Schule in der Pandemie: Was weiß die Bildungsforschung?

Interview mit Professor Dr. Olaf Köller

Ein weiteres Corona-Schuljahr ist angelaufen und wirft viele Fragen auf, über die das Online-Magazin schulmanagement mit Prof. Dr. Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel, gesprochen hat: Wie können Kinder und Jugendliche im Klassenzimmer sicher und erfolgreich lernen? Wie können die eingetretenen Lerndefizite erfolgreich aufgearbeitet werden?

Angesichts wieder steigender Infektionszahlen stellt sich eine Frage mit besonderer Dringlichkeit: Wie sicher sind die Kinder in Deutschlands Schulen? Professor Olaf Köller gibt hier vorsichtig Entwarnung und hält gemeinsamen Präsenzunterricht für vertretbar. Inzwischen habe man sehr gute aktuelle Daten aus der Epidemiologie, etwa zum Mortalitätsrisiko für Kinder und Jugendliche von 0 bis 19 Jahren, die sich mit COVID-19 infiziert haben.  

Im Zeitraum von März 2020 bis Februar 2021 seien in dieser Altersgruppe in Deutschland insgesamt 4031 Kinder gestorben (Köller verweist auf eine Studie von Bhopal et al., 2021, im Fachmagazin The Lancet), aber lediglich 13 im Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion, erklärt Köller. Zur Anschauung des Risikos verweist er auch auf Zahlen aus dem Jahr 2019 (Berner et al., 2021). Im Verlauf des Jahres sind damals 25 Kinder durch Badeunfälle ums Leben gekommen.  

Auch eine Studie zu den Spätfolgen von COVID-19 (Molteni et al., 2021) bei Kindern zeige, dass nur 1,8 Prozent von denen, die sich infizierten, nach 56 Tagen noch Symptome zeigten (Geruchsstörung, Mattigkeit, Kopfschmerzen). Nach dem Studium der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse müsse man daher zu dem Ergebnis kommen, dass das Risiko für die Kinder sehr gering sei, vergleichbar mit einer Grippeinfektion, so Köller.  

Dennoch rät Köller weiter zur Vorsicht und befürwortet maßvolle Hygieneregeln. Die Schulen seien gut beraten, zu lüften so lange es geht, Abstand zu halten und auch Masken zu tragen. Ansonsten riskiere man hohe Infektionsquoten in kurzer Zeit und damit verbunden auch viele Kinder mit Krankheitssymptomen, die zeitweise nicht am Unterricht teilnehmen könnten.

Lernrückstände betreffen oft jene, die vorher schon betroffen waren

Wenn man internationale Studien mitberücksichtige, dann sei die Datenlage zu den Folgen der Pandemie im Kontext von Schule inzwischen recht gut (u.a. Engzell, Frey & Verhagen; PNAS, 2021; Tomasik, Helbing und Moser, 2021, International Journal of Psychology), sagt Köller. Bezüglich der Verzögerungen im Lernen lasse sich feststellen: Dies betreffe besonders die Grundschulen. Man müsse davon ausgehen, dass von März 2020 bis heute Grundschulen ein Drittel bis ein halbes Schuljahr weniger Lernfortschritte gemacht hätten als üblich. In den Sekundarstufen betrage der durchschnittliche Lernrückstand etwa ein Viertel-Schuljahr. 

Diesen Befund müsse man jedoch differenziert sehen, denn sowohl bei den jüngeren wie bei den älteren Kindern seien jene besonders betroffen, die auch schon vor der Pandemie lernschwach waren, macht der Bildungsexperte deutlich: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, Kinder aus sozial benachteiligten Familien und Kinder, die bereits vor Corona Schwierigkeiten hatten, den eigenen Lernprozess zu organisieren und sich zu motivieren. 

Beim Aufholprogramm Prioritäten setzen

Köller plädiert dafür, das bereitgestellte Geld dorthin zu leiten, wo es am dringendsten gebraucht werde und äußert eine klare Meinung: „Wenn ich die Milliarde aus dem Aufholprogramm verteilen dürfte, würde ich so gut wie keinen Cent für die gymnasiale Oberstufe ausgeben.“ Denn es brenne woanders: bei den frisch eingeschulten Kindern, die durch Kita-Schließungen betroffen waren, die in der ersten Klasse nur unzureichend Lesen und Schreiben lernen konnten und bei denen man auch sonst große Rückstände festgestellt habe. 

Hinzu kämen jene Kinder, die gerade in die Sekundarstufe 1 gewechselt seien, meist also die frisch gestarteten Fünftklässler bzw. jene, denen dieser Wechsel bevorstehe: vierte Klassen, die im kommenden Schuljahr umgeschult werden, erläutert Köller. Hinzu kämen Regionen und – in den Großstädten – Stadtteile, von denen man wisse, dass hier die meisten Kinder aus benachteiligten Familien kommen, oftmals Städte und Kommunen mit hohem Migrationsanteil.  

Besonders Leistungsschwache in den Fokus nehmen

Viele Länder hätten inzwischen Methoden und Kennzahlen, um die soziale Situation an ihren Schulen einzuschätzen. Sie wüssten, in welchen Orten ihre benachteiligten Kinder und Jugendlichen besonders konzentriert sind. Doch das sei nur ein erster Anhaltspunkt, führt Köller weiter aus: Man müsse beachten, dass auch in Brennpunkten Kinder sehr unterschiedlich betroffen seien. Es gelte jetzt, mit Diagnostik jene in den Fokus zu nehmen, die mutmaßlich am meisten Unterstützung bräuchten.  

Schulen haben ihre Lektion gelernt

Auf eine eventuell vierte Welle der Pandemie seien die Schulen inzwischen gut vorbereitet, ist sich Köller auch aufgrund der KWiK-Schulleitungsbefragung sicher, die er mitverantwortet. Schon beim zweiten Lockdown sei der Schulbetrieb erheblich besser organisiert worden als beim ersten Lockdown im März 2020. Die Schulen hätten zügig nachgerüstet, die IT-Infrastruktur habe sich deutlich verbessert. Auch Angebote für besonders benachteiligte Kinder seien bei den meisten Schulen inzwischen vorhanden, ebenso ein Ablaufplan, um einen eventuellen Notbetrieb zu gewährleisten. „Für den Fall, dass doch noch einmal Schulen geschlossen werden müssen, sind die Schulen in 2021 um Längen besser darauf vorbereitet als im Frühjahr 2020“, so Köller. 

Wissenschaft findet mehr Gehör bei der Politik

Zum Beleg des gewachsenen Einflusses verweist Köller auf die erste Adhoc-Stellungnahme der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, an Ostern 2020, an der auch die Bildungsforschung stark beteiligt gewesen sei. Diese und andere Empfehlungen aus der Wissenschaft seien seither von der Politik berücksichtigt und in weiten Teilen auch umgesetzt worden. Nicht nur der Rat von Virologen und Epidemiologen werde im politischen Raum geschätzt, sondern insbesondere auch die Expertise der Bildungsforschung werde dort stark nachgefragt. Politikberatung sei seit Jahren eine selbstverständliche Aufgabe seiner Disziplin und er hoffe, dass der Wille der Politik, ganz allgemein den Rat der Wissenschaft einzuholen, auch nach Corona bestehen bleibe.