Schulleitungen der Zukunft – von Verwaltern zu kreativen Gestaltern

Prof. Dr. Marcus Pietsch spricht im Interview darüber, welche bildungswissenschaftlich fundierten Erkenntnisse es über die Rolle von Schulleitungen gibt und was erfolgreiche Leadership bewirken kann.

Was weiß die Wissenschaft über das Wirken von Schulleitungen? Welche Erkenntnisse hat die Bildungsforschung etwa zum Einfluss auf den Lernerfolg? Und wie wandelt sich ihre Position im Angesicht neuer Herausforderungen? Darüber spricht Marcus Pietsch, Professor für Bildungsmanagement und Qualitätsentwicklung, im Interview.

Redaktion: Herr Professor Pietsch, was weiß die Forschung darüber, wie Schulleitungen in Deutschland agieren und führen? Und welche Auswirkung ihr Handeln hat?

Prof. Dr. Marcus Pietsch: Das ist eine spannende Frage und die Antwort lautet: Sehr wenig! Obwohl die internationale Forschung zur Wirksamkeit von Schulleitungen eine Vielzahl von Befunden generiert hat, fehlen entsprechende Befunde in Deutschland weitestgehend. Hierzulande gibt es kaum empirische Forschung zum Thema und wir machen uns gerade erst auf den Weg dies herauszufinden. Das ist auch einer der Gründe, warum die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) meine Arbeit zum Thema mit einer DFG-Heisenberg-Professur fördert; um genau diese Fragen erstmalig im deutschsprachigen Raum systematisch zu untersuchen.

Aus vielen internationalen Untersuchungen wissen wir aber, dass es insbesondere eine lernorientierte Führung – im Englischen: Leadership for Learning – ist, die Wirkung an Schulen entfaltet. Schulleitungen, die erstens den Unterricht in den Blick nehmen, zweitens die Mitarbeitenden an der Schule in deren Kompetenzentwicklung und Innovationsfähigkeit fördern und drittens Führungsverantwortung sukzessive im Kollegium verteilen, sorgen dafür, dass auf allen Ebenen von Schule erfolgreich gelernt wird. Auf diesem Wege führt Führung an Schulen zu Schulentwicklung und besseren Schülerleistungen.

Die ersten Befunde aus Deutschland deuten darauf hin, dass es sich hier zumindest ähnlich verhält, wobei die Studienlage doch recht übersichtlich ist. Was wir aber sehen ist, dass sich das Tätigkeitsprofil von Schulleitungen in den letzten drei Jahren deutlich gewandelt hat. Vor Corona haben Schulleitungen in Deutschland die meiste Arbeitszeit darauf verwendet Bewährtes zu optimieren und zu verwalten; infolge der Pandemie hat sich dies deutlich gewandelt. Mittlerweile verbringen Schulleitungen in Deutschland einen Großteil ihrer Arbeitszeit damit sich und ihre Schulen fit für die Zukunft zu machen und Neues auszuprobieren. Aus internationalen Vergleichsstudien wissen wir, dass das bei uns anders ist, als in anderen europäischen Staaten, zum Beispiel der Schweiz, wo die Corona-Pandemie keinen solchen Tätigkeitswandel mit sich gebracht hat.

Leadership for Learning

„Leadership for Learning" ist in der Regel ergebnisorientiert, rückt den Kompetenzerwerb von Lernenden in den Fokus. Im Gegensatz zu anderen Modellen wie „Instructional Leadership" betont das Konzept den Zusammenhang von Führung an Schulen und dem schulischen Kontext sowie die Verteilung von Führungsverantwortung im Kollegium. Das übergreifende Ziel von Leadership for Learning ist sicherzustellen, dass sich alle an einer Schulen gemeinsam auf das konzentrieren, was notwendig ist, um den Lernerfolg ihrer Schüler:innen zu gewährleisten.

Redaktion: Welche Forschungserkenntnisse gibt es  zum Einfluss von Schulleitungen auf den Erfolg von Schule und das Lernen von Schülerinnen und Schülern? Haben Schulleitungen hier einen relevanten Einfluss?

Pietsch: International betrachtet eindeutig: Ja. Es gibt sogar Kolleg:innen, die davon sprechen, dass die Schulleitung nach dem Unterricht die zweiwichtigste Quelle für den Lernerfolg von Schüler:innen darstellt. Dies nicht zuletzt auch deswegen, weil Schulleitungen für ganze Systeme verantwortlich sind, also Wirkung in der Fläche entfalten. Dabei wirken Schulleitungen aber indirekt, indem sie gute Lehr- und Lernbedingungen an Schulen her- und sicherstellen. Das wirkt sich dann mittelbar auf den Unterricht und das Lernen von Schüler:innen aus. Wichtig ist aber auch, dass Schulleitungen dazu beitragen können, im Lernprozess soziale Unterschiede  auszugleichen und damit die Spreizung bei den Lernergebnissen zu reduzieren. So sehen wir zum Beispiel, dass Schulleitungen, die darauf achten, dass der Unterricht an einer Schule dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu wirksamen Unterricht entspricht, und die darüber mit den Lehrkräften an ihrer Schule ins Gespräch gehen, dafür sorgen, dass soziale Unterschiede verringert werden und insbesondere Schüler:innen mit weniger lernförderlichen familiären Herkunftsbedingungen bessere Lernergebnisse erzielen können.

Auch für die Schulentwicklung gelten Schulleitungen als entscheidende Akteure. Hier zeigt die Forschung: Ohne Führung beziehungsweise Leadership an Schulen findet keine gelingende Schulentwicklung statt. Wie und wohin sich Schulen als Organisationen entwickeln, hängt ganz entscheidend von den Zielen ab, die eine Schulleitung gemeinsam mit der Schulgemeinschaft in den Blick nimmt. Es geht um eine Zukunftsvision für die Schule. Was will man eigentlich gemeinsam erreichen und auf welche Art und Weise soll dies geschehen? Schulleitungen schaffen so Inspiration und Motivation für andere, sich mit Herausforderungen und Veränderungen auseinander zu setzen und diese gemeinsam anzugehen, um eine andere – vielleicht sogar bessere – Schule für alle zu schaffen.

„Entwicklung von Schule kann nur gelingen, wenn man sie ganzheitlich verändert, das heißt das Lernklima, die Entwicklungsmöglichkeiten der Lehrpersonen und die Standards für den Unterricht in einer von gegenseitigem Vertrauen geprägten Atmosphäre gleichzeitig in den Blick nimmt.“

Prof. Dr. Marcus Pietsch

Redaktion: Auf welche Hindernisse stoßen Schulleitungen dabei?

Pietsch: Die große Herausforderung dabei ist, dass Schulen sehr komplexe Systeme mit einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure sind, die in spezifischen Kontexten agieren. Daher gibt es kein Rezept, wie man Schule verändern kann, weil jede Situation anders ist. Hinzu kommt, dass Entwicklung von Schule nur gelingen kann, wenn man Schule ganzheitlich verändert, das heißt das Lernklima, die Entwicklungsmöglichkeiten der Lehrpersonen und die Standards für den Unterricht in einer von gegenseitigem Vertrauen geprägten Atmosphäre gleichzeitig in den Blick nimmt. Lässt man nur einen Punkt außer Acht, das zeigen verschiedene langjährige Untersuchungen, scheitert Schulentwicklung in der Regel. Ich finde, der Kollege Anthony Bryk hat das einmal sehr schön ausgedrückt: „Schulentwicklung ist ähnlich wie das Backen eines Kuchens. Wenn eine Zutat fehlt, ist es einfach kein Kuchen."

Redaktion: Sie haben unter anderem zum Thema Selbstwirksamkeit von Schulleitungen geforscht und wie sich diese auf die Innovationsfähigkeit von Schulen in der Corona-Pandemie auswirkte. Was konnten Sie hierzu feststellen?

Pietsch: Das ist tatsächlich interessant. Dafür muss man wissen, dass wir im Jahr 2019 die Studie Leadership in German Schools gestartet haben, die das Ziel hatte, erstmalig repräsentative Befunde zu Schulleitungen in Deutschland zu generieren. Gemeinsam mit forsa haben wir eine für Deutschland repräsentative Zufallsstichprobe von Schulleitungen befragt und gesehen, dass die meisten Schulleitungen in Deutschland das Amt mit dem Ziel angetreten haben, in dieser Position neue Ideen zu entwickeln und zu erproben. Schulleitungen wollen also vor allem kreativ-gestaltend tätig werden; finanzielle Motive oder ein möglicher Prestigegewinn waren übrigens keine relevanten Gründe in das Amt zu wechseln. 

Die meisten Schulleitungen waren vor Beginn der Pandemie – im Herbst 2019 – auch davon überzeugt, dass sie es an ihrer Schule gemeinsam schaffen werden, pädagogische Projekte umzusetzen, auch wenn Schwierigkeiten auftreten und dass sie Innovationen auch gegenüber skeptischen Lehrkräften durchsetzen können. Die Schulleitungen hatten also eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung auch in schwierigen Situationen gemeinsam mit den Kollegien Neuerungen auf den Weg bringen zu können. Nun konnte damals natürlich niemand ahnen, dass eine solch extrem schwierige Situation nur sechs Monate später, mit der Corona-Pandemie, vor der Tür stehen würde. Als die Pandemie ausbrach und es an den Schulen in Deutschland zu bislang nie erlebten Ausnahmesituationen kam, haben wir dann die Möglichkeit genutzt dieselben Schulleitungen erneut zu befragen – was eigentlich gar nicht geplant war – und haben da unter anderem danach gefragt, was sich denn an ihren Schulen im Rahmen der Schulschließungen mit Blick auf pädagogische Dinge verändert hat und wie stark diese Veränderungen waren. 

Redaktion: Was haben die Schulleitungen geantwortet?

Pietsch: Das Ergebnis war erstaunlich: An denjenigen Schulen, an denen Schulleitungen vor Beginn der Pandemie davon überzeugt waren, dass es Ihnen auch unter widrigen Umständen gelingen könnte Innovationen umzusetzen, gelang dies während der ersten Schulschließungen tatsächlich besser – hier wurden mehr und vor allem auch umfassendere Veränderungen vorgenommen, um unter den dynamischen Entwicklungen pro-aktiv zu agieren und das Lernen der Schüler:innen zu sichern. Noch erstaunlicher fanden wir übrigens, dass der wahrgenommene Stress der Schulleitungen im Zuge der Schulschließungen abgenommen hatte und die Arbeitszufriedenheit gestiegen war.

Redaktion: Inwiefern unterscheiden sich die Ansätze für Schulleitungen und ihre Wirkung je nach kulturellen und regionalen Gegebenheiten? Lassen sich erfolgreiche Ansätze problemlos in unseren Schulen adaptieren?

Pietsch: Führung funktioniert je nach Kontext ganz unterschiedlich. Das betrifft lokale, regionale, nationale und auch kulturelle Bedingungen. So wissen wir, dass Führung an Schulen in kollektivistisch und macht hierachisch geprägten Kulturen ganz anders funktioniert als in eher liberalen Kontexten, in denen Wert auf individuelle Freiheit und Mitbestimmung gelegt wird. Das betrifft nicht nur das Führungshandeln, sondern tatsächlich auch den Einfluss von Führung auf die Lernergebnisse von Schüler:innen. So zeigt eine recht aktuelle Meta-Analyse, dass der Zusammenhang von Führung und Lernergebnissen dort höher ist, wo liberale Freiheit weniger stark ausgeprägt ist.

Man muss aber auch dazu sagen, dass etwa 95 Prozent der Studien zur wirksamen Führung an Schulen aus dem anglophonen Raum, also Australien, Großbritannien, Kanada, den USA und so weiter stammen. Auch wie und was wir über Führung an Schulen denken, ist maßgeblich durch den Diskurs in diesen Ländern geprägt. Ein gutes Beispiel dafür ist das Konzept der Instruktionalen Führung – Englisch: Instructional Leadership –, das aus den USA der 1940er-Jahre stammt. Lange Zeit war dies eigentlich ein Begriff für schulische Führungskräfte, die sich um den Unterricht kümmern und eine Idee, die in der Führungsforschung kaum eine Rolle spielte. In den 1970er-Jahren wurde es jedoch auf einmal ein wichtiges Konzept, als es darum ging Faktoren zu finden, die dabei helfen Schule besser beziehungsweise effektiver zu machen. Im Zuge der weltweiten Bewegung zur schulischen Outputorientierung wurde das Konzept dann global exportiert, man spricht hier von Policy Borrowing. 

Die Hattie-Studie tat ihr Übriges, weil hier Instruktionale Führung als der wirksamste Führungsstil mit Blick auf Schülerleistungen dargestellt wurde, was zur Folge hatte, dass Bildungsadministrationen und Bildungsforschende weltweit begannen auf dieses Konzept zu setzen und zu propagieren, das Relevanteste, was eine Schulleitung tun könne, sei, den Unterricht in den Blick zu nehmen. Beachtet hat dabei aber niemand, dass die meisten Studien, die diesem Befund zugrunde lagen aus den USA und weiteren anglophonen Ländern stammten und dass diese sich darüber hinaus überwiegend auf Grundschulen bezogen. Insofern hat es ein Konzept, dass in den USA der 1940er-Jahre entstand und dessen Wirksamkeit vor allem für anglophone Grundschulen belegt wurde, in viele Schulen der ganzen Welt geschafft. Ob es da tatsächlich wirkt, wissen wir in der Regel jedoch nicht.

„Schulleitungen werden mehr und mehr zu aktiven Gestalter:innen von Schule und benötigen entsprechende Kompetenzen.“

Prof. Dr. Marcus Pietsch

Redaktion: Welche Herausforderungen und Veränderungen sehen Sie in der heutigen Zeit auf Schulleitungen zukommen und wie können diese sich dafür wappnen?

Pietsch: Die Herausforderungen für Schulleitungen werden nicht weniger: Globalisierung, multiple Krisen und neue Technologien stellen schulische Führungskräfte vor viele neue Aufgaben, auf die sie zumeist nicht vorbereitet sind. Dazu kommen hausgemachte Probleme, wie der Mangel an Lehrkräften an Schulen in Deutschland. Vorbereiten kann man sich kaum auf eine ungewisse Zukunft. Was wir aber wissen ist, dass es Führungskräften in solchen Szenarien hilft über ein paradoxes Mindset zu verfügen, das es ermöglicht, sich konkurrierenden Erwartungen und Herausforderungen zu stellen. Es geht dann darum nicht in Schwarz und Weiß beziehungsweise Entweder-oder sondern in Sowohl-als-auch zu denken und entsprechende Spannungen auszuhalten: Das heißt beispielsweise in der Lage zu sein sowohl das aktuelle Tagesgeschäft zu managen als auch kreative Lösungen für mögliche zukünftige Herausforderungen zu entwickeln, also das Eine zu tun ohne das Andere zu lassen. Auch das Verteilen von Führung ist eine gute Idee: Je besser Führungsverantwortung im Kollegium verteilt ist, desto besser funktionieren Schulen in der Regel. Denn verteilte Führung funktioniert als eine Art 'Kitt', der dazu beiträgt, dass Personen Verantwortung übernehmen und Schulen durch unerwartete Veränderungen und Disruptionen nicht so leicht zu erschüttern sind. 

Redaktion: In welcher Weise wird sich Digitalisierung und KI auf die Arbeit von Schulleitungen auswirken?

Pietsch: Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass Führung an Schulen in der Zukunft eine zunehmend größere Rolle spielen und der Anteil an Managementaufgaben für Schulleitungen deutlich zurückgehen wird. Die Zunahme von Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt wird auch vor Schulen nicht halt machen. Für Schulleitungen bedeutet dies, dass sie über Kurz oder Lang weniger Routineaufgaben bewältigen und mehr Zeit für Personalführung und Innovationsmanagement aufwenden werden müssen. Sie werden also in nicht allzu ferner Zukunft viel weniger standardisierte Aufgaben übernehmen und stattdessen deutlich mehr kreative Tätigkeiten als bislang ausführen müssen. Auch werden ethische Fragen und Dinge wie Empathie und Intuition das Alltagsgeschäft von Schulleitungen viel stärker als bislang prägen. Schulleitungen werden entsprechend mehr und mehr zu aktiven Gestalter:innen von Schule werden und entsprechende Kompetenzen benötigen. Das Gute daran ist: Das kann man lernen!

Redaktion: Herr Professor Pietsch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Marcus Pietsch ist DFG-Heisenberg-Professor für Bildungsmanagement und Qualitätsentwicklung an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Führung, Innovationsmanagement und Qualitätsentwicklung an Schulen.