Selbstreguliertes Lernen – ein Schlüssel für zeitgemäßen Unterricht

Lehrkräfte entlasten, Schüler:innen befähigen – im selbstregulierten Lernen steckt viel Potential. Wie beides gefördert werden kann, erklärt Prof. Ferdinand Stebner im Interview

In einer Zeit, in der Lehrkräfte unter hoher Belastung stehen und Schüler:innen unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen, gewinnt das selbstregulierte Lernen an Bedeutung. Prof. Ferdinand Stebner erläutert, wie diese Lernform sowohl Lehrende entlasten als auch Lernende stärken kann.

Redaktion: Herr Professor Stebner, könnten Sie uns erläutern, was genau selbstreguliertes Lernen ist – und was es nicht ist?

Prof. Ferdinand Stebner: Selbstreguliertes Lernen bedeutet, dass Lernende mehr Verantwortung übernehmen und beim Lernen bewusster agieren. Das beginnt bei der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse: Was brauche ich gerade? Habe ich genug Energie? Es geht weiter mit dem Zielesetzen: Was will ich lernen? Wie will ich lernen? Brauche ich eine Pause? Diese Reflexion ist essentiell, um Lernprozesse gezielt zu planen und zu steuern. Parallel dazu geht es um den bewussten Einsatz weiterer Lernstrategien – etwa, wie ich Informationen sinnvoll strukturiere, Texte effizient markiere, mich während des Lernens beobachte oder meine Motivation auch über längere Zeiträume hinweg aufrechterhalte. Selbstreguliertes Lernen ist also kein Konzept, bei dem Lernende einfach tun, was sie möchten, sondern ein strukturierter und reflektierter Prozess. Ziel ist es, dass Lernende nach und nach in der Lage sind, ihre Lernumgebung aktiv zu gestalten und passende Lernstrategien qualitativ hochwertig anzuwenden, denn das geht mit erfolgreichem Lernen einher.

„Schülerinnen und Schüler, die früh lernen, ihre Lernstrategien gezielt einzusetzen und dies zu reflektieren, sind besser darauf vorbereitet, auch in neuen Situationen effektiv zu lernen – sei es in weiterführenden Schulen, in der Ausbildung oder im Berufsleben.“

Prof. Ferdinand Stebner

Redaktion: Warum ist diese Lernform gerade heute so relevant?

Stebner: Lehrkräfte und pädagogisches Personal sind extrem belastet. Gleichzeitig haben Schulen zunehmend heterogene Schülerinnen und Schüler, wodurch Lernvoraussetzungen, sprachliche Hintergründe und soziale Bedingungen stark variieren. Das stellt das Schulsystem vor enorme Herausforderungen. Wenn wir eine Kultur des selbstregulierten Lernens etablieren, entlasten wir Lehrkräfte, weil der Lernprozess nicht mehr ausschließlich von ihnen organisiert werden muss. Die Lernenden entwickeln Eigenverantwortung und können mit offenen Lernumgebungen besser umgehen, indem sie ihre eigenen kognitiven und emotionalen Prozesse bewusster wahrnehmen, planen und steuern. Dadurch können sie phasenweise ohne direkte Anleitung arbeiten, was wiederum den Lehrkräften Freiräume verschafft. So können sie sich gezielt um diejenigen kümmern, die mehr Unterstützung benötigen. Das bedeutet nicht, dass Lehrkräfte überflüssig werden – im Gegenteil: Sie können sich stärker auf gezielte Förderung und individuelle Begleitung konzentrieren, anstatt den gesamten Unterricht frontal zu steuern. Zudem führt selbstreguliertes Lernen im Sinne des lebenslangen Lernens zu einer langfristigen Kompetenzentwicklung. Schülerinnen und Schüler, die früh lernen, ihre Lernstrategien gezielt einzusetzen und dies zu reflektieren, sind besser darauf vorbereitet, auch in neuen Situationen effektiv zu lernen – sei es in weiterführenden Schulen, in der Ausbildung oder im Berufsleben.

Redaktion: Was unterscheidet selbstreguliertes Lernen von anderen Formen des eigenständigen Lernens?

Stebner: Es gibt häufig ein Missverständnis: Selbstreguliertes Lernen wird manchmal mit selbstorganisiertem oder offenem Lernen gleichgesetzt. Dabei fordert selbstreguliertes Lernen nicht zwangsläufig offene Unterrichtsformen, sondern kann in jedem Setting hilfreich sein – auch im klassischen Frontalunterricht. Außerdem wird oft vermutet, das Lernen in offenen Lernsettings fördere automatisch das selbstregulierte Lernen. Dem ist nicht so. Entscheidend ist, dass Lernende bewusst ihre Lernprozesse planen und steuern, und dafür benötigen sie das Wissen über Lernstrategien und die Fertigkeit, diese lernförderlich anzuwenden. Wenn eine Lehrkraft beispielsweise einen mathematischen Zusammenhang erklärt, reicht es nicht aus, den Worten einfach nur passiv zu folgen. Vielmehr müssen die Schülerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit gezielt lenken, sich womöglich noch einmal die Bedeutsamkeit des Inhalts verdeutlichen, ihr Vorwissen aktivieren und neue Informationen mit bereits Gelerntem verknüpfen. Dabei kommt es auf die Fähigkeit an, Lernstrategien richtig anzuwenden, Ablenkungen zu minimieren und den eigenen Lernfortschritt zu reflektieren. Selbstreguliertes Lernen hilft also nicht nur in offenen und selbstorganisierten Lernsettings, sondern auch in traditionelleren Unterrichtsformaten.

Selbstreguliertes Lernen am Beispiel der Wochenplanarbeit

Selbstreguliertes Lernen bezeichnet den Prozess, bei dem Lernende ihre Lernziele eigenständig festlegen, ihren Fortschritt überwachen und ihre Strategien entsprechend anpassen. Ein Beispiel, für das die Kompetenz des selbstregulierten Lernens wichtig ist, ist das Konzept der Wochenplanarbeit. Dabei erhalten Schülerinnen und Schüler zu Wochenbeginn einen Plan mit verschiedenen Aufgaben aus unterschiedlichen Fächern. Sie entscheiden selbst, in welcher Reihenfolge und Geschwindigkeit sie diese Aufgaben bearbeiten und legen eigene Schwerpunkte fest. Am Ende der Woche reflektieren sie ihren Lernfortschritt und passen bei Bedarf ihre Strategien für die kommende Woche an. Dieser Ansatz ermöglicht es den Lernenden, ihre Zeit effektiv zu managen und Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen. Die Lehrkraft fungiert in diesem Ansatz als Unterstützerin beziehungsweise als Unterstützer, indem sie den Wochenplan erstellt, geeignete Materialien bereitstellt und bei Bedarf beratend zur Seite steht. Sie überprüft die Arbeitsergebnisse und gibt Feedback, um den Lernprozess zu fördern. Es ist davon auszugehen, dass vor allem die Schülerinnen und Schüler mit der Wochenplanarbeit zurechtkommen, die gut darin sind, selbstreguliert zu lernen.

Redaktion: Wie lernen Schülerinnen und Schüler, erfolgreich selbstreguliert zu lernen? Was braucht es dafür?

Stebner: Selbstreguliertes Lernen kann in jeder Schulform und in jedem Alter gefördert werden – von der Kita bis zur Oberstufe und darüber hinaus. Unsere Forschung zeigt jedoch, dass ein früher Beginn besonders vorteilhaft ist, da sich Lerngewohnheiten mit zunehmendem Alter verfestigen. In demokratischen Kitas übernehmen Kinder beispielsweise bereits Verantwortung für Entscheidungen – solche Ansätze können die Grundlage für selbstreguliertes Lernen legen. Damit es langfristig wirkt, muss es Teil der Schulkultur sein. Einmalige „Lernen lernen“-Einheiten reichen nicht aus. Vielmehr sollten Lehrkräfte, pädagogisches Personal und idealerweise auch Eltern gemeinsam eine Umgebung schaffen, in der diese Lernform selbstverständlich wird. Dabei gibt es zwei zentrale Säulen: die direkte und die indirekte Förderung.

Redaktion: Was genau beschreiben diese Formen der Förderung?

Stebner: Direkte Förderung bedeutet, dass Lernstrategien explizit vermittelt und trainiert werden – etwa wie man effektiv einen Text markiert oder sich realistische Ziele setzt. Indirekte Förderung geschieht durch regelmäßige Anwendung in verschiedenen Unterrichtssituationen, sodass diese Strategien zur Routine werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die sogenannte Metakognition: Schülerinnen und Schüler sollten lernen, sich selbst beim Lernen zu beobachten, ihre Strategien bewusst anzupassen und zu reflektieren, was gut funktioniert hat und was nicht. Diese Fähigkeiten helfen ihnen nicht nur in der Schule, sondern bereiten sie auf ein lebenslanges Lernen vor.

Redaktion: Sie erwähnten bereits die Eltern. Welche Rolle spielen diese beim selbstregulierten Lernen?

Stebner: Eine durchaus kritische. Viele Eltern haben selbst nie gelernt, selbstreguliert zu lernen, da es in ihrer Schulzeit kaum eine Rolle spielte. Stattdessen sind sie oft mit einer eher traditionellen Vorstellung von Lernen vertraut – mit viel Wiederholen, rein kognitivem Pauken und wenig strategischer Reflexion. Bedürfnisse, Motivation oder Emotionen spielen eher eine untergeordnete Rolle. Damit sie ihre Kinder unterstützen können, braucht es daher zunächst Offenheit für neue Ansätze. Die Frage ist aber auch: Ist es die Aufgabe der Schule, Eltern in diesem Bereich fortzubilden? Die Forschung zeigt, dass der familiäre Hintergrund eine große Rolle für den Bildungserfolg spielt. Die Bildungsungleichheit beginnt bereits früh. Deshalb wäre es ideal, wenn Schulen und Eltern eine gemeinsame Lernkultur aufbauen. Lernen sollte nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause stattfinden – und zwar möglichst auf ähnliche Weise. Transfer funktioniert am besten, wenn die Lernumgebungen sich ähneln. Wenn es gelingt, Eltern stärker einzubeziehen, profitieren die Kinder langfristig davon. Besonders für diejenigen, die zu Hause keine Unterstützung haben, kann selbstreguliertes Lernen ein Schlüssel sein – denn es ermöglicht ihnen, eigenständiger und unabhängiger zu lernen, ohne ständig auf elterliche Hilfe angewiesen zu sein.

Redaktion: Was sehen Sie als größte Hindernisse für die Umsetzung von selbstreguliertem Lernen im Schulsystem? Und wie kann es dennoch gelingen?

Stebner: Das größte Hindernis ist ein Fehlverständnis. Wenn man glaubt, selbstreguliertes Lernen bedeutet einfach nur Projektarbeit oder offenes Lernen, kann das schnell in die falsche Richtung gehen. Solche Fehlkonzepte führen dazu, dass wertvolle Zeit investiert wird, ohne dass tatsächlich die Kompetenzen aufgebaut werden, die für selbstreguliertes Lernen notwendig sind. Hinzu kommt die enorme Belastung des Schulsystems. Lehrkräfte und pädagogisches Personal stehen unter großem Druck, und in einem solchen Umfeld sind Innovationen schwer umzusetzen. Eine funktionierende Kommunikation auf allen Ebenen ist entscheidend, damit jede Fachkraft sich wertgeschätzt fühlt und ihren Beitrag leisten kann. Ein weiteres großes Hindernis ist die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler. Schulen stehen vor der Aufgabe, individuell auf verschiedene Lernvoraussetzungen einzugehen – doch wie kann das gelingen, wenn die Unterschiede so groß sind? Es braucht eine Schule, die stärker auf die Eigenverantwortung der Lernenden setzt und ihnen Werkzeuge an die Hand gibt, mit denen sie sich selbst helfen können. Selbstreguliertes Lernen ist hier ein Schlüssel, aber kein Allheilmittel. Vielmehr muss es in ein größeres Konzept eingebettet sein, das die Schule als lernende Institution weiterentwickelt und den Umgang mit Vielfalt aktiv gestaltet.

„Ich wünsche mir, dass sich Schulen stärker als Lernorte verstehen, an denen nicht nur Fachinhalte vermittelt, sondern die Grundlagen für lebenslanges Lernen gelegt werden.“

Prof. Ferdinand Stebner

Redaktion: Welche ersten Schritte können Schulen unternehmen, um selbstreguliertes Lernen stärker zu verankern? Worauf gilt es dabei zu achten?

Stebner: Der erste und wichtigste Schritt ist, ein gemeinsames Verständnis von selbstreguliertem Lernen innerhalb des Kollegiums zu schaffen. Es ist essentiell, dass alle Lehrkräfte und das pädagogische Personal dasselbe, richtige Konzept teilen, um Fehlvorstellungen zu vermeiden und Zeit zu vergeuden. Dies kann durch interne Workshops oder die Einbindung externer Expertinnen und Experten erreicht werden. Anschließend sollte eine gemeinsame Strategie entwickelt werden. Es hat sich bewährt, in einer bestimmten Jahrgangsstufe zu beginnen, für die weiterführende Schule beispielsweise in der fünften Klasse, und die neuen Ansätze dort zu erproben. Eine schrittweise Einführung ermöglicht es, Erfahrungen zu sammeln und den Prozess kontinuierlich zu evaluieren und anzupassen. Es ist auch ratsam, sich Inspiration und Unterstützung von außen zu holen. Partnerschaften mit Universitäten oder der Austausch mit anderen Schulen, die bereits Erfahrungen mit selbstreguliertem Lernen gesammelt haben, können wertvolle Impulse liefern. Der Fokus sollte dabei stets auf einer klaren Kommunikation und einer gemeinsamen Haltung liegen, um das Kollegium möglichst geschlossen auf diesem Weg mitzunehmen.

Redaktion: Gibt es bei diesem Konzept auch Schwächen oder Risiken?

Stebner: Drei Aspekte sind kritisch: Erstens können Fehlkonzepte dazu führen, dass Zeit ineffizient genutzt wird. Zweitens ist die Forschung sich noch nicht einig, wie gut Lernstrategien zwischen verschiedenen Fächern transferiert werden können – möglicherweise muss jedes Fach seine eigenen Methoden schulen. Drittens gibt es die Gefahr der Überregulation. Wenn Schülerinnen und Schüler permanent alles hinterfragen und sich selbst kontrollieren sollen, kann das zu Stress und Demotivation führen. Es ist wichtig, eine Balance zu finden, die sowohl Struktur als auch spontane Lernmomente zulässt. Zusätzlich belastet die Metakognition, also das Nachdenken über das eigene Denken, das Arbeitsgedächtnis zusätzlich. Gerade zu Beginn kann dies anstrengend sein und erfordert entsprechende Ressourcen. Interessanterweise zeigen schon Grundschulkinder die Fähigkeit, selbstreguliertes Lernen erfolgreich umzusetzen. Dennoch sollte darauf geachtet werden, dass die Einführung von selbstreguliertem Lernen behutsam und altersgerecht erfolgt, um eine chronische Überforderung zu vermeiden.

Redaktion: Zum Abschluss: Was würden Sie sich für die Zukunft der Schulen wünschen?

Stebner: Ich wünsche mir, dass sich Schulen stärker als Lernorte verstehen, an denen nicht nur Fachinhalte vermittelt, sondern die Grundlagen für lebenslanges Lernen gelegt werden. Fachwissen ist wichtig, aber das eigentliche Ziel der Schule sollte sein, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, sich neue Inhalte auch selbstständig zu erschließen. Dafür ist selbstreguliertes Lernen ein entscheidender Baustein.

Redaktion: Herr Professor Stebner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Ferdinand Stebner ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Diagnostik und Beratung an der Universität Osnabrück. Seine Forschung konzentriert sich auf praxisnahe, empirisch-quantitative Studien in den Bereichen Schule und Universität, insbesondere auf Lern- und Transferprozesse beim selbstregulierten Lernen. Zudem betreibt er experimentelle Grundlagenforschung im multimedialen Lernen mit Fokus auf digitales Lernen und die Cognitive Load Theory. Erkenntnisse seiner Forschung veröffentlicht er unter anderem bei Instagram und YouTube.