Schulreformen – was gut lief, was besser geht

Dr. Larissa Zierow im Interview über Evaluierung und Wirksamkeit von Schulreformen

Bei der EffEE-Konferenz, die am 20. und 21. Mai in München stattfindet, steht die Evaluierung von Schulreformen im Fokus. Dr. Larissa Zierow vom ifo-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München spricht im Interview über erfolgreiche und weniger erfolgreiche Reformen – und wo sie noch Handlungsbedarf sieht.

Redaktion: Frau Dr. Larissa Zierow, bei der EffEE Conference 2022 geht es am 20. und 21. Mai um die Evaluation von Schulreformen. Mit welchen Reformen der vergangenen Jahrzehnte haben Sie sich beschäftigt? Und mit welchen Ergebnissen?

Dr. Larissa Zierow: Eine große Reform, in die auch der Bund viel investiert hat, war die Einführung der Ganztagsschule. Im Zuge der Aufarbeitung des PISA-Schocks 2001 wurde festgestellt, dass im internationalen Vergleich Länder, in denen Schülerinnen und Schüler bessere Leistungen erbringen, meist ein Ganztagsschulsystem haben. Seit 2005 können wir in Deutschland beobachten, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die auf Ganztagsschulen gehen, stark angestiegen ist. In einem Forschungsprojekt (Link zur Studie unter diesem Artikel, Anm. d. Red.), in dem ich mitgewirkt habe, können wir leicht positive Effekte auf die Schülerleistungen feststellen. Dass die Effekte nicht noch größer sind, könnte daran liegen, dass es vielerorts offene Ganztagsschulkonzepte gibt. Das bedeutet, nicht alle Schülerinnen und Schüler sind also tatsächlich den ganzen Tag in der Schule, der Schulbesuch baut stattdessen auf einer freiwilligen Basis auf. Wir gehen davon aus, dass die positiven Effekte gerade für benachteiligte Gruppen größer wären, wenn es sich um verpflichtende Ganztagsschulen handeln würde. 

Ich habe mich außerdem unter anderem mit der Reform des Religionsunterrichts beschäftigt, der – so wurde es im Grundgesetz 1949 festgelegt – an allen Schulen als reguläres Fach angeboten werden muss. In den 70er-Jahren wurde als erstes in Bayern die Wahlfreiheit zwischen Ethik und Religion eingeführt, mit der Zeit haben sie alle Bundesländer übernommen. Wir konnten in Untersuchungen mit drei großen repräsentativen Datensätzen arbeiten, welche die Befragung von Erwachsenen zu ihrer Religiosität zusammenbringen mit dem Bundesland, in dem sie zur Schule gegangen sind. Unsere Methodik rechnet allgemeine Trends in der Bevölkerung und fixe Unterschiede zwischen den Bundesländern heraus, sodass wir die kausalen Effekte der Reform messen können. In den Ergebnissen war zu sehen, dass die Menschen, die schon als Kinder die Wahlfreiheit hatten zwischen Religion und Ethik, später im Leben weniger religiös sind, und weniger oft in die Kirche gehen, weniger oft beten. Und diese Entscheidungsfreiheit hat den Ergebnissen zufolge nicht nur Einfluss auf die Religiosität, sondern auch auf Bereiche wie Geschlechterrollen und die Aufgabenteilung im Haushalt. Auch Verhaltensweisen auf dem Arbeitsmarkt und im familiären Bereich ändern sich, wenn es zu Schulzeiten Ethik als Alternativfach gab. Wir sehen zum Beispiel auch, dass jene Menschen, die keine Religionspflicht in der Schule hatten, mehr Stunden arbeiten und weniger oft verheiratet sind als jene, die keine Wahlfreiheit hatten.

Redaktion: Das sind ja zum Teil erhebliche Folgen, die aus einer solchen Reform hervorgehen. Haben Sie noch weitere Beispiele für Schulreformen, die großen Einfluss auf das spätere Leben der Schülerinnen und Schüler hatten?

Zierow: Ich kann hier etwa auf die Einführung von Wirtschaft als Pflichtfach im Unterricht verweisen. Auch hier konnten wir verschiedene Schullaufbahnen vergleichen, weil die Bundesländer das versetzt eingeführt haben. In dem repräsentativen Datensatz haben wir uns angeschaut, ob man später als Erwachsener unternehmerisch tätig ist, also ob man selbstständig ist, eine Firma, eine Geschäft oder eine Praxis führt. Wir konnten feststellen, dass die Menschen, die als Schülerinnen und Schüler Wirtschaftsunterricht als Pflichtfach hatten, eine um etwa drei Prozentpunkte erhöhte Wahrscheinlichkeit besaßen später unternehmerisch tätig zu sein. 

EffEE-Konferenz

Die EffEE-Konferenz (EffEE steht für Efficiency and Equity in Education) wird gemeinsam vom ifo Zentrum für Bildungsökonomie und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in München ausgerichtet und von CESifo unterstützt. Die Konferenz beleuchtet mit einer Reihe von Vorträgen und Diskussionen, welche Bildungspolitiken dazu beitragen können, die Effizienz und Gerechtigkeit von Bildungssystemen zu verbessern. Sie bringt Forscher zusammen, die untersuchen, wie sich verschiedene Schulreformen auf die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler ausgewirkt haben. Die Tagung ist Teil des von der Leibniz-Gemeinschaft im Rahmen ihres Wettbewerbsverfahrens geförderten Projekts „Effizienz und Bildungsgerechtigkeit: Quasi-Experimentelle Evidenz aus bundesländerübergreifenden Schulreformen“.

Redaktion: Können Sie Beispiele für Reformen nennen, die im Kontrast dazu gescheitert sind und ihre Zielsetzungen und zugedachten Wirkungen verfehlt haben?

Zierow: Ein gutes Beispiel dafür sind Kopfnoten, also Noten, die nicht die Leistungen in einzelnen Fächern bewerten, sondern Bereiche wie Ordnung, Fleiß oder Disziplin. Über diese Noten wurde immer wieder heiß diskutiert in der Gesellschaft und den Medien. Auch hier haben wir die Tatsache genutzt, dass die Bundesländer diese Art von Noten zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt und abgeschafft haben. Unsere Hypothese war, dass wenn diese Noten zu mehr Disziplin führten, das dann auch in besseren Schülerleistungen zu sehen sein würde. Das war nicht der Fall. Wir sehen auch nicht, dass die Noten häufiger zum Gymnasialbesuch führen. Zu sämtlichen Erwartungen, die man zu Kopfnoten entwickeln könnte – dass etwa eventuell das Lernklima besser würde – sehen wir keinerlei Effekt. Über Mikrozensusdaten konnten wir auch den Zeitraum zwischen Schulabschluss und Beginn einer Ausbildung analysieren und ob der sich eventuell verkürzt hat. Auch hier gibt es keinen Effekt. Wir schließen daraus, dass die Reformbemühungen an dieser Stelle umsonst sind und man sich eher auf andere Themen konzentrieren sollte.

„Ich habe den Eindruck, dass es sich lohnt, sich in Reformen mit den tatsächlichen Lern-Inhalten zu befassen.“

Dr. Larissa Zierow

Redaktion: Lässt sich aus Ihrer Forschungserfahrung identifizieren, was eine gute Reform ausmacht? Gibt es Aspekte oder Erfolgsfaktoren, auf die es sich lohnt, Schulreformen zu fokussieren?

Zierow: Das ist eine gute und schwierig zu beantwortende Frage. Ich habe den Eindruck, dass es sich lohnt, sich in Reformen mit den tatsächlichen Lern-Inhalten zu befassen. Wie wir bei dem Thema Religionsunterricht gesehen haben, macht es einen erheblichen Unterschied, mit was man thematisch die Stunden füllt. Bei der Konferenz spricht zum Beispiel Erik Grönqvist von der Universität Uppsala in Schweden auch zu dem Thema, wie man den Matheunterricht verändert durch ein kontinuierliches den Unterricht begleitendes Programm für die Mathe-Lehrerinnen und -Lehrer und veränderte Aufgabenstellungen und welche positiven Auswirkungen das auf die Schülerleistungen hat.

Ich glaube ein guter Ansatz, um Reformen anzusetzen, ist sich klarzumachen: Was ist die Alternative, wenn man nicht reformiert? Welche Anreize werden tatsächlich geschaffen – oder eben auch nicht? Beispiel Kopfnoten. Motivieren diese wirklich die Schülerinnen und Schüler, besser zu werden? Oder gibt es da vielleicht nicht andere, wirkungsvollere Ansätze? Es geht immer darum, sich überlegen, welches Verhalten der Akteure – Lernende, Lehrende, Eltern – man mit gewissen Reformentscheidungen kanalisiert.

Redaktion: Ein Reformthema, welches das deutsche Schulsystem seit langem beschäftigt und auf dem bisher nur begrenzt Erfolge erzielt wurden ist das Thema Bildungsgerechtigkeit. Wo sehen Sie hier eventuell Ansätze, die Situation positiv über Reformen zu verbessern?

Zierow: Es gibt hier drei große Themen, die sich aus Sicht der Bildungsforschung anbieten für diesbezügliche Reformvorhaben. Eins ist die frühkindliche Bildung. Dazu haben wir auf unserer Konferenz auch einige Vorträge, etwa von Mari Rege von der Universität Stavanger in Norwegen, Gabriella Conti vom University College London und Mikko Silliman von der Harvard Universität. Es geht in diesem Bereich um den Versuch, schon durch Besuch von Krippe und Kindergarten Unterschiede vor dem Beginn der Schulzeit auszugleichen, Kinder, die zu Hause wenig Sprachförderung erfahren, entsprechend vorzubereiten. Das frühkindliche Bildungssystem soll dabei idealerweise so aufgestellt sein, dass es qualitativ hochwertige Arbeit leisten kann. Und: Es muss für die Eltern leicht zugänglich sein. Es gibt dazu eine Untersuchung von Philipp Lergetporer von der TU München und seinen Ko-Autoren, die sich angeschaut haben, wie Informationen und Hilfe für Eltern zur Anmeldung ihres Kinds für einen Krippenplatz wirken. Dabei konnte festgestellt werden, dass ein Mehr dieser Informationen und konkreter Hilfe dazu führt, dass deutlich mehr Kinder aus bildungsarmen Familien von ihren Eltern für frühkindliche Angebote angemeldet werden. Alle Eltern mitzunehmen, nicht nur die gut informierten, ist hier also entscheidend. 

„Aus der Forschung ist klar: je später die Schülerinnen und Schüler aufgeteilt werden, desto mehr Bildungschancen gibt es auch für die Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien.“

Dr. Larissa Zierow

Ein anderes Reformthema in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit, dass wir auch im internationalen Vergleich gut analysieren können, ist die frühe Aufteilung der Kinder in verschiedene Schulformen. Sie verstärkt die Ungleichheit zwischen den Schülerinnen und Schülern. Dieser Bereich ist in Deutschland aufgrund der gewachsenen Strukturen sehr schwer zu ändern. Dennoch ist aus der Forschung klar: je später die Schülerinnen und Schüler aufgeteilt werden, desto mehr Bildungschancen gibt es auch für die Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien, etwa weil dann mehr Zeit gegeben wird, sich zu entwickeln und der Bildungserfolg zum Beispiel weniger davon abhängig ist, wieviel Druck die Eltern in der vierten Klasse ausüben.

Ein weiterer Bereich, den Forscherinnen und Forscher bereits evaluiert haben und der wirkungsvoll ist im Bezug auf Bildungsgerechtigkeit ist Mentoring. Das wurde unter anderem in einem Forschungsprojekt meiner Kolleginnen und Kollegen mit Haupt- und Realschülern untersucht, die kurz vor ihrem Schulabschluss standen. Über das Mentoring-Programm wird ihnen eine studentische Mentoren/ein studentischer Mentor an die Seite gestellt, der sich regelmäßig mit ihnen trifft und Zukunftsthemen bespricht, was persönliche Ziele sind, was man sich als berufliche Zukunft vorstellen kann und so weiter. Das sind oft Gespräche, die diese Jugendlichen nicht unbedingt zu Hause führen. Das wurde von unserem ifo-Team in einem großen Feldexperiment evaluiert und man sieht, dass jene Jugendliche, die diese Mentorinnen und Mentoren hatten, später in ihren Schulleistungen deutlich besser für den Arbeitsmarkt vorbereitet waren, motivierter waren und von dem Projekt insgesamt sehr profitiert haben.  

Redaktion: Auf Ihrer Konferenz sprechen auch einige internationale Bildungsexpertinnen und -experten. Gibt es im Ausland Reformen, die auch für Deutschland erkenntnisreich oder inspirierend sein könnten?

Zierow: Da fällt die Auswahl schwer – es lässt sich wirklich immer viel lernen von den Erfahrungen in anderen Ländern. Besonders interessant für Deutschland sind vielleicht die Erkenntnisse zu Reformen, die verändert haben, wie Schülerinnen und Schüler lernen und Lehrerinnen und Lehrer arbeiten: Adi Shany von der Tel Aviv Universität stellt ein Projekt vor, in dem sie eine große Schulreform in Israel analysiert. Sie findet heraus, dass diese zu besseren Schülerleistungen geführt hat, vor allem dadurch, dass es kleinere Lerngruppen und bessere Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte gab und dadurch, dass die Lehrerinnen und Lehrer mehr Stunden pro Woche in der Schule verbringen. Ähnlich dazu ist auch die Studie von Erik Grönqvist von der Uppsala Universität, die ich vorhin schon erwähnt habe: das Programm, das unter anderem dafür sorgt, dass sich die Mathe-Lehrerinnen und -Lehrer in gemeinsamen Arbeitszirkeln treffen, zusammen ihre Unterrichtsstunden entwerfen und evaluieren, gegenseitig Feedback geben und gelegentlich Hilfe von externen Experten erhalten – dieses Programm verbessert die Matheleistungen der Schülerinnen und Schüler. 

Redaktion: Können Sie Bereiche im deutschen Bildungssystem identifizieren, in denen aus Forschersicht Reformen notwendig wären?

Zierow: Hier würde ich nochmals auf die frühkindliche Bildung hinweisen. Da könnte man noch viel mehr machen und das Bildungssystem verknüpfen. Dass es also nicht so separiert wird in Betreuungs- und Schulwesen, sondern beides zusammengedacht wird. Da sieht man auch in vielen anderen Ländern Erfolge.

„Wenn Schulleiterinnen und Schulleiter eigenständiger entscheiden können, kann dadurch ein gesunder Wettbewerb im Bildungssystem entstehen.“

Dr. Larissa Zierow

Ein weiteres Thema, was auch im internationalen Vergleich auffällt, ist Schulautonomie. Wenn Schulleiterinnen und Schulleiter eigenständiger entscheiden können, kann dadurch ein gesunder Wettbewerb im Bildungssystem entstehen. Das läuft dann besonders gut, wenn es gleichzeitig auch Verfahren gibt, über welche die Leistungen der Schulen gemessen und bewertet werden können. Da hinken wir in Deutschland leider hinterher. Das ist aus Forschersicht schade, aber auch für die Schulen selbst und deren eigene Reflexion und Entwicklung. Es gibt sehr wenige Daten, man bräuchte mehr standardisierte Schülertests wie PISA ("Programme for International Student Assessment", Anm. d. Red.) oder IGLU (“Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung”, Anm. d. Red.). Wenn diese Verfahren mehr genutzt würden, könnte man besser schauen, welche Dinge Schulen oder Regionen richtig machen und welche nicht. In den Niederlanden gibt es solche standardisierten Tests jedes halbe Jahr. Sie konnten in der Corona-Pandemie auch benutzt werden, um herauszufinden, wie groß der Lernverlust war in den Lockdowns. Sowas ist in Deutschland bisher nicht möglich. Allein der Vergleich zwischen Bundesländern ist oft recht schwer, weil es nur wenige Datensätze gibt, die sich dafür gut eignen. Das ist etwas, was von den Kultusministerien noch mehr ins Auge gefasst werden könnte. 

Redaktion: Frau Doktorin Zierow, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Larissa Zierow forscht am ifo Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München und ist dort Mitglied der Junior Faculty of Economics. Sie ist außerdem CESifo Affiliate und stellvertretende Direktorin des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. Ihre Forschungsinteressen liegen in angewandter Ökonometrie, Bildungsökonomik, Arbeit und öffentlicher Politik.