Spielend lernen: Wie wirksam sind Games im Unterricht wirklich?
Von Gamification bis Playful Learning – nicht alle spielbasierten Ansätze sind gleich effektiv

Spiele im Unterricht wecken Begeisterung bei Schüler:innen – und die Forschung zeigt, dass spielbasierte Ansätze das Lernen tatsächlich effektiver machen können. Entscheidend ist jedoch die richtige Integration: Werden Spiele nur als Anreiz genutzt, wirken sie wie Zuckerguss. Nachhaltiger sind Playful Learning-Ansätze, die den Lernprozess selbst zur Belohnung machen. Ein Gespräch mit Prof. Manuel Ninaus.
Redaktion: Herr Professor Ninaus, Games gelten in weiten Kreisen als State of the Art der Unterrichtsgestaltung. Was macht spielbasierte Ansätze attraktiver als klassische Unterrichtsmethoden?
Prof. Dr. Manuel Ninaus: Bei spielbasierten Ansätzen geht es in der Regel darum, die Motivation der Schülerinnen und Schüler zu steigern und den Lernprozess positiv zu gestalten. Dabei gibt es unterschiedliche Herangehensweisen, die sich nicht leicht verallgemeinern lassen. Zentral ist jedoch, dass Lernen als interaktiver Prozess verstanden wird. Spielbasiertes Lernen ermöglicht es, Dinge auszuprobieren, zu explorieren und Fehler als Teil des Lernprozesses zu betrachten. Fehler werden nicht bestraft, sondern als Lernchance gesehen – ein Prinzip, das als „Graceful Failure“ bezeichnet wird, also ein „würdevolles Scheitern“, das nicht entmutigt.
Redaktion: Welchen Rückhalt bekommt diese Sichtweise aus der Forschung? Sind spielbasierte Ansätze wirklich motivierender und effektiver?
Ninaus: Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien zu spielbasierten Lernansätzen, auch wenn das Forschungsfeld noch relativ jung ist. Metaanalysen zeigen bereits, dass diese Ansätze positive Effekte auf Motivation und Lernleistung haben. Entscheidend ist dabei die Qualität des Spiels und seine didaktische Einbettung.
Spiele sind kein Allheilmittel, sondern sollten ergänzend zu traditionellen Unterrichtsmethoden eingesetzt werden. Besonders wirkungsvoll sind sie, wenn sie durch Reflexionsphasen ergänzt werden – etwa durch Diskussionen im Klassenzimmer, die ethische oder themenspezifische Inhalte vertiefen. Die Wirksamkeit hängt stark von den eingesetzten Spielen, deren Mechaniken und den Lernzielen ab. Allgemeingültige Aussagen sind daher schwierig, doch in Kombination mit klassischen Methoden können spielbasierte Ansätze das Lernen nachweislich verbessern.
Redaktion: Ein anhaltender Trend ist Gamification. Was versteht die Forschung darunter?
Ninaus: Gamification integriert einzelne Spielelemente – etwa Punkte, Abzeichen oder Ranglisten – in ursprünglich nicht-spielerische Kontexte. Oft wird sie als eine Art „Schokoladenüberzug auf Brokkoli“ oder „sugar coated pill“ beschrieben – ein äußerer Anreiz, der das Lernen attraktiver machen soll, ohne den eigentlichen Lernprozess grundlegend zu verändern.
Redaktion: Zudem steht Gamification häufig in der Kritik, weil es mit Belohnungssystemen arbeitet. Worin liegt das Problem für den Lernzuwachs?
Ninaus: Gamification setzt meist auf extrinsische Belohnungssysteme, die die intrinsische Motivation der Lernenden untergraben können. Dies wird als Undermining Effect bezeichnet: Wenn Belohnungen nicht adäquat die tatsächliche Leistung widerspiegeln, kann dies die Motivation der Schülerinnen und Schüler sogar verringern. Zudem besteht die Gefahr, dass Lernende sich stärker auf das Sammeln von Belohnungen als auf den eigentlichen Lernprozess konzentrieren.
Allerdings bietet Gamification auch Potenziale, etwa durch klare Zielstrukturen, kontinuierliches Feedback oder die Einbettung von Aufgaben in ein Narrativ. Entscheidend ist, wie sie umgesetzt wird.
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Prof. Kou Murayama erforscht, wie Belohnungen im Unterricht die Motivation von Schüler:innen beeinflussen.
Redaktion: Das Problem ist also die extrinsische Belohnung?
Ninaus: Gerade zu Beginn können extrinsische Belohnungen auch hilfreich sein, um das situationale Interesse der Lernenden zu wecken. Spielelemente oder erzählerische Elemente in spielbasierten Ansätzen können die Neugier fördern und so den ersten Zugang zu einem Thema erleichtern.
Ein zentraler Forschungsbereich ist der Übergang von extrinsischer zu intrinsischer Motivation. Zwar fußen spielbasierte Ansätze auch oft auf extrinsischen Reizen, doch über die Zeit kann daraus echtes, dispositionales Interesse entstehen. Wenn sich Lernende intensiver mit einem Thema auseinandersetzen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich auch außerhalb des Spiels weiter damit beschäftigen.
Ein Beispiel: Jemand spielt ein geschichtsbasiertes Spiel, entdeckt dabei seine Begeisterung für das Thema und beginnt, sich in der Freizeit weiter mit Geschichte zu befassen. Dieser Prozess zeigt, dass extrinsische Motivation langfristig intrinsische Motivation und dispositionales Interesse fördern kann.
Redaktion: Gibt es spielbasierte Ansätze, die gegenüber Gamification dennoch im Vorteil sind?
Ninaus: Beim Playful Learning wird der Lernprozess oft ganzheitlicher gestaltet. Es bietet mehr Raum für Exploration und betont Ansätze wie „Graceful Failure“. Auch werden zum Beispiel virtuelle Szenarien genutzt, um Konzepte anschaulich zu vermitteln. Oft fehlt Lernenden die Einsicht, warum bestimmte Inhalte wichtig sind. Ein gutes Narrativ – ob realitätsnah oder fiktiv – oder Kontextualisierung können hier Abhilfe schaffen, indem sie die Bedeutung eines Themas vermitteln und so die Motivation steigern.
Redaktion: Wir sprechen die ganze Zeit über Spiele. Gibt es einen Unterschied zwischen digitalen und analogen spielbasierten Ansätzen?
Ninaus: Beim Vergleich von analogen und digitalen spielbasierten Ansätzen sollte man zunächst die Gemeinsamkeiten betrachten: Beide zielen darauf ab, Motivation zu steigern, die Lernerfahrung zu verbessern und idealerweise den Lernerfolg zu erhöhen. Die Art der Umsetzung unterscheidet sich jedoch.
Ein großer Vorteil digitaler Ansätze liegt in der Möglichkeit, Echtzeit-Feedback, Personalisierung, Adaptivität und Scaffolding – eine temporäre Lernunterstützung, die schrittweise abgebaut wird – einzusetzen. Analoge spielbasierte Ansätze sind hingegen oft stärker sozial ausgerichtet, da sie häufig in Gruppen gespielt werden und kooperatives oder kollaboratives Lernen fördern. Allerdings gewinnen soziale Elemente auch in digitalen Spielen zunehmend an Bedeutung, um gemeinsames Problemlösen und Projektarbeit zu ermöglichen.
Entscheidend sind der Kontext und die Einbindung in den Unterricht. Beide Ansätze verfolgen die gleichen Ziele – weder digital noch analog ist grundsätzlich überlegen.
Redaktion: Woran erkennen Lehrkräfte gute spielbasierte Methoden, die sie in ihren Unterricht integrieren können?
Ninaus: Ein gutes Lernspiel zeichnet sich dadurch aus, dass Spielmechaniken und Lerninhalte nahtlos miteinander verzahnt sind. Dieses Prinzip wird als intrinsische Integration bezeichnet. Dabei ist der Lernprozess nicht nur ein notwendiger Schritt zum Spielen, sondern das Spiel selbst wird zum Lernprozess – das Lernen wird zur Belohnung.
Ein guter Ansatzpunkt, um qualitativ gute Spiele in den Unterricht zu integrieren, ist die wissenschaftliche Validierung. Viele Spiele entstehen in der Forschung und bieten dadurch einen nachweislich nachhaltigen Lernnutzen. Daneben bieten Plattformen wie Games im Unterricht Lehrkräften Ansätze, um kommerzielle Unterhaltungsspiele sinnvoll in den Lehrplan einzubinden.
„Gerade in einer Zeit, in der KI-generierte Lösungen einfach verfügbar sind, ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler den Lernprozess selbst als belohnend empfinden, anstatt sich nur auf das Endergebnis zu fokussieren.“
Prof. Dr. Manuel Ninaus
Redaktion: Können Sie das Prinzip der intrinsischen Integration genauer erklären?
Ninaus: Um den Unterschied zu verdeutlichen, hilft ein Gegenbeispiel: Ein Lernspiel, das mathematische Aufgaben stellt und die Schülerinnen und Schüler für richtige Antworten mit virtuellen Münzen belohnt, die sie dann für ein separates Minispiel ausgeben können, legt den Fokus nicht auf das eigentliche Lernen, sondern darauf, Belohnungen zu sammeln. Dies führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler möglicherweise Strategien entwickeln, um möglichst effizient Münzen zu erhalten, ohne sich tatsächlich mit dem Lerninhalt auseinanderzusetzen.
Ein gutes Lernspiel hingegen verknüpft Spielmechanik und Lerninhalt direkt miteinander. Ein vereinfachtes Beispiel wäre ein Spiel, in dem ein Charakter eine Brücke überqueren muss und die Stabilität der Brücke von der korrekten Berechnung von Brüchen abhängt. Hier wird das Lernen selbst zur Belohnung, da das Spiel nur dann erfolgreich fortgesetzt werden kann, wenn die Lerninhalte verstanden wurden. Der Lernprozess ist dann nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern wird als wertvoller Teil des Spiels empfunden.
Gerade in einer Zeit, in der KI-generierte Lösungen einfach verfügbar sind, ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler den Lernprozess selbst als belohnend empfinden, anstatt sich nur auf das Endergebnis zu fokussieren. Ein gutes Lernspiel unterstützt diesen Gedanken, indem es das Lernen selbst spannend und erlebnisreich gestaltet.
Redaktion: Können Spielelemente den Lerneffekt auch verschlechtern, wenn sie falsch eingesetzt werden?
Ninaus: Ein häufiges Problem bei der Entwicklung und Nutzung von Lernspielen ist die Tendenz, zu viele Spielelemente an eine bestehende Lernaufgabe anzuhängen, ohne dabei die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Informationsverarbeitung zu berücksichtigen. Dies kann zu einer kognitiven Überlastung führen und den eigentlichen Lerninhalt in den Hintergrund drängen.
Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Gestaltung von Lernspielen ist die Berücksichtigung individueller Unterschiede in der Motivation der Lernenden. Beispielsweise sind kompetitive Elemente wie Ranglisten oder Highscores nicht für alle Lernenden motivierend. Studien zeigen, dass klassische Leaderboards häufig nur das obere Drittel der Rangliste motivieren, während das untere Drittel oft demotiviert wird. Eine mögliche Lösung besteht darin, Leaderboards selektiv anzuzeigen, sodass die Lernenden nur die Personen sehen, die knapp über oder knapp unter ihnen in der Rangfolge stehen. Dies reduziert das Gefühl der Überforderung und macht Fortschritt greifbarer.
Ähnlich verhält es sich mit kooperativen Elementen. Während manche Lernende durch direkte Konkurrenz angespornt werden, bevorzugen andere kollaborative Ansätze. Besonders erfolgreich sind hybride Modelle, in denen Lernende in Teams zusammenarbeiten und gemeinsam gegen andere Teams antreten. Studien zeigen, dass dieser sogenannte Koopetition-Ansatz nicht nur die Motivation steigern, sondern auch das Engagement der Lernenden langfristig erhöhen kann.
Redaktion: Stichwort Bildungsgerechtigkeit: Profitieren alle Kinder gleichermaßen von Spielen?
Ninaus: Natürlich bestehen Herausforderungen wie der ungleiche Zugang zu digitalen Geräten und Internetressourcen, was Bildungsungleichheiten verstärken kann.
Gleichzeitig sehen wir, wie digitale Lernspiele Bildungsungleichheiten verringern können, indem sie lernschwache Kinder, wie etwa solche mit Dyskalkulie, unterstützen. Studien zeigen, dass besonders diese von spielerischen Ansätzen profitieren, da sie ihre Selbstwirksamkeit stärken und ihnen helfen, sich besser mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen. Darüber hinaus hat die Forschung nachgewiesen, dass digitale Lernspiele auch bei Kindern mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen oder Migrationsgeschichte gleiche positive Effekte haben können, etwa in der Förderung von Sprach- und Mathematikkompetenzen.
Redaktion: Wie sieht es beim Thema Zugänglichkeit und Inklusion aus?
Ninaus: Inklusion und Accessibility, also Zugänglichkeit, sind zentrale Aspekte, besonders im spielbasierten Lernen. So können Schülerinnen und Schüler mit limitierten kognitiven Ressourcen oder Kinder mit spezifischen Lernstörungen wie Dyskalkulie beispielsweise von zusätzlichen Spielelementen abgelenkt werden. Interessant ist jedoch, dass die Motivation, die durch diese Spielelemente erzeugt wird, möglicherweise die zusätzlichen kognitiven Ressourcen kompensiert, die durch die kognitive Verarbeitung von Spielelementen verbraucht werden. Studien zeigen, dass auch Lernende, die in bestimmten Bereichen Schwierigkeiten haben, von den spielerischen Ansätzen profitieren. Die zusätzliche Motivation scheint ihnen zu helfen, die kognitiven Herausforderungen besser zu bewältigen, und sie verbinden positive Emotionen mit dem Lernprozess. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein richtig gestaltetes Spiel auch inklusiv sein kann.
„Spielerisches Lernen ist ein natürlicher Bestandteil der kognitiven Entwicklung von Kindern.“
Prof. Dr. Manuel Ninaus
Redaktion: Gibt es eine Altersspanne, in der spielbasierte Ansätze besonders sinnvoll sind?
Ninaus: Spielerisches Lernen ist ein natürlicher Bestandteil der kognitiven Entwicklung von Kindern. Schon in frühen Entwicklungsphasen können Kinder symbolisches und soziales Denken durch Spielen entwickeln, wie etwa das Verwenden eines Steins als Auto oder das Üben von Gewinnen und Verlieren im sozialen Kontext. Die eigentliche Frage sollte eher sein: Warum hören wir mit zunehmendem Alter auf, spielerisch zu lernen? Spielerisches Lernen ist ein effektives didaktisches Mittel, das den Lernprozess positiv unterstützt. Es fördert nicht nur das Engagement auf unterschiedlichen Ebenen, also kognitiv, emotional und behavioral, sondern – so wird zumindest aktuell vermutet – auch Fähigkeiten wie Durchhaltevermögen und ein Growth Mindset, da Spiele oft so strukturiert sind, dass man durch Übung Fortschritte macht und Fehler als Teil des Lernprozesses akzeptiert.
Redaktion: Auch in der Sekundarstufe sollte also mehr gespielt werden?
Ninaus: Der spielbasierte Ansatz in Lehrplänen wird mit zunehmendem Alter der Lernenden immer weniger berücksichtigt. Es gibt jedoch kaum Gründe, warum spielbasiertes Lernen nicht auch in höheren Schulstufen oder sogar im Erwachsenenalter von Nutzen sein sollte.
Interessanterweise ist das Durchschnittsalter von Videospielenden in Deutschland mittlerweile etwa 38 Jahre, und rund 58 Prozent der Personen im Alter von sechs bis 69 Jahren spielen Videospiele, was zeigt, dass das Spielen ein weit verbreitetes Hobby ist und kein rein jugendliches Phänomen darstellt. Zudem ist das Geschlechterverhältnis nahezu ausgeglichen, denn 48 Prozent der Spielenden sind weiblich. Eine der am schnellsten wachsenden Altersgruppen sind sogar die sogenannten Silvergamer zwischen 50 und 60 Jahren. Spielen bleibt also eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen und ein vielseitiges Medium, das auch im Erwachsenenalter nicht an Bedeutung verliert.
Redaktion: Gleichzeitig bleibt ein zentrales Problem, nämlich dass Prüfungen häufig nicht zur Spielmechanik passen. Wie sinnvoll sind Spiele aus pädagogischer Sicht dennoch?
Ninaus: Das eigentliche Problem liegt nicht im Spiel selbst, sondern in der Art und Weise, wie Prüfungen derzeit gestaltet sind. Eine interessante Lösung könnte das sogenannte Stealth-Assessment bieten, bei dem die Bewertung im Hintergrund erfolgt, ohne dass die Lernenden es direkt merken. So könnte die Kompetenz der Lernenden durch den Lernprozess im Spiel überprüft werden, anstatt in einer klassischen Prüfungssituation. Dies könnte besonders hilfreich für Schülerinnen und Schüler sein, die Prüfungsangst haben und daher schlechter abschneiden, obwohl sie das nötige Wissen besitzen.
Redaktion: Herr Professor Ninaus, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Manuel Ninaus ist Professor an der Universität Graz und Mitglied des Graduate School & Research Network LEAD. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf spielbasiertem Lernen, Gamification und der Nutzung von Technologie zur Förderung von Lernprozessen.