Schulleistungen im Sinkflug
Bildungsökonom Prof. Dr. Ludger Wößmann konstatiert im Interview einen generellen Leistungsverfall an deutschen Schulen und befürchtet einen verstärkten Abwärtstrend durch die Pandemie.
Er warnt vor einem fortschreitenden Leistungsverlust an deutschen Schulen und vermisst den ernsthaften Willen der Politik gegenzusteuern. Aus seiner Sicht wird der seit längerem empirisch belegte Abwärtstrend bei den durchschnittlichen Leistungen der Schülerinnen und Schülern weiter stillschweigend hingenommen und die neu hinzugekommenen coronabedingten Lerndefizite nur halbherzig analysiert und aufgearbeitet. Die Studienlage sei sehr dünn und die Aufholversuche unsystematisch.
Redaktion: Herr Wößmann, die Corona-Pandemie hat an Wucht verloren, aber ob sie wirklich ausklingt, kann derzeit niemand sagen. Sicher ist, dass sie an den Schulen zu beträchtlichen Lerndefiziten geführt hat. Was wissen wir über das Ausmaß, gibt es inzwischen genügend empirische Schulleistungsstudien, um das verlässlich einzuschätzen?
Prof. Dr. Ludger Wößmann: Wirklich umfassend wissen wir das für Deutschland leider nicht. Kürzlich hat eine repräsentative Studie gezeigt, dass die Viertklässlerinnen und Viertklässler hierzulande Mitte 2021 in der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU rund ein halbes Schuljahr zurückliegen, wenn man es mit dem Leistungsstand der Viertklässlerinnen und Viertklässlern an denselben Schulen vor fünf Jahren vergleicht. Ein solch immenser Rückstand ist ein Hinweis darauf, wie groß das Problem ist: So einen Abstieg hat es noch nie gegeben, das ist wirklich besorgniserregend.
Wieviel genau davon auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist, wissen wir allerdings nicht. Aber eine methodisch überzeugende Studie aus den Niederlanden hat gezeigt, dass die Schülerinnen und Schüler nach nur acht Wochen Schulschließungen Lernrückstände in der Größenordnung von einem Fünftel Schuljahr hatten. In dieser Studie wurden die Leistungen derselben Kinder vor und nach den Schulschließungen verglichen. Methodisch vergleichbare Befunde haben wir für Deutschland leider nicht.
„Die für 2021 verfügbaren Tests etwa in Hamburg und Baden-Württemberg deuten tendenziell auf noch größere Lerndefizite hin als erste Ergebnisse aus dem Jahr 2020.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Die wenigen Untersuchungen, die wir in einigen Bundesländern haben, können nur verschiedene Jahrgänge miteinander vergleichen. Damit kann man jedoch nicht herausfinden, inwieweit Unterschiede durch Corona zustande gekommen sind oder auch ohne die Pandemie dagewesen wären. Außerdem haben während der Pandemie mehr Kinder als sonst nicht an den Tests teilgenommen, was die Ergebnisse zusätzlich stark verzerren kann. Die für 2021 verfügbaren Tests etwa in Hamburg und Baden-Württemberg deuten allerdings tendenziell auf noch größere Lerndefizite hin als erste Ergebnisse aus dem Jahr 2020.
Redaktion: Voraussetzung für wirksame Fördermaßnahmen ist eine gründliche Diagnostik in welchen Bereichen und bei welchen Schülergruppen Leistungseinbrüche erfolgt sind. Wird das im Moment systematisch untersucht?
Wößmann: Von systematischer Untersuchung kann leider keine Rede sein. In den meisten Bundesländern scheint es mir eher ein Durchwurschteln zu sein – ohne ernstgemeinten Versuch, die wirkliche Lage gründlich zu erfassen. Viele haben den Eindruck, dass es hier am politischen Willen mangelt, die entsprechenden Daten zu erheben.
Dabei legen die Befunde aus der Forschung nahe, dass die Leistungen benachteiligter Kinder und Jugendlicher besonders unter der Pandemie gelitten haben – bei leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern und bei solchen aus bildungsfernen Familien. Deshalb ist zu befürchten, dass die Ungleichheiten zunehmen werden. Um dem entgegenzuwirken, sollten Fördermaßnahmen gezielt auf benachteiligte Kinder und Jugendliche ausgerichtet und ihre Familien unterstützt werden.
Redaktion: Sie haben erst kürzlich auf der Grundlage einer Metaanalyse von Schulleistungstests der vergangenen 20 Jahre darauf hingewiesen, dass die Leistungen von Schülerinnen und Schülern in Deutschland seit 2010 dramatisch abgenommen haben. Jetzt kommen die coronabedingten Defizite hinzu. Ist damit ein weiterer Abstieg vorprogrammiert?
Wößmann: Ich fürchte, die einzig ehrliche Antwort ist „ja“. Ich hatte mir alle repräsentativen Tests deutscher Schülerinnen und Schüler bis 2019 angeschaut, die über die Zeit vergleichbar sind. In Mathematik, Naturwissenschaften und Deutsch sind das insgesamt 43 Tests in PISA, TIMSS, IGLU und IQB-Bildungstrend.
Das Ergebnis war ein „trauriges Smiley“, ein umgekehrtes U: Seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 waren die Leistungen bis 2010 nämlich zunächst deutlich angestiegen, um grob 70 bis 90 Prozent dessen, was Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt in einem Schuljahr lernen. Aber seit 2010 sind 60 Prozent des vorherigen Anstiegs wieder verloren gegangen. Bei diesem starken Rückgang sind die Pandemie-Effekte noch gar nicht abgedeckt.
„Die meisten Schulen scheinen sich mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht nur noch wenig Gedanken darüber zu machen, wie man digitale Technologien nachhaltig und fruchtbar im Unterricht einsetzen kann.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Redaktion: In Kommentaren zu ihrer Studie haben Sie der Bildungspolitik vorgeworfen, sie habe den empirisch belegten Leistungsrückgang stillschweigend hingenommen und nicht beherzt gegengesteuert. Wie beurteilen Sie das aktuell? Sehen Sie Anzeichen, dass Corona ein heilsamer Weckruf sein kann?
Wößmann: Ich wäre hier gerne optimistisch, aber ich sehe dafür ehrlich gesagt wenig Anlass. Klar, viele Schulen haben einen Digitalisierungssprung gemacht. Aber ich kann nicht erkennen, dass der wirklich auf breiter Front in allen Schulen für alle Kinder da ist, und auch nicht, dass er dauerhaft Wirkung entfaltet. Die meisten Schulen scheinen sich mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht nur noch wenig Gedanken darüber zu machen, wie man digitale Technologien nachhaltig und fruchtbar im Unterricht einsetzen kann.
„Ich sehe keine Strategie der Politik, wie sie den langfristigen Abwärtstrend umkehren will.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Noch mehr gilt das für die Bildungspolitik: Von einem Weckruf kann keine Rede sein. Ich sehe auch keine Strategie der Politik, wie sie den langfristigen Abwärtstrend umkehren will, geschweige denn Corona zum Anlass nehmen würde für einen großen Wurf. Im letzten Sommer hat die Leopoldina in ihrer Stellungnahme zu den Konsequenzen der Coronavirus-Pandemie darauf hingewiesen, dass eine der Ursachen für die Leistungsdefizite des staatlichen Schulsystems während der Pandemie in einem Mangel an klaren politischen Leitlinien und Vorgaben lag. Zum Beispiel hätten explizite Anweisungen für verpflichtenden täglichen Online-Unterricht per Videokonferenz bei Schulschließung viel verändern können. Diese hat es bis zum Schluss nicht gegeben. In wichtigen Fragen wie der Bereitstellung rechtssicherer und datenschutzkonformer digitaler Kommunikationsplattformen müsste es länderübergreifende Rahmenregelungen und Standards geben. Es mangelt an klaren Vorgaben und deren Kommunikation.
„Geld allein führt noch nicht zu besseren Bildungsergebnissen.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Redaktion: Um etwas zu bewirken, ist eine angemessene Finanzierung des Bildungssystems unerlässlich, aber Geld allein ist offenbar nicht genug. Zwischen 2010 und 2020 sind die Bildungsausgaben um 50 Prozent gestiegen. Und für das Corona-Aufholprogramm stehen jetzt immerhin zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Was ist noch nötig, um die Abstiegsspirale bei den Schülerleistungen zu beenden?
Wößmann: Es gibt in der Tat wenig Belege dafür, dass das Niveau der Bildungsausgaben ein zentraler Einflussfaktor auf die Leistungsergebnisse ist. Länder, die die Ausgaben stärker erhöht haben, sind bei den Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler nicht systematisch besser geworden. Geld allein führt noch nicht zu besseren Bildungsergebnissen. Es kommt darauf an, wie die Mittel verwendet werden. Das Entscheidende ist, dass wir immer vom Ergebnis her denken sollten: Haben die Kinder und Jugendlichen das gelernt, was sie für ihr Leben benötigen?
„Bei den zusätzlichen Corona-Fördermitteln scheint niemand darauf zu schauen, ob die Mittel so eingesetzt werden, dass sie den Kindern und Jugendlichen wirklich helfen.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Zudem ist nicht sichergestellt, dass die Mittel die Schulen auch wirklich erreichen. Mit dem Digitalpakt Schule lagen seit 2019 Milliarden auf dem Tisch. Bis Sommer 2020 war davon nicht einmal ein halbes Prozent abgerufen. Das liegt stark an den komplizierten föderalen Zuständigkeitsstrukturen und Verwaltungsprozessen. Ich fürchte, wenn wir daran nichts ändern, werden wir nicht vorankommen. Und auch bei den zusätzlichen Corona-Fördermitteln scheint niemand darauf zu schauen, ob die Mittel so eingesetzt werden, dass sie den Kindern und Jugendlichen wirklich helfen.
Redaktion: Sie sind Experte für Bildungsökonomie. Angesichts der allgemeinen Entwicklung der vergangenen Jahre und der besonderen Situation durch die Pandemie, welche Folgen befürchten Sie für die Volkswirtschaft und die Bildungskarrieren der jetzigen Schülergeneration?
Wößmann: In der empirischen Wirtschaftsforschung gibt es kaum robustere Befunde als den positiven Einfluss von Schulbesuch und Kompetenzerwerb auf wirtschaftlichen Wohlstand. Bildungsleistungen – die Basiskompetenzen, wie sie etwa in den internationalen Schülertests gemessen werden – sind ein entscheidender Faktor sowohl für das individuelle Einkommen am Arbeitsmarkt als auch für das langfristige Wachstum von Volkswirtschaften insgesamt.
„Die vermittelten Basiskompetenzen sind also die Grundlage der zukünftigen Lebenschancen der Kinder und unseres zukünftigen Wohlstands.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Die Bildung der Bevölkerung ist das „Wissenskapital“ der Nationen. Die bestehenden Forschungsergebnisse legen nahe, dass die in einem halben Schuljahr erworbenen Kompetenzen mit fast 5 Prozent höheren Lebenseinkommen einhergehen. Volkswirtschaftlich bedeutet ein Kompetenzverlust von einem halben Schuljahr in den von Corona betroffenen Schülergenerationen, dass das Bruttoninlandsprodukt über den Rest des Jahrhunderts über 2 Prozent niedriger ausfallen würde. Die vermittelten Basiskompetenzen sind also die Grundlage der zukünftigen Lebenschancen der Kinder und unseres zukünftigen Wohlstands. Deshalb sollten uns der bisher wenig beachtete fortschreitende Abwärtstrend und die Corona-Lernverluste beunruhigen.
Redaktion: Wenn Sie mit Blick auf unser Thema einen Wunschkatalog an die Adresse derjenigen verschicken müssten, die für die Entwicklung unseres Schulsystems Verantwortung tragen, was stünde da drin?
Wößmann: Als Erstes würde ich mir wünschen, dass die politisch Verantwortlichen ihre Verantwortung nicht auf die Schulen abwälzen, sondern ihrer Aufgabe gerecht werden. Gerade in Krisensituationen sind klare Anweisungen durch die politische Führung wichtig. Und wenn wir den längerfristigen Trend betrachten, dann dürfen Bildungspolitiker nicht so tun, als sei doch alles in Ordnung. Ist es nicht.
„Wenn wir hier nicht ernsthaft vorankommen, dann wird Corona ein bleibendes Vermächtnis hinterlassen.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Was vielleicht den wichtigsten Schub geben könnte, wären deutschlandweite Zwischen- und Abschlussprüfungen. Dadurch würde der Fokus auf die Lernergebnisse der Kinder und Jugendlichen gelegt. Wenn einheitliche Prüfungen das Erlernte deutschlandweit überprüfen, besteht ein verbindliches Ziel, auf das sich Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler in allen Bundesländern vorbereiten müssen. Beispielsweise könnten Prüfungsbestandteile in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch bundesweit in einem gemeinsamen Kernabitur durchgeführt werden. Das würde die Transparenz und Vergleichbarkeit der Bildungsleistungen erhöhen und so zu einer Sicherung der Bildungsqualität beitragen. In ähnlicher Weise sollten bundesweite Prüfungsbestandteile in den anderen Schulabschlüssen eingeführt werden. Durch bundesweite Zwischenprüfungen in ausgewählten Jahrgangsstufen könnten Eltern und Wähler:innen sehen, ob das Schulsystem die Kinder und Jugendlichen in ihrem Bundesland erfolgreich vorbereitet.
Wenn wir hier nicht ernsthaft vorankommen, dann wird Corona ein bleibendes Vermächtnis hinterlassen: in den Bildungskarrieren und Lebenseinkommen der betroffenen Schülerinnen und Schüler, in geringerem volkswirtschaftlichem Wachstum und in zunehmender Ungleichheit der Gesellschaft.
Redaktion: Herr Professor Wößmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Prof. Dr. Ludger Wößmann ist Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik und Professor für Volkswirtschaftslehre am Center for Economic Studies (CES) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem Bildungsökonomik, Wachstumsökonomik, Politikevaluation und Meinungsforschung.