Schule in ungewissen Zeiten steuern und gestalten

Ein besonderer Rückblick auf das 15. Bamberger Schulleitungssymposium

Zum Abschluss der traditionsreichen Veranstaltung fassen Professorin Dr. Annette Scheunpflug, Universität Bamberg, und Dr. Jessica Mack-Andrick, stellvertretende Leiterin des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg, die fünf Konferenzwochen in einem Dialog von Wissenschaft und Kunst zusammen: Sie spüren den Symposiums-Themen mithilfe von Kunstwerken aus der Sammlung des Germanischen Nationalmuseums (Nürnberg) nach.

Nicht vorhersehbare Situationen, wie etwa die Corona-Pandemie, Transformationsprozesse in Folge von Migrationsbewegungen, Digitalisierung und Klimawandel: Auf diese und weitere Herausforderungen müssen Schulleitende reagieren und zugleich entsprechende (Leitungs-)Kompetenzen ausgebildet haben, um die Schule im Hinblick auf die Unterrichtsentwicklung als auch auf die Personalentwicklung weitervoranzubringen.

Bamberger Schulleitungssymposium

Das Bamberger Schulleitungssymposium hat eine lange Tradition: Es wurde in den 1980er-Jahren von Prof. Dr. Heinz Rosenbusch, dem Begründer der Organisationspädagogik, mit dem Ziel ins Leben gerufen, den Dialog zwischen Wissenschaft und Schulleitungen anzuregen und zu stärken (vgl. Scheunpflug 2020). 2021 fand es zum 15. Mal vom 7. Oktober bis 11. November 2021 unter dem Motto „Schule in ungewissen Zeiten steuern und gestalten – die Gesellschaft und die Menschen im Blick“ statt und wurde von der Universität Bamberg in Kooperation mit der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen veranstaltet. Über einen Zeitraum von fünf Wochen diskutierten rund 250 Schulleitungen, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Vertreterinnen und Vertreter der Akademie sowie Bamberger Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildner online über das was sie gemeinsam bewegt: die Herausforderungen, welche sich angesichts gesellschaftlicher Umbrüche zeigen und deren schulische Bewältigung in Zukunft an Dringlichkeit zunehmen werden.

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Ins Lernen verliebt sein: Imaginieren und kommunizieren

Annette Scheunpflug: Egal, wie Krisen um einen herum donnern und wie sehr gesellschaftliche Veränderungen rufen: In der Schule geht es um Lernen! Immer wieder, täglich neu, muss das Lernen in den Mittelpunkt gestellt werden – Lehrkräfte müssen geradezu ins Lernen verliebt sein. Das zu ermöglichen, ist ein wichtiges Handlungsfeld von Schulleitungen. Gerade in der Pandemie haben das manche vergessen, wenn sie stärker auf die digitalisierten Arbeitsblätter fokussierten denn auf das Lernen der ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler und damit eher den Input als den Lernprozess selbst in den Mittelpunkt stellten. Der Pädagoge Prof. Dr. Rolf Arnold (TU Kaiserslautern) und die Bildungswissenschaftlerin Prof. Dr. Anne Sliwka (Universität Heidelberg) hatten in ihren Keynotes herausgearbeitet, wie sehr die Selbstkonstruktion bzw. Autopoiese von Imagination und Kommunikation von Bedeutung sind – schließlich lernen Menschen nur selbst. 
 

„Gerade in der Pandemie wurde die Hingabe an das Lernen vergessen, wenn der Fokus der Lehrkräfte stärker auf digitalisierten Arbeitsblättern statt auf das Lernen der ihnen anvertrauten Schüler:innen lag und damit eher der Input als der Lernprozess im Mittelpunkt stand.“

Prof. Dr. Annette Scheunpflug

Die Kunst liegt in der Initiierung von Selbstorganisation und Selbstbildung. Lernberatung, transformationale Führung, digitalisiert gestütztes personalisiertes Unterrichten, Umgang mit unterrichtlicher Heterogenität wurden als unterschiedliche Ansätze vorgestellt. Diese Selbstbildung anzuregen, ist die große Herausforderung. Sie wird angesichts der durch die Pandemie dramatisch größer gewordenen sozialen Bildungsungerechtigkeit in der Zukunft von noch größerer Bedeutung. Nur mit der Fokussierung auf das Lernen eines jeden Einzelnen wird es gelingen, wieder zu mehr Bildungsgerechtigkeit zu kommen.

Jessica Mack-Andrick: Johann Neudörfer war Mathematiker, Schreibmeister, Schulleiter und verfasste Künstlerbiografien. Nicolas Neufchatel schuf das Bild als Geschenk an den Rat der Stadt Nürnberg als Dank für die Aufnahme nach seiner Emigration aus den spanischen Niederlanden. Neudörfer wird in der Inschrift gefeiert wegen der „unendlichen Menge an Schülern der Mathematik und Schreibkunst“ und seiner „Erfindungskunst“. Das Bild zeigt offenbar einen begeisterten Lehrmeister, dem die Lehre am Herzen lag. Man sieht Neudörfer beim Diktieren der Maße eines Dodekaeders, ein Schüler schreibt mit. Aber beide sind im Moment der Imagination und der geistigen Tätigkeit gezeigt – der Schüler folgt der klassischen Darstellungstradition des Autorenbildnisses. Er ist nicht nur Empfänger, vielmehr scheint der Austausch mit dem Lehrer seine eigene Geisteskraft entfacht zu haben. Beide sind völlig in die Arbeit und das gemeinsame Tun vertieft. Die Konzentration auf Gesichter und Hände zeigt, dass Geist und Tun bzw. Denken und Experimentieren beim Lernen eng miteinander verbunden sind. Ein wunderbares Bild der Hingabe an das Lernen und eine besondere Darstellung einer Schüler-Lehrer-Beziehung, die auf Augenhöhe zu sein scheint – beide befinden sich auf einer gemeinsamen Erkenntnissuche.

Durch Veränderungen führen: Schulentwicklung als Change-Prozess

Mack-Andrick: Paulus steht mit seinem Leben für Wandel. Berühmt ist der durch eine Vision herbeigeführte Wandel vom Christenverfolger Saulus zum Apostel Paulus. Das Schwert, Symbol seiner militärischen Laufbahn, hat er hinter sich wortwörtlich an den Nagel gehängt. Man sieht ihn als Greis, tief in Gedanken versunken, möglicherweise in Gefangenschaft, in Sorge um die Zukunft der von ihm gegründeten christlichen Gemeinden. Paulus kann in nichtchristlicher Perspektive als Mensch gedeutet werden, der durch einen tiefgreifenden neuen Erkenntnisprozess festen Überzeugungen folgt und damit viele Menschen auf seine Seite ziehen kann. Sein Grübeln zeigt – dieses Leben als Führungsposition mit Verantwortung für andere ist kein einfaches und Zweifel über das Gelingen des eigenen Tuns sind stets präsent. Aber mit stabilen Werten und einem festen Glauben – unabhängig von dessen Inhalten und unabhängig von Religion – kann man eine überzeugende Führungspersönlichkeit sein. Rembrandt hat sich selbst mehrmals als Paulus dargestellt, für ihn war diese schillernde, zwiespältige Person offenbar eine Identifikationsfläche. Die Auseinandersetzung mit historischen Personen und deren widerstreitenden Erfahrungen kann bei jeder Neufindung hilfreich sein.

Scheunpflug: So existenziell wie Paulus in der Darstellung nach Rembrandt erleben Schulleiterinnen und Schulleiter den gesellschaftlichen Wandel in der Regel nicht. Wie manifestieren sich stabile Werte, fester Glauben und der konstruktive Umgang mit Zweifeln im Kontext von Schule? Die Bildungswissenschaftlerin Dr. Gabriele Stemmer-Obrist (Baden, Schweiz) ist dieser Frage nachgegangen. Ich habe von ihren Ausführungen mitgenommen, dass – ganz im Sinne der Betonung von Freiheit in der Paulinischen Theologie – gerade die Auslotung der Freiheitsgrade und deren Nutzung für individuelle Entscheidungen vor Ort bedeutsam für den Umgang mit schnellem sozialen Wandel in der VUCA-Gesellschaft sind, also einer Gesellschaft welche zunehmend von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt ist. Betont wurde, dass es die Schulleitung ist, die Entscheidungen zu fällen hat, diese Entscheidungen gut zu kommunizieren sind, und nicht alle mit diesen einverstanden sein müssen. Perfektionismus als Feind jeder Leistung und Veränderungswillen wurden mehrfach herausgehoben und es wurde dazu ermutigt, Fehler als Freunde wahrzunehmen. 

„Führungsarbeit braucht Vernetzung und Vernetzung bedarf der konkreten Anstrengung der Schulleitung.“

Prof. Dr. Annette Scheunpflug

Mich hat dies vor dem Hintergrund des Bildes von Rembrandt daran erinnert, welche innere Freiheit, welcher Gestaltungswillen erwachen kann, wenn man sich als Schulleitung angenommen, angstfrei und mit Mut zum Fehler fühlen kann. Dann wiegen Entscheidungen leichter und es erwächst Raum für die anvertrauten Lehrkräfte und Schülerinnen wie Schüler. Diese Freiheit führt nicht in donnerndes Heldentum eines charismatischen Anführers, sondern in den reflektierenden Umgang mit Ambiguitäten, und bedarf des Nachdenkens am Schreibtisch. Deshalb fand ich den Hinweis auf die Einsamkeit der Schulleitung bedeutsam, und die daraus zu ziehende Konsequenz: Führungsarbeit braucht Vernetzung, Vernetzung bedarf der konkreten Anstrengung der Schulleitung. In vielen Workshops zum Umgang mit der Digitalisierung, zu den Lehren aus der Pandemie, zum Effectuation-Ansatz wurden diese Aspekte vertieft.

Mack-Andrick: Johannes Schöner war Pfarrer, Kartograph und Mathematiklehrer am neu gegründeten Nürnberger Egidien-Gymnasium. Er lebte in einer Zeit des Umbruchs. Nicht nur Glauben und Gesellschaft, sondern auch das Weltbild insgesamt waren in stetem Wandel begriffen. Jede neue Entdeckung führte zu einer vollkommen neuen Sicht auf die Welt. Der Schöner-Globus zeigt diese Welt des Umbruchs. Anders als beim noch berühmteren Behaim-Globus aus dem Jahr 1492 ist Amerika hier schon dargestellt, aber noch lange nicht in der korrekten Form als zusammenhängender Kontinent. Schöner zeigte auf diesem Globus auch die noch nicht erforschten Teile der Welt. Er scheute sich nicht, auf einem prächtigen, repräsentativen Globus einen fragilen Zustand der Welterkenntnis zu dokumentieren, der nur eine Momentaufnahm des Wissens zeigen konnte.  Auch wir wissen nicht, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Wichtig ist, Neuerungen und Wandlungen zu registrieren und wahrzunehmen, ihnen Raum und Verortung in der geistigen Weltkarte zu geben. Gleichzeitig ist es nicht verwerflich, die unbekannten Zonen, die Grauzonen und ungeklärten Terrains ebenfalls zu zeigen und mit ihnen selbstbewusst umzugehen. Mit Offenheit und Graubereichen umgehen zu lernen, sie sogar als wesentliche Konstante menschlicher Entwicklung schätzen zu können, ist eine wichtige Kompetenz, die vermittelt werden sollte. 

Selbstorganisation braucht Führung, Haltung und Eigenverantwortung

Mack-Andrick: Als bedeutende Malerin des 18. Jahrhunderts bewies Anna Dorothea Therbusch beispielhaft Haltung und Eigenverantwortung. Nach Heirat und Geburt mehrerer Kinder verwirklichte sie ihre künstlerische Karriere erst spät in ihren mittleren Lebensjahren, in einer Zeit, die Frauen so gut wie keine Möglichkeit zu beruflicher und persönlicher Selbstverwirklichung bot. Sie arbeitete im Ausland, war Mitglied der Pariser und Wiener Kunstakademie und höchst erfolgreich. Im Selbstbildnis zeigt sie sich selbstbewusst im Alter mit Einglas und Buch als intellektuelle Künstlerin. Ihr lebhafter, wacher Blick aus dem Bild heraus spricht uns unmittelbar an und zeugt von ihrer starken Persönlichkeit. Mit dieser großen inneren Stärke überwand sie soziale Hürden und fand zu einem eigenbestimmten Leben – unterstützt von ihrem Ehemann, einem Gastwirt, der sie – höchst ungewöhnlich für die Zeit – nicht an der Verwirklichung ihrer Ziele hinderte. Dies zeigt, dass Selbstorganisation und Haltung gegen widrige Umstände leichter zu verfolgen sind, wenn es Verbündete, Vertraute und Unterstützer oder stützende Strukturen gibt.

Scheunpflug: Das Bild von Anna Dorothea Therbusch hat mich daran erinnert, dass wir es versäumt haben, in diesem Symposium explizit zu diskutieren, ob und in welcher Form es sich vielleicht gerade an dieser Stelle lohnen würde, geschlechtersensibel zu diskutieren.
Deutlich wurde auch: Unsichere Zeiten erfordern neue Führungsansätze und vermehrt Kompetenzen in Selbststeuerung und Selbstmanagement. Wie für sich und andere sorgen? „Agilität“ war das neue Stichwort – schnelles Reagieren auf Veränderungen in kleinen Teams. Die Keynote von Bernd Gloger (Gründer, Eigentümer & CEO) hat dieses sehr anschaulich beschrieben. 

„Die Führung durch Schulleitende fördert Agilität vor allem durch Vertrauen, Zutrauen und Unterstützung in und von Lehrkräften. Wertschätzung ist dabei das zentrale Tool für das Erreichen von Agilität.“

Prof. Dr. Annette Scheunpflug

In den verschiedenen Workshops bekam diese Agilität sehr konkrete Züge. Deutlich wurde hier auch die Leistung der Schulleitungen, gerade in den letzten zwei Jahren. Die Führung durch Schulleitende fördert Agilität vor allem durch Vertrauen, Zutrauen und Unterstützung in und von Lehrkräften. Wertschätzung wurde immer wieder als das zentrale Tool für das Erreichen von Agilität herausgestellt. Wertschätzende individuellen Weihnachtsbriefe wurden genauso diskutiert, wie die Funktion von Curricula in einem Freiheiten eröffnenden Schulleitungsverständnis und viele weiteren Anregungen.

Nur wem es selbst gut geht, der kann Wertschätzung ausstrahlen. Deshalb hob der Schulleiter und Lehrerbildner Jürg Schoch (Winterthur) das wichtigste Hilfsmittel der Selbstorganisation für Schulleitungen hervor: Ausgeschlafen sein – Lehrkräfte hätten ein Recht auf eine ausgeglichene und ausgeruhte Schulleiterin und sich selbst immer wieder Rückzugsmöglichkeiten und Anregungspotenziale für das eigene Nachdenken eröffnen. Klar wurde: Nur wer sich selbst schätzt, wie es aus dem Bild von Anna Dorothea Therbusch uns ansieht, kann für sich selbst sorgen und die Entwicklung anderer ermöglichen. 

Ein letzter Gedanke: Digitales Lernen mit Schulleitungen

Die letzte Keynote von Dr. Thomas Riecke-Baulecke ermöglichte über die Digitalisierung als Lernoption nachzudenken – und damit auch die Form des diesjährigen Symposiums zu reflektieren. Lernen ist Kommunikation. Insofern kann die Kommunikation im Internet, die die Sinne beschneidet, den anderen nicht richtig wahrnehmen lässt und in der Konzentration erhebliche Herausforderungen birgt, keine Präsenztagung ersetzen. Das digitale Format erlaubt kaum ein Gruppenerlebnis und baut nur in bescheidenem Maße einen Spannungsbogen auf. Dennoch ermöglicht es aber auch Austausch, gegenseitige Wahrnehmung und die Anregung von Gedanken. DANKE an alle Schulleiterinnen und Schulleiter, sich darauf eingelassen haben! 

Scheunpflug, Annette (2020): 34 Jahre Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis: Schulmanagement und das Bamberger Schulleitungssymposium. In: Zeitschrift für Schulmanagement, H. 5 2020, S. 13-14.