilhabe. Unterschieden werden drei Ebenen: Zugang, Nutzung sowie Partizipation. Kinder und Jugendliche in Deutschland haben im häuslichen Umfeld in der Regel guten Zugang zu digitalen Technologien. Es gibt jedoch einen Zusammenhang zwischen dem sozio-ökonomischen Hintergrund sowie dem Bildungsgrad der Eltern und den Geräten, die Kinder und Jugendliche zu Hause vorfinden: Je geringer beides ausfällt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder digitale Technologien ausschließlich als Unterhaltungstechnologien und nicht als Bildungstechnologien kennenlernen. Auch auf Ebene der Nutzung bleibt dieser Zusammenhang bestehen. Dazu kommt, dass Kinder beim Aufbau digitaler Kompetenzen zu Hause häufig nicht oder nur unzureichend unterstützt werden. Auf Ebene der Partizipation fehlen den Kindern und Jugendlichen dann Möglichkeiten, an der digital geprägten Welt und Gesellschaft teilzuhaben und etwa eigenen digitalen Content zu produzieren oder vorhandenen Content für eigene Lernprozesse zu nutzen. 

Juniorprofessorin Dr. Anja Kürzinger: Im Unterricht bestehen inhaltliche Barrieren zum Beispiel durch ungenügende Unterstützung seitens der Lehrperson. Darüber hinaus setzt ein Unterricht mit digitalen Medien oft eine höhere Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler voraus (Überblick bei Schaumburg, 2021). Besonders bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler oder solche mit besonderen Förderbedarfen können dann von Exklusion betroffen sein. Studien wie die international vergleichenden Schulleistungsstudien ICILS 2018 und 2023 zeigen, dass digitale Kompetenzen der Lernenden stark mit Merkmalen wie Zuwanderungsgeschichte, Mehrsprachigkeit und sozialer Herkunft zusammenhängen. Die Förderung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler bleibt daher eine zentrale Aufgabe für Schule und Gesellschaft.

Redaktion: Ziel Ihrer Forschung ist es, herauszufinden, wie Exklusionsrisiken beim Einsatz von digitalen Medien vermieden werden können. Was haben Sie erforscht und was sind die Ergebnissen Ihrer Studie?

Böttinger: Unsere Studie zum Unterstützungsverhalten von Lehrpersonen in einem digital-inklusiven Grundschulunterricht zeigt, dass technische Hilfestellungen trotz der komplexen Aufgabenstellung – Produktion eines Green-Screen-Videos – weniger Zeit beanspruchten als erwartet. Weiterhin nahm die inhaltliche Unterstützung die Lösung häufig vorweg, anstatt zum Denken anzuregen. Rückmeldungen zum Stand des Lernprozesses wurden nur selten gegeben.

Schulz: Allerdings benötigen gerade Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten eine kleinschrittigere Unterstützung. Dafür sind diagnostische Kompetenzen und didaktische Erprobung essenziell, möglichst bereits in der Lehrkräfteausbildung. 

Kürzinger: Das unterstützende Verhalten der Lehrkräfte ist auch entscheidend, um die kollaborative Zusammenarbeit zwischen den Lernenden anzuleiten. Zu starre Instruktionen können Kooperationen zwischen Lernenden einengen, was in unserer Studie jedoch kaum zu beobachten war. Im Hinblick auf Exklusionsrisiken zeigt sich, dass alle Schülerinnen und Schüler zu einem recht hohen Niveau eingebunden waren und sich überwiegend aufmerksam und engagiert beteiligten. 

Redaktion: Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um Exklusionsrisiken durch digitale Medien zu minimieren und digitale Barrieren abzubauen?

Schulz: Um digitale Barrieren abzubauen, ist eine umfassende Strategie erforderlich. Zunächst müssen technische Barrieren beseitigt werden, was bedeutet, allen Schülerinnen und Schülern Zugang zu digitalen Endgeräten zu ermöglichen und sicherzustellen, dass sie notwendige Technologien wie Screenreader oder Untertitel erhalten. Zudem ist Medienkompetenz für alle Beteiligten im Bildungssystem von entscheidender Bedeutung. Medienkompetenz befähigt Lernende, Lehrkräfte und Eltern, digitale Inhalte kritisch zu reflektieren, kreativ zu nutzen und verantwortungsvoll mit digitalen Tools umzugehen. Dies sichert nicht nur den Zugang zur digitalen Gesellschaft, sondern auch die aktive und informierte Teilhabe. Abschließend ist die Professionalisierung der Lehrkräfte essenziell. Lehrerinnen und Lehrer müssen nicht nur technische, sondern auch didaktische Kompetenzen entwickeln, um Diklusion – digitale Medien und Inklusion – wirksam in den Unterricht zu integrieren. Dies kann durch gezielte Fortbildungen erreicht werden, die die Lehrkräfte auf die Anforderungen eines digital-inklusiven Unterrichts vorbereiten.

Redaktion: Welche praktischen Ansätze können Lehrkräfte nutzen, um digitale Medien diklusiv im Unterricht einzusetzen?

Schulz: Um die vielen Praxismöglichkeiten aufzuzeigen, lohnt sich ein Blick auf das Fünf-Ebenen-Modell, das unter dem Begriff „Diklusion“ zeigt, wie digitale Medien gezielt für inklusiven Unterricht eingesetzt werden können:

  1. Auf der ersten Ebene bauen unterstützende Technologien wie spezielle Apps oder Lesegeräte Barrieren ab. So können sich Schülerinnen und Schüler mit Leseschwierigkeiten beispielsweise Texte vorlesen lassen.
  2. Individualisierte Lernaufgaben auf der zweiten Ebene fördern Differenzierung, indem Aufgaben an das Lernniveau der Lernenden angepasst oder strategische Hilfen zum Lernen aufgezeigt werden. 
  3. Digitale Tools stärken auf der dritten Ebene kooperatives Lernen, etwa durch Projekte, bei denen Lernende gemeinsam kreative Medien wie Filme oder Podcasts produzieren.
  4. Auf der vierten, der Organisationsebene, erleichtern digitale Hilfsmittel den Lehrkräften Unterrichtsplanung und Verwaltung, etwa durch digitale Lernstandserhebungen oder den Einsatz von Lern-Management-Systemen.
  5. Auf der fünften und damit der Gesellschaftsebene ist es entscheidend, dass alle Schülerinnen und Schüler Medienkompetenz erlangen, um in der digitalen Welt teilhaben zu können. Das gelingt unter anderem, indem sie Fake News identifizieren und an Social Media teilhaben können sowie den Umgang mit persönlichen Informationen und die kreative Entwicklung von Medienprodukten erlernen. 

Wer auf Schulentwicklungsebene überprüfen möchte, wo sich die eigene Schule gerade im diklusiven Entwicklungsprozess befindet, dem empfehlen wir die didaktischen Schieberegler zur Selbsteinschätzung. Um eigene diklusive Lernumgebungen im Unterricht zu entwickeln, können die Ideen auf unserer Taskcards hilfreich sein. Hier haben wir Beispiele für digital-inklusiven Unterricht mit verschiedenen Tools dargestellt. 

Böttinger: Ein praktisches Beispiel für den Unterricht sind entsprechend aufbereitete E-Books. Dort können Lernende Aufgaben auf schriftlicher Basis bearbeiten, sie können aber auch kurze Sprachnachrichten als Lösung hinterlegen, Bilder oder Fotos hochladen oder Zeichnungen anfertigen. Die Vorlesefunktion erleichtert den Zugang zu den Inhalten sowohl für Lernende aus dem Förderschwerpunkt Sehen als auch für Kinder mit Leseschwierigkeiten, die in unterschiedlichem Maß kognitiv entlastet werden können. Die schnelle und intuitive Art der Erstellung und Bearbeitung der E-Books erlaubt es, qualitativ sowie quantitativ zu differenzieren. Schülerinnen und Schüler können Buchseiten leicht allein oder in Zusammenarbeit gestalten, was der Motivation dienlich ist. Und über beliebig zu setzende Verlinkungen können weitere Inhalte oder Lernunterstützungen zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig sollten Lehrkräfte im Hinterkopf behalten: Nicht der gesamte Unterricht muss digitalisiert werden; es geht um eine sinnvolle Ergänzung bewährter Methoden durch digitale Ansätze unter Berücksichtigung der Passung zwischen den gewählten digitalen Medien und den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.

Redaktion: Herr Professor Böttinger, Frau Juniorprofessorin Kürzinger und Frau Doktorin Schulz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Traugott Böttinger ist Professor für Allgemeine Sonderpädagogik mit Schwerpunkt Inklusion an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Zu seinen Forschungs- und Lehrthemen gehören neben digital-inklusivem Lernen Fragen der Lehrkräfteprofessionalisierung sowie der rekonstruktiven Inklusionsforschung.

Zur Person

Anja Kürzinger ist Juniorprofessorin für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Sie befasst sich neben videobasierter Unterrichtsforschung und Lehrkräfteprofessionalisierung insbesondere mit sozialräumlichen Bildungsungleichheiten an Grundschulen.

Zur Person

Lea Schulz verantwortet an der Europa-Universität Flensburg die Lehr- und Lernforschung spezialisiert auf Diklusion (digitale Medien und Inklusion) im Rahmen des Landesprogramms „Zukunft Schule im digitalen Zeitalter“. Ihr Fokus liegt auf Sprache und Lernen unter erschwerten Bedingungen. Als erfahrene Sonderschulpädagogin wirkte sie in der Schulentwicklung und als Studienleiterin am Landesinstitut in Schleswig-Holstein. Ihre berufliche Laufbahn begann in der App- und Softwareentwicklung (bettermarks u.a.).