Singapurs Schulwandel zwischen einem hohen Leistungsanspruch und dem Willen zu mehr Chancengerechtigkeit

Was Deutschland vom Full Subject-Based Banding im leistungsstärksten Schulsystem der Welt lernen kann. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Anne Sliwka von der Universität Heidelberg.

Wie lässt sich Chancengerechtigkeit mit Leistungsdifferenzierung verbinden – ohne soziale Stigmatisierung? Singapur, das leistungsstärkste Bildungssystem der Welt, hat sich neu erfunden: Mit dem Modell des Full Subject-Based Banding (FSBB) zeigt das Land, wie flexible Fächerkombinationen, individuelle Förderung und eine neue Lernkultur Chancen öffnen statt verengen. Statt früher Selektion ein breiter Fluss, in dem jeder Lernende seinen Weg finden kann.

Bildung ohne pauschale Etikettierung 

Singapur, lange Zeit bekannt für ein strikt leistungsorientiertes Schulsystem mit Selektion in unterschiedliche „Streams“ nach der Primary School Leaving Examination (PSLE) im Alter von 12 Jahren, beschreitet mit der Einführung des Full Subject-Based Banding (FSBB) einen bemerkenswert differenzierten und am individuellen Potenzial der Jugendlichen orientierten Weg. Das neue Modell ersetzt die traditionellen Leistungsschienen der Sekundarstufe I (Klassen 7 bis 10, Alter 12–16 Jahre) durch ein flexibles Kurssystem, das auf individuelle Förderung, soziale Kohäsion und eine entwicklungsorientierte Lernkultur setzt. Diese umfassende Reform ist bildungspolitisch bedeutsam – und wirft zugleich ein Schlaglicht auf Fragen, mit denen sich die deutsche Schulpolitik schwertut: Wie lässt sich Chancengerechtigkeit mit Leistungsdifferenzierung vereinbaren? Und wie gelingt individuelle Potenzialentfaltung ohne soziale Stigmatisierung? 

Abschied vom Streaming: Was Subject-Based Banding ist – und wie es funktioniert

Bis vor wenigen Jahren wurden singapurische Schülerinnen und Schüler nach der PSLE einem von drei Leistungszügen zugewiesen: „Express“, „Normal (Academic)“ oder „Normal (Technical)“ (Ministry of Education [MOE], 2018; Mokhtar, 2019). Mit FSBB wird diese starre Struktur durch ein System ersetzt, das differentielle Leistungspotenziale berücksichtigt und individuelle Lernprofile ermöglicht. Während des ersten Schuljahres (Secondary 1) können Schülerinnen und Schüler in den Kernfächern Englisch, Muttersprachen (wie Mandarin, Malaiisch, Tamil etc.), Mathematik und Naturwissenschaften diagnosebasiert auf dem für sie passenden Niveau starten. Ab Secondary 2 besteht zudem die Möglichkeit, ausgewählte Geistes- und Sozialwissenschaften wie Geografie, Geschichte und Literatur auf einem anspruchsvolleren Niveau zu belegen – basierend auf der Leistung und den Interessen des vorangegangenen Jahres (Ministry of Education [MOE], 2023). FSBB wird somit über die gesamte vierjährige Mittelstufe hinweg angewendet, wobei die Lernenden regelmäßig ihre Fächerwahl und Niveaus anpassen können (Ministry of Education [MOE], 2023). 

Schülerinnen und Schüler können jedes Fach auf einem von drei Anspruchsniveaus – G1, G2 oder G3 – belegen. So kann eine Schülerin beispielsweise Mathematik auf G3-Niveau, aber Englisch auf G2-Niveau besuchen (Ang, 2023). Ein wesentlicher Unterschied zum früheren Streaming besteht darin, dass die Klassenverbände weitgehend gemischt bleiben.Denn: Nicht-leistungsdifferenzierte Fächer wie Kunst, Musik oder Sport werden gemeinsam unterrichtet, während nur in den Kernfächern differenziert wird (Lim, 2023a). Der Unterricht findet parallel auf gemeinsamen Zeitschienen statt – was flexible Fächerkombinationen ermöglicht, ohne die soziale Einheit der Klasse zu gefährden. Das Konzept ersetzt die Logik des früheren Streaming, bei dem die gesamte Schullaufbahn auf einer einzigen Prüfung basierte, durch eine feinjustierte, entstigmatisierende Fächerdifferenzierung, sodass für jeden Jugendlichen ein passgenauer Kursmix zur Verfügung steht und die durch das Streaming evozierte Stigmatisierung wegfällt. 

Warum Singapur das System reformiert hat

Die Entscheidung, das fest etablierte Streaming-System aufzugeben, markiert einen tiefgreifenden bildungskulturellen Wandel im leistungsstärksten Schulsystem der Welt. Ursprünglich hatte Streaming in den 1980er Jahren dazu beigetragen, die hohe Schulabbrecherquote zu senken (Ministry of Education [MOE], 2018). Mit der Zeit traten jedoch negative Nebenwirkungen zutage: Lernende aus den „Normal“-Zweigen litten unter negativen Zuschreibungen, entwickelten ein schwächeres Selbstkonzept und wurden gesellschaftlich unterschätzt (Mokhtar, 2019; Lim, 2023a). Zudem zeigte sich, dass viele Kinder ein „unebenes“ Begabungsprofil aufweisen – beispielsweise hohe Leistungen in den Naturwissenschaften bei gleichzeitig schwächeren sprachlichen Kompetenzen (National Institute of Education [NIE], 2022). Erste Lockerungen ab 2014, die punktuelle Hochstufungen in einzelnen Fächern erlaubten, erwiesen sich als erfolgreich und bereiteten den Weg für FSBB (Ministry of Education [MOE], 2023).

Der damalige Bildungsminister Ong Ye Kung brachte den Paradigmenwechsel 2019 pointiert auf den Punkt: „Wir werden keine Fische mehr in drei separaten Bächen schwimmen lassen, sondern in einem breiten Fluss, in dem jeder seinen eigenen Weg findet“ (Parlamentsrede, 2019, zit. n. Lim, 2023a). 

Implementierung in Etappen: Ein System im Umbau

Die Einführung von FSBB erfolgte schrittweise. Nach der politischen Ankündigung im Jahr 2019 startete 2020 ein Pilotprojekt an 28 Schulen (Ministry of Education [MOE], 2023). Die PSLE-Bewertung wurde 2021 reformiert; 2022–2023 erfolgte eine Ausweitung von FSBB auf zwei Drittel aller Sekundarschulen. Seit 2024 gilt das System flächendeckend (Teng, 2023). Ab 2027 wird erstmals ein einheitlicher Abschluss – das Singapore-Cambridge Secondary Education Certificate (SEC) – eingeführt, der an das jeweilige Anspruchsniveau (G1–G3) angepasst ist (Ang, 2023).

Diese Umstellung wurde intensiv begleitet: durch Lehrerfortbildungen, neue Lehrpläne, angepasste Stundenpläne und gezielte Maßnahmen zur sozialen Integration in gemischten Klassenverbänden, beispielsweise durch innovative Lernangebote in Sport, musisch-ästhetischer Bildung sowie Citizenship Education. Ziel ist eine Kultur der Wertschätzung, in der unterschiedliche Leistungsniveaus in bestimmten Fächern keine festen sozialen Hierarchien mehr erzeugen. 

Übergänge in die Sekundar- und Tertiärbildung: Durchlässigkeit statt Fixierung 

Mit FSBB verändert sich auch der Übergang in die postsekundären Bildungswege. Ab 2027 können alle Schülerinnen und Schüler das neue SEC-Zertifikat erwerben – mit differenzierten Anforderungsniveaus je nach Fach. Die Zulassungskriterien für Polytechnics, Junior Colleges oder die Institutes of Technical Education (ITE) werden entsprechend angepasst: Für ein erstes Studienjahr an einem Polytechnic genügt künftig der Nachweis eines Faches auf G2-Niveau und vier auf G3-Niveau – eine wesentliche Öffnung gegenüber dem bisherigen Erfordernis von fünf G3-Fächern (Ang, 2023). Dadurch wird der Hochschulzugang nicht mehr allein durch eine einmalige Einstufung bestimmt, sondern durch individuelle Fachkombinationen ermöglicht. 

Erste Erfahrungen: Positive Rückmeldungen aus der Praxis

Obwohl Langzeitevaluationen noch ausstehen, zeigen erste Rückmeldungen ein ermutigendes Bild. Lernende berichten von gestiegener Motivation, da der Unterricht besser an ihre Stärken angepasst ist; leistungsstärkere Jugendliche erleben die G3-Kurse als willkommene Herausforderung, während leistungsschwächere von passgenaueren Anforderungen profitieren (Ministry of Education [MOE], 2023). Zudem hat sich das Klassenklima verbessert: Die frühere soziale Trennung ist aufgebrochen, und es entstehen neue Formen gegenseitiger Unterstützung, wobei leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler ihren Peers – unabhängig vom jeweiligen Kursniveau – helfen (Lim, 2023a). Ein weiterer Effekt betrifft das Selbstkonzept: Lernende aus den ehemaligen „Normal“-Streams übernehmen vermehrt Verantwortung, etwa als Klassensprecher (Lim, 2023a). Die symbolischen Grenzen zwischen den alten Streams beginnen somit zu verschwinden.

Didaktisch erfordert FSBB von den Lehrkräften eine differenzierte Unterrichtsvorbereitung, den Einsatz neuer Diagnose- und Assessmentverfahren sowie eine kontinuierliche Beobachtung der Lernentwicklung. Gleichzeitig passt sich der Unterricht besser an das jeweilige Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler an, ohne dass die soziale Integration im Klassenverband leidet (Lim, 2023b; National Institute of Education [NIE], 2022). Erste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass FSBB die soziale Vernetzung fördert und mehr Lernende dazu ermutigt, ihr Potenzial auszuschöpfen (National Institute of Education [NIE], 2022).

Prof. Pak Tee Ng vom National Institute of Education fasst zusammen: „Das 'Full Subject Based Banding' in Singapur kommt genau zur richtigen Zeit, weil wir versuchen, passgenaue und flexible Bildungswege für Kinder und Jugendliche zu schaffen, die ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Neigungen gerecht werden. Ob dies tatsächlich wirksam sein wird, kann nur die Zeit zeigen. Aber ich bin zuversichtlich.“

Auch aus Elternsicht zeigt sich ein überwiegend positives Bild. Chee Peng Lim, Vater dreier Kinder in Singapur, der aus Elternsicht die Einführung des neuen Konzepts erlebt hat, unterstützt die Reform grundsätzlich: „Wir sehen, dass die flexiblen Lernbänder dazu beitragen, Chancengerechtigkeit zu fördern und das Stigma des früheren 'Normal Stream' abzubauen.“ Besonders für die jüngsten Schüler*innen sei positiv, dass sie nicht mehr durch Leistungszuweisungen pauschal so frühzeitig etikettiert würden. Gleichzeitig beschreibt er auch Herausforderungen im Schulalltag: „Die Klassenzusammensetzung ändert sich mit jedem Fach, das erschwert möglicherweise den Aufbau enger Freundschaften.“ .Auch logistische Aspekte wie häufigere Raumwechsel hätten seine Töchter erwähnt. Sein Fazit: „Als Eltern unterstützen wir das neue Modell von Schule in Singapur, aber es braucht noch weitere kluge Lösungen, um soziale Bindung zu stärken.“ 

Ein Modell für Deutschland?

Drei Aspekte erscheinen für Deutschland besonders relevant: 

  1. Systematischer Umgang mit Heterogenität:
    FSBB zeigt, dass leistungsdifferenzierter Unterricht in heterogenen Klassen gelingen kann – sofern entsprechende strukturelle, zeitliche und personelle Voraussetzungen geschaffen werden. Modelle der Binnendifferenzierung existieren bereits in integrierten Schularten in Deutschland, doch der Blick auf Singapur könnte wertvolle Impulse liefern. 
  2. Entstigmatisierung durch Fachdifferenzierung:
    In Deutschland dominiert häufig die Gesamteinstufung, die mit stigmatisierenden Schulformzuweisungen einhergeht. FSBB differenziert auf Fachebene, sodass ein Kind in einem Fach als „gymnasial“ und in einem anderen als „realschulgeeignet“ eingestuft werden kann, ohne dass dies seine gesamte Schullaufbahn determiniert (Lim, 2023a). 
  3. Umsetzung individueller Förderung durch klare Strukturen: 
    FSBB operationalisiert diagnostikgestützte Kurszuweisungen und flexible Wechselmöglichkeiten – auch während des Schuljahres –, was eine passgenaue Förderung ermöglicht. Die singapurische Erfahrung zeigt, dass individuelle Förderung im System verankert werden kann, ohne dabei den Leistungsstandard zu gefährden.

Fazit: Bildung als Entwicklungsraum

Mit FSBB hat Singapur ein Modell geschaffen, das Leistung ernst nimmt, ohne Chancen zu verengen. Es verbindet Differenzierung mit Inklusion, hohe Standards mit Entwicklungsoffenheit, Individualisierung mit sozialem Lernen. Auf Deutschland, das weiterhin mit einem stark gegliederten Schulsystem ringt, ist dieser Ansatz nicht eins zu eins übertragbar. Doch er eröffnet Denkräume, Bildung als Ermöglichung zu denken. Die Metapher des breiten Flusses, in dem jeder seinen passenden Weg findet, steht für ein System, das Beweglichkeit zulässt, Übergänge offenhält und junge Menschen stärkt – statt sie frühzeitig einzusortieren.