Unterstützung für Brennpunktschulen: Was Schulleitungen wirklich hilft
Prof. Dr. Stephan Gerhard Huber spricht im Interview darüber, welche Schulen besonders gefordert sind und warum sie schnelle Erfolgserlebnisse brauchen
Wenig Personal, viel Heterogenität: An sogenannten Brennpunktschulen stehen Lehrkräfte und Schulleitungen unter extremen Druck. Programme wie „impakt schulleitung” versuchen genau hier Abhilfe zu schaffen. Ob und wie ihnen das gelingt, erklärt Prof. Dr. Stephan Gerhard Huber im Interview.
Redaktion: Herr Professor Huber, Sie haben in Ihrer Studie das Programm „impakt schulleitung” untersucht, das sich der Unterstützung von Brennpunktschulen verschrieben hat. Was war der Ausgangspunkt dieses Programms und Ihrer Studie?
Professor Dr. Stephan Gerhard Huber: Wir sehen seit vielen Jahren, wie sehr sich die Qualität von Schulen von Standort zu Standort unterscheidet und, dass Schulen, die stärker gefordert sind, auch mehr Unterstützung brauchen. An diesen stark geforderten Brennpunktschulen finden wir einen relativ hohen Anteil an Schülern aus nicht-privilegierten Familien, bei denen die Unterstützung der Kinder von Seiten der Eltern im Bereich Bildung weniger gegeben ist als an anderen Standorten. Daher müssen Brennpunktschulen sowohl im Hinblick auf den kognitiven Lernerfolg als auch auf die emotionale, soziale und motivationale Unterstützung mehr leisten, um die sozio-ökonomischen Benachteiligungen zu kompensieren. Und: Viele dieser Schulen kämpfen parallel mit teils extremem Personalmangel und Unterrichtsausfall. Sie sind also doppelt beansprucht und teilweise auch überlastet und am Limit. Das Programm „impakt schulleitung” der Wübben Stiftung, das wir wissenschaftlich begleitet haben, kam zur richtigen Zeit und hat uns mit unserer Studie ermöglicht, tief in die Wirkmechanismen dieser Schulen hineinzuschauen und zu fragen: Was hilft in solchen wirklich drastischen Kontexten? Darüber hinaus haben wir das Projekt „School Turnaround – Schulen starten durch“ in Berlin begleitet und begleiten aktuell auch über mehrere Jahre das Projekt „Perspektivschulen“ in Schleswig-Holstein.
Redaktion: Was ist die Antwort auf diese Frage? Was hilft am besten?
Huber: Zumindest nicht zwangsläufig, einfach mehr Geld zu geben. Ressourcen, die die Schulen eigenständig je nach Bedarf verwenden können, sind zwar auch wichtig. Doch wir stellen in unseren Studien fest, dass durchdachte Strategien mit schulspezifischen und machbaren Zielen sowie geeigneten Maßnahmen viel wichtiger sind. Und das ist bei „impakt schulleitung” gut gelungen: Schulleiterinnen und Schulleiter werden gecoacht, Steuerungsgruppen bekommen eine Prozessbegleitung neben zusätzlichen Finanzen und einer dreijährigen Fortbildung der Schulleitung. Es geht bei den Beratungsansätzen wie Coaching und Prozessbegleitung nicht um eine aufwändige Addition, nicht darum, noch Aufgaben draufzusetzen. Wenn Kolleginnen und Kollegen am Limit sind, haben sie keine Kraft für Fortbildungen und viele zusätzliche Aktivitäten. Es geht eher um Unterstützung in der Frage, wie man schafft, was konkret ansteht – sehr zielorientiert, sehr strategisch, sehr effizient. Dazu gehört auch: Bewährtes zu bewahren und Dinge, die man bereits macht, zu optimieren, aber auch an manchen Stellen bewusst Neues auszuprobieren und Wichtiges zu innovieren. Kurz: BIO, also Bewahren, Innovieren und Optimieren zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Einzelschule. Und zwar immer vor dem Hintergrund der Machbarkeit mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Nicht Luftschlösser bauen, nicht gar utopische Visionen, die in weiter Ferne liegen, definieren – sondern sehr konkret überlegen: Was machen wir in diesem Jahr? Man muss sich klar machen, dass diese extrem belasteten Schulen und Kollegien „quick wins” brauchen, schnelle Erfolgserlebnisse. Und die setzen eine klare Planung voraus, die Anspruch und Realität vereint.
„Es macht viel aus, wenn der akute Leidensdruck an Schulen sinkt und das Kollegium merkt, an gewissen Fronten gibt es schnellen, hilfreichen Fortschritt.“
Professor Dr. Stephan Gerhard Huber
Redaktion: Können Sie uns ein Beispiel geben für solche „quick wins”, die Ihnen im Rahmen des Projekts begegnet sind?
Huber: Da gibt es zahlreiche Beispiele. Sie können in jede Schule gehen und jede Lehrkraft, jede Schulleiterin und jeden Schulleiter fragen: Was hilft dir jetzt sofort? Man bekommt sofort konkrete Antworten wie „Wir brauchen einen Vertretungslehrer.” Oder: „Wir brauchen Tablets.” Jede und jeder kann sofort sagen, was ihr oder ihm hilft. Manches Ziel ist natürlich etwas unrealistischer, aber alle haben sehr konkrete Vorstellungen. Ein Beispiel: Wir hatten eine Schule, da haben regelmäßig Mädchen der achten Klasse nach der vierten Stunde die Schule verlassen. Daraufhin wurde überlegt, den leicht zu überwindenden Zaun um die Schule zu erhöhen. Im Gespräch mit den Schülerinnen wurde dann aber klar, warum die Mädchen verschwanden: Sie ekelten sich davor, auf die Toiletten in ihrem derzeitigen Zustand zu gehen. Daraufhin wurde geklärt, was es kosten würde, zumindest eine der Mädchentoiletten über die Sommerferien zu sanieren. Heraus kam: Die Kosten waren deutlich geringer als die für die Erhöhung des Schulzauns. Ein gutes Beispiel für konkrete Lösungen, die nicht an Symptomen ansetzt, sondern an Ursachen, - und ganz konkret: Hier wurde eine Lösung für ein Problem gefunden, tatsächlich Abhilfe geschaffen in einem effizienten Aufwand-Nutzen-Verhältnis. Wichtig dabei: Die Lösung forderte vom Schulträger eine gewisse Flexibilität, er wollte zu einem späteren Zeitpunkt in einigen Jahren lieber das gesamte Gebäude sanieren. Doch durch die vorzeitige Teilsanierung konnte ein akutes Problem schnell behoben werden. Ich würde nicht die ganze Schulstrategie auf „quick wins” auslegen, aber es macht viel aus, wenn der akute Leidensdruck an Schulen sinkt und das Kollegium merkt, an gewissen Fronten gibt es schnellen, hilfreichen Fortschritt.
Das Projekt „impakt schulleitung”
„impakt schulleitung” ist ein Programm der Wübben Stiftung, das Schulleiterinnen und Schulleiter von Schulen in schwachem sozialen Umfeld bei der Weiterentwicklung ihrer Schule unterstützt. Es wurde in den Jahren 2014 und 2015 entwickelt und seitdem laufend umgesetzt und für mehrere Bundesländer adaptiert. Über die Website des Projekts (Link unter diesem Artikel) können sich Interessierte über aktuelle Durchläufe informieren und für einen Newsletter anmelden, der über den Start eines neuen Programmdurchlaufs informiert. Das Programm läuft über drei Jahre und setzt sich aus fünf Bestandteilen zusammen: (1) Akademieveranstaltungen bieten mehrtägige Möglichkeiten für Austausch, Vernetzung und Fortbildung, sie finden in den drei Jahren neunmal statt und begleiten die Schulleitungen bei der Planung und Umsetzung ihrer individuellen, schulischen Entwicklungsvorhaben mit thematischen Inputs, Impulsvorträgen und Praxisberichten. Beim (2) Coaching werden Schulleiter:innen professionelle Coaches zur Verfügung gestellt, die in Ein-zu-eins-Gesprächen die persönliche Weiterentwicklung der Teilnehmenden auf vertraulicher Basis begleiten. Sogenannte Boxenstopps sind halbtägige Veranstaltungen am Nachmittag mit dem Ziel, den Erfahrungsaustausch und die Vernetzung der Schulleiterinnen und Schulleiter mit verschiedenen akademieexternen Personengruppen zu fördern. Die (3) Schulentwicklungsbegleitung umfasst weiterhin eine Unterstützung an der Schule über drei Jahre durch eine/n Schulentwicklungsbegleiter:in. Hinzu kommen Zahlungen aus einem (4) Entwicklungsfonds zur Finanzierung von Entwicklungsvorhaben und Schulentwicklungsprozessen im Umfang von 3000 Euro. Verbindendes Element aller Ebenen und gemeinsamer roter Faden im Programm ist das (5) schulische Entwicklungsprojekt, das die Schulleiter:innen während der drei Programmjahre anleiten und mit den Teams an ihren Schulen entwickeln, vorbereiten, durchführen und auswerten. Die wissenschaftliche Begleitung des Programms erfolgt durch ein Team unter der Leitung von Prof. Dr. Stephan Gerhard Huber vom Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie (IBB) der Pädagogischen Hochschule Zug. Begleitet wurden drei Kohorten, die am Programm „impakt schulleitung” von 2015 bis 2020 in Nordrhein-Westfalen teilgenommen haben.
Redaktion: Können Sie umreißen, wie sich dieser strategische, aber auch auf Machbarkeit fokussierte Ansatz konkret im Programm „impakt schulleitung” manifestiert hat? Wie wurde den Schulen in ihrer Entwicklung geholfen?
Huber: Konkret auf die Bedürfnisse der Schulen heruntergebrochen bedeutet dies meist: Die Schulen brauchen Personal, sie brauchen Ressourcen und eine konzertierte Aktion von Schulträger und Schulaufsicht. Wir sehen in unseren Befunden außerdem, dass die Beratungsangebote sowohl in ihrer Qualität wie auch in ihren Auswirkungen sehr positiv eingeschätzt wurden. Deren Qualität ist also entscheidend, sie müssen gut gemacht sein und von kompetenten Personen angeleitet werden, auch die Passung zum/zur Schulleiter:in ist dabei wichtig. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist darüber hinaus die Zeit. „impakt schulleitung” läuft über drei Jahre und bietet aufeinander abgestimmte Maßnahmen. Das Programm wird dabei wichtigen konkreten Bedürfnissen gerecht, etwa dem Bedarf von Schulleiterinnen und Schulleitern, über Probleme zu sprechen, die sie mit Kolleginnen und Kollegen haben. Auch Fragen wie die nach der eigenen Rolle werden geklärt oder wie die Schulen mit den vielfältigen Belastungen umgehen. Das Programm ermöglicht es, kontinuierlich konkrete Probleme miteinander zu bearbeiten und dabei auch zu versuchen jenseits von Symptombekämpfung zu Kernmechanismen und -problemen vorzudringen und diese zu lösen. Wichtig ist dabei auch das sogenannte Meta-Learning – also bei der Problemlösung Strategien zu entdecken, die man auch auf neue Probleme erfolgreich anwenden kann.
Redaktion: Welche Rolle spielte die Vernetzung von Schulleitungen innerhalb des Programms?
Huber: In der Schule ist es wichtig, dass man das Kollegium mitnimmt, dass man gemeinsam präventiv und motiviert agiert, dass man mit und von Kolleginnen und Kollegen lernt. Und das gilt auch für Schulleitungen selbst, auch hier ist eine solche Vernetzung sehr fruchtbar. Im Projekt waren das 25 Schulleitungen pro Gruppe, die sich regelmäßig über drei Jahre getroffen und ausgetauscht haben. Eines ist bei diesem Projekt dabei besonders gelungen, wie unsere Evaluation zeigt: Vor dem Hintergrund einer überall spürbaren Wertschätzung wurde eine vertrauensstiftende Kultur aufgebaut, in der diese Verbindungen gedeihen konnten, so dass sich die Schulleiter:innen auch zwischendurch untereinander unterstützen. So lernen Schulleiterinnen oder Schulleiter nicht nur durch die Beratungen und Fortbildung, sondern auch von und mit Kolleg:innen, die ein ähnliches Problem vielleicht bei sich an der Schule bereits erfolgreich gelöst haben.
„Es wäre gut, wenn die Schulaufsicht flexiblere Wissens- und Personalressourcen bereitstellen würde, ganz gezielt für Schulen und Schulleitungen, die weiter aktiv an ihrer Professionalisierung und Entwicklung arbeiten möchten.“
Professor Dr. Stephan Gerhard Huber
Redaktion: Was konnten Sie über die Wirkung des Programms feststellen? Auch gerade im Kontrast zu Schulen, die dieses Programm nicht zur Verfügung hatten?
Huber: Wir sehen, dass sich alle Schulen, die an „impakt schulleitung” teilgenommen haben, verbessert haben im Vergleich mit vergleichbaren Brennpunktschulen. Die Werte waren dabei signifikant, was bedeutet, das Programm hat tatsächlich effektiv den Schulen dabei geholfen, sich zu entwickeln. Diese Entwicklungen zeigen sich etwa darin, dass das Kollegium die Schulleitung als kompetenter wahrnimmt, dass die Schulentwicklung strategischer und kompetenter erlebt wird. Es bilden sich neue Kooperationsformen und Steuerungsgruppen an den Schulen, bessere, effektivere und arbeitsteilige Formen der Zusammenarbeit und ein guter Fokus auf die priorisierten Aufgaben. Dahinter stehen bewusste Entscheidungen darüber, was man gerade angeht und was nicht. Wir merken aber auch, dass sich die Schulleiterinnen und Schulleiter selbst kompetenter und motivierter erleben und dass dies auch auf das gesamte Schulleben einen positiven Effekt hat.
Redaktion: Gibt es nicht eine gewisse Sorge an den Schulen, dass man am Ende des Programms nach Jahren kontinuierlicher Unterstützung zurückfällt und gewisse Effekte des Programms verpuffen?
Huber: Doch, die gibt es und die wurden von den Teilnehmenden auch deutlich formuliert. Es stellen sich für alle Akteure Fragen der Nachhaltigkeit: Gab es genug Meta-Learning? Wie kann das Wissen gesichert werden? Daher werden diese Schulen auch noch zwei Jahre nach Ende des Programms weiter von uns begleitet. Allerdings weiß ich schon jetzt von Schulleitungen, die nach Ende des Programms selbst aktiv werden und geworden sind, um gewisse Unterstützungsstrukturen weiterhin aufrechtzuerhalten. Die Schulen, die durch „impakt schulleitung” sensibilisiert wurden, suchen ganz aktiv danach. Vielen Schulleitungen ist zudem bewusst, dass sie weiterhin Coaching brauchen. Da Programme wie „impakt schulleitung” jedoch nicht unbegrenzt weiterlaufen können, wäre es gut, wenn die Schulaufsicht flexiblere Wissens- und Personalressourcen bereitstellen würde, ganz gezielt für Schulen und Schulleitungen, die weiter aktiv an ihrer Professionalisierung und Entwicklung arbeiten möchten.
Redaktion: Herr Professor Huber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Professor Stephan Gerhard Huber ist Leiter des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie (IBB) der PH Zug und Inhaber des Exzellenz-Lehrstuhls Leadership, Quality Management and Innovation der Linz School of Education, Universität Linz. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen unter anderem Organisationspädagogik, Systemberatung, Bildungsmanagement, Schulqualität, Schulentwicklung, Schulmanagement und die Professionalisierung von Lehrkräften und von pädagogischem Führungspersonal.