Selbstkompetenz in der Schule stärken – Veränderungen besser bewältigen

Damit Übergänge im Bildungssystem gelingen, ist die Entwicklung von Selbstkompetenz kontinuierlich zu unterstützen, berichtet Dr. Marion Aicher-Jakob von der PH Ludwigsburg im Gastbeitrag.

Der Übergang von der Kita in die Grundschule oder ein Schulwechsel ziehen Veränderungen nach sich. Um sich an diese anzupassen, benötigen Kinder Fähigkeiten wie Selbstständigkeit, Kritikfähigkeit und Selbstvertrauen – kurz: Selbstkompetenz. Doch wie kann diese in der Schule gefördert werden?

Die Herausforderung von Bildungsübergängen

Übergänge nehmen in jeder Biografie eine zentrale Rolle ein. Einerseits strukturieren sie unser Leben, andererseits sind sie für die im Veränderungsprozess stehenden Individuen mit großen Herausforderungen und der Bewältigung anstehender Entwicklungsaufgaben verbunden. Das gilt auch für Übergänge in unserem Bildungssystem, die in Deutschland nicht zuletzt aufgrund des stark gegliederten Schulsystems besonders risikobehaftet sind. Auch die unterschiedliche Ausbildung von Erziehenden und Lehrkräften und ihre langjährige unterschiedliche ministerielle Verortung erschweren den Übergang, da die Akteure häufig zu wenig Kenntnisse über die Handlungspraktiken der angrenzenden Institutionen mitbringen.

Übergänge als ko-konstruktiver Prozess

Jeder Übergang geht mit Veränderungsprozessen einher, die mit intensiven Lernphasen verbunden sind und Anpassungsleistungen erfordern. Der Übergang wird dabei als ko-konstruktiver Prozess verstanden. Das bedeutet, dass das Gelingen nicht ausschließlich in die Verantwortung eines Beteiligten gestellt wird, sondern vielmehr alle Akteure miteinschließt. Wie der Wechsel von einer in die nächste Institution individuell erlebt und bewältigt wird, hängt von den am Übergang beteiligten Akteuren, ihren Erwartungen, Vorbereitungen, Verarbeitungen und Bewertungen ab. In diesem Kontext lohnt der Blick auf den Erwerb und die Förderung von Selbstkompetenz des Kindes. Als Selbstkompetenz wird die Fähigkeit verstanden, eigene Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen und diese auch ausdrücken und kommunizieren zu können, um den Übergangsprozess gut zu bewältigen. Die Entwicklung von Selbstkompetenz wird in diesem Beitrag somit als singuläres Element im systemischen Übergangsgeschehen betrachtet.

Obsolete Vorstellungen von Schulreife

Lange Zeit wurde das Individuum selbst, vielmehr seine vermeintliche Reife, für den zu erwartenden Schulerfolg verantwortlich gemacht. Grund hierfür waren Vorstellungen von Reifeprozessen, die bereits in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert wurden und schließlich von Artur Kern (1951) durch seine Publikation „Sitzenbleiberelend und Schulreife“ hohe Popularität erlangten. Diese Denkschule geht davon aus, dass die kindliche Entwicklung im wesentlichen ohne Einfluss der Umwelt durch endogene Faktoren, bestimmt wird. Mit seinem Grundleistungstest wurden Generationen von Kindern einem Reifetest unterzogen, obwohl der Schulreifeterminus und seine Implikationen bereits seit den 60er-Jahren in Kritik gerieten und sukzessive durch den Begriff der Schulfähigkeit abgelöst wurde. Auch wenn die Transitionsforschung, also die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit komplexen Übergängen, heute die systemische Bearbeitung des Übergangs betont, prägen obsolete Schulreifevorstellungen, die mit einseitigen Verantwortungszuschreibungen einhergehen, bis heute den Schulanfang.

Wie Kinder Selbstkompetenz entwickeln

Kinder und Jugendliche benötigen ein solides Fundament an Kompetenzen, um die Anpassungsleistung in Übergängen zu bewerkstelligen. Die Förderung von Selbstkompetenz im Übergangsprozess zielt darauf ab, das Individuum durch Handlungsfähigkeit zu stärken. Die Entwicklung von Selbstkompetenz ist daher ein relevantes Ziel, das es in Institutionen konstruktiv zu fördern gilt. Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass der Erwerb von Selbstkompetenz gestuft und in Abhängigkeit zur Umwelt erfolgt. Werden der Prozesscharakter und der Zusammenhang zwischen Selbstkompetenz und Umwelt vernachlässigt, besteht die Gefahr obsolete Vorstellungen zu reproduzieren, die die Anpassungsleistungen erneut ausschließlich in der kindlichen Verantwortung sehen.

„Der Kompetenzerwerb beruht auf Erfahrungen, somit muss die Frage in der Übergangsthematik dahingehend gewendet werden, welche Erfahrungen in Kindertagesstätten und Schulen gemacht werden können, um Selbstkompetenz erwerben zu können.“

Dr. Marion Aicher-Jakob

Der Kompetenzerwerb erfolgt prozessual, benötigte Fähigkeiten und Fertigkeiten für anstehende Aufgaben variieren in unterschiedlichen Lebensphasen. Für berufliche Schulen wird Selbstkompetenz im Gegensatz zur eingangs formulierter Definition als Fähigkeit beschrieben, die eigene Situation wahrzunehmen, für sich selbst eigenständig zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Dem Individuum wird dabei ein hohes Maß an Eigenverantwortung übertragen. Diese Formulierung ist nicht unumstritten. Kritiker konstatieren zunehmend Formen von Optimierungstendenzen und neoliberale Entwicklungen, wenn Individuen sich effizient inszenieren müssen und somit selbst für den Erfolg verantwortlich gemacht werden. Diffundiert diese Definition von Selbstkompetenz aus dem Berufs- und Wirtschaftssektor in frühpädagogische Bereiche, kann das fatale Folgen haben. Individuell erworbene Kompetenzen können dann als Voraussetzung für die Schulpassung verstanden werden, mangelnde Anpassungsleistungen als fehlende volitionale und motivationale Prozesse übersetzt oder auch pathologisiert werden. Der Kompetenzerwerb beruht auf Erfahrungen, somit muss die Frage in der Übergangsthematik dahin gehend gewendet werden, welche Erfahrungen in Kindertagesstätten und Schulen gemacht werden können, um Selbstkompetenz erwerben zu können.

Faktoren, die zur Ausbildung von Selbstkompetenz beitragen

Die Faktoren, die zur Ausbildung von Selbstkompetenz beitragen sind vielfältig. Selbstkompetenz kann wie folgt untergliedert werden: Vertrauen in sich selbst und in die Welt, Selbstwahrnehmung, Selbstausdruck, Selbstmotivierung, Selbstberuhigung, die ganzheitliche Aufnahme von Rückmeldungen und die integrative Kompetenz. Durch diese Auflistung wird bereits ersichtlich, dass es nicht ein einziges Förderungskonzept geben kann, vielmehr unterschiedliche Ansätze notwendig und vielfältige Strategien genutzt werden können. Zwei übergeordnete Dimensionen werden im Folgenden skizziert, die in Handlungspraktiken übersetzt, Voraussetzungen für ein konstruktives Lernfeld sichtbar werden lassen: Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden und die Gestaltung einer förderlichen Lernumgebung.
Die Bindungstheorie von John Bowlby (1995) unterstreicht die Relevanz von verlässlichen Bindungen als Grundvoraussetzung für das Lernen. Die Frage, wie Beziehungen gestaltet werden müssen, damit Kinder sich entwickeln und an Aufgaben wachsen können, ist ein pädagogischer Dauerbrenner. Die sensible Begleitung ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Lernen und Leisten. Es ist hinlänglich bekannt, dass Kinder sich selbst unter riskanten Lebenslagen gut entwickeln, wenn es ihnen gelingt stabile Beziehungen aufzubauen. Die sozialen Interaktionen, die eine verlässliche Beziehung bieten, können auch außerhalb des Elternhauses liegen. Dies zeigt die populäre Längsschnittstudie von Werner und Smith (1982) auf der hawaiianischen Insel Kauai in ebenso beeindruckender Weise wie die Mannheimer Risikokinderstudie (2017) bzw. die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie von Lösel & Bender (2007). Das Individuum entwickelt sich in sozialen Interaktionen, in der Familie, im Kindertagesbereich und in der Schule. Für den Erwerb von Selbstkompetenz ist die Qualität der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden daher von entscheidender Bedeutung. Aber auch in sozialen Beziehungen zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern können Kinder Selbstkompetenz aufbauen. Der Philosoph Martin Buber drückt dies folgendermaßen aus: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ 

Selbstkompetenz ist die Voraussetzung für Lernen und Leisten – Lernen und Leisten jedoch wiederum Voraussetzung für den Erwerb von Selbstkompetenz. Das führt in Richtung der zweiten Dimension, der Lernumgebung.

Die Bedeutung der Lernumgebung

Schule stellt einen wichtigen Lebensraum für Kinder dar, der unterschiedliche ‚Spielräume‘ für soziale Interaktionen bietet, wobei die Lernumgebung nicht nur unter didaktischen Gesichtspunkten zu betrachten ist, vielmehr gerät Schule zum interpersonalen Interaktionskontext, in dem sich Lernen als tägliches soziales Erlebnis darstellt. Die soziale Eingebundenheit und das Kompetenzerleben wird zur wichtigen Voraussetzung für Lernen und Motivation. Überlegungen zur Lernumgebung sind somit sehr weitreichend und enden nicht bei der Gestaltung des Klassenzimmers oder bei architektonischen Fragen zu Schulbauten. Sie reflektieren vielmehr die komplexe Unterrichtskultur, die soziale Eingebundenheit und Kompetenzerleben ermöglicht, beziehen Analysen zu Kommunikationsformen ein und hinterfragen den Lehrplan. Zweifelsohne setzen die institutionellen Rahmenbedingungen enge Grenzen, aber Fragen nach dem Erfahrungsraum für Schülerinnen und Schüler bleiben dessen ungeachtet relevant und lassen sich in jedem Setting reflektieren. Fragen, die sich Schulleitungen und Lehrkräfte in diesem Zusammenhang stellen sollen sind: Welche Erfahrungen benötigen Schülerinnen und Schüler heute, um ihre gesunde Entwicklung zu unterstützen? Wie können ihnen stabile Beziehungen ermöglicht werden, insbesondere dann, wenn sie im außerschulischen Kontext nicht gegeben sind? An welchen Erfahrungen können sie wachsen, insbesondere wenn ihnen das Selbstvertrauen zur Aufgabenübernahme fehlt? Wo können Schülerinnen und Schüler Erfahrungen machen, die ihnen aufzeigen, zu was sie selbst in der Lage sind? Wo können sie erleben, mit Recht auf etwas stolz zu sein. Wie können Schülerinnen und Schüler erfahren, dass es sich lohnt, Dingen auf den Grund zu gehen? Wie können Lernende ihre Fehler als Chance begreifen, sich selbst weiterzuentwickeln? Wie kann eine Klassengemeinschaft gestärkt werden, die als verlässliche Peergroup erfahrbar wird, in welcher unterschiedliche Lebensentwürfe und Sichtweisen bestehen, und dennoch respektvoll interagiert und niemanden beschämt wird?

„Der Kompetenzerwerb erfolgt individuell und benötigt Zeit, die weit über den eigentlichen Schulstart hinausreicht.“

Dr. Marion Aicher-Jakob

Der Blick auf den Kompetenzerwerb an pädagogischen Schnittstellen bleibt von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Die Frage, welche Kompetenzen Kinder für den Schulanfang und den Schulwechsel benötigen, wird seit Generationen kontrovers diskutiert. Zielführend sind dabei Überlegungen, die alle Akteure miteinbinden und Kinder im Erwerb ihrer Kompetenzen stärkt. Hierfür benötigen Kinder Erfahrungsräume, die verlässliche Beziehungen sichern und vielfältige Lernmöglichkeiten eröffnen. Der Aufbau von Selbstkompetenz bleibt ein übergeordnetes institutionelles Ziel.

  • Aicher-Jakob, Marion (2015): Das Verhältnis von Kindergarten und Schule – ein chronischer Disput. Eine empirisch fundierte Studie zur Implementierung des Orientierungsplans in baden-württembergischen Kindertageseinrichtungen. Bad Heilbrunn. 
  • Bowlby John (1995): Bindung: Historische Wurzeln, theoretische Konzepte und klinische Relevanz. In: Spangler, Gotthilf & Zimmermann, Peter (Hrsg.): Die Bindungstheorie. Stuttgart.
  • Bronfenbrenner, Urie. (1989): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt am Main.
  • Buber, Martin (1986): Begegnung, Autobiographische Fragmente. Heidelberg.
  • Esser, Günter & Schmidt, Martin H. (2017): Die Mannheimer Risikokinderstudie. Idee, Ziele und Design. 
  • Fend, Helmut (1980): Theorie der Schule. München.
  • Fthenakis, Wassilios E. (1998): Transitionspsychologische Grundlagen des Übergangs zur Elternschaft. Berlin.
  • Griebel, Wilfried & Niesel, Renate (2013): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern. 2. Auflage. Berlin.
  • Kern, Artur (1951): Sitzenbleiberelend und Schulreife. Freiburg.
  • Kroll, Sylvia (2011): Übergänge gestalten. Eine Perspektive der Entwicklungsbegleitung. In: Jungk, Sabine; Treber, Monika & Willenbring, Monika (Hrsg.): Bildung in Vielfalt. Inklusive Pädagogik der Vielfalt. Materialien zur Frühpädagogik. Band IV. Freiburg, S. 169-187.
  • Künne, Thomas & Sauerteig, Meike (2016): Selbstkometenz (-Förderung) in KiTa und Grudschule. In: Nifbe, Niedersächsisches Institut für Frühkindliche Bildung und Entwicklung.
  • Kuhl, Julius; Künne, Thomas & Aufhammer, Frank (2011): Wer sich angenommen fühlt, lernt besser: Begabungsförderung und Selbstkompetenzen. In: Kuhl, Julius; Müller-Using, Susanne; Solzbacher, Claudia & Warnecke, Wibke (Hrsg.): Bildung durch Beziehung. Selbstkompetenz stärken - Begabungen entfalten. Freiburg.
  • Lerch, Sebastian (2016): Selbstkompetenzen. Eine erziehungswissenschaftliche Grundlegung. Wiesbaden.
  • Lösel Friedrich & Bender Doris (2007): Von generellen Schutzfaktoren zu spezifischen protektiven Prozessen: Konzeptuelle Grundlagen und Ergebnisse der Resilienzforschung. In: Opp Günther & Fingerle Michael (Hrsg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, 2. völlig neu bearbeitete Aufl. Ernst Reinhardt, München Basel, S. 57–78.
  • Rittelmeyer, Christian (2005): Schularchitektur. Wie Schulbauten auf Schüler wirken in: Rother, Ulrich; Appel, Stefan; Ludwig, Harald & Rutz, Georg (Hrsg.): Investitionen in die Zukunft. Schwalbach, Taunus. S. 23-33 (Jahrbuch Ganztagsschule; 2005). 
  • Roth, Heinrich (1971): Pädagogische Anthropologie. Entwicklung und Erziehung (Band II). Hannover.
  • Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hrsg.)(2021): Referat Berufliche Bildung, Weiterbildung und Spor KMK Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Berlin.
  • Solzbacher, Claudia & Calvert, Kristina (Hrsg.) (2014): „Ich schaff das schon…“. Wie Kinder Selbstkompetenz entwickeln können. Freiburg.
  • Weinert, Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim und Basel.
  • Welzer, Harald (1993): Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse. Tübingen.
  • Werner Emmy & Smith Ruth S. (1982): Vulnerable, But Invincible: A Longitudinal Study of Resilient Children and Youth. New York.