„Von sprachsensiblem Unterricht profitieren alle Schüler:innen“

Bildungsforscherin Dr. Birgit Heppt spricht im Interview über die Bedeutung von Bildungssprache und erklärt, wie sprachsensibler Unterricht in einem heterogenen Klassenzimmer funktioniert.

Redaktion: Frau Heppt, Sprache, Denken und Verstehen werden in der Theorie des sprachsensiblen Unterrichts unmittelbar miteinander verknüpft. Welche konkreten Verbindungen bestehen zwischen Sprache, Denken und Verstehen?

Dr. Birgit Heppt: Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie, dass es vielfältige Beziehungen zwischen sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten gibt, dass also beispielsweise schon bei sehr jungen Kindern sprachliche Kompetenzen zur Entwicklung von Gedächtnis- und Problemlösefähigkeiten beitragen. Bezogen auf den Schulbereich würde ich vor allem die kommunikative und kognitive Funktion von Sprache betonen. Sprache ist einerseits das zentrale Medium, durch das neues Wissen erworben beziehungsweise im wechselseitigen Austausch mit anderen konstruiert wird. Gleichzeitig erfüllt Sprache auch wichtige kognitive Funktionen. Sprache wird häufig als Denkwerkzeug bezeichnet, das das Verständnis abstrakter Konzepte unterstützt und anspruchsvolle Denkprozesse wie Schlussfolgerungen überhaupt erst ermöglicht. Dementsprechend zeigen zahlreiche Studien, dass sprachliche Kompetenzen bedeutsam zum fachlichen Wissenserwerb beitragen.

„Es gibt den Einwand, dass Bildungssprache vor allem zu Distinktionszwecken verwendet wird, wodurch letztendlich soziale Ungleichheiten reproduziert werden.“

Dr. Birgit Heppt

Redaktion: Warum nutzen wir im Bildungskontext überhaupt eine andere Sprache als im Alltag? Erfüllt die Bildungssprache eine konkrete Funktion, die die Alltagssprache nicht übernehmen kann oder stellt sie vielmehr ein Prestige dar, über das wir als Gesellschaft nachdenken sollten?

Heppt: Es gibt den Einwand, dass Bildungssprache vor allem zu Distinktionszwecken verwendet wird, wodurch letztendlich soziale Ungleichheiten reproduziert werden. Es zeigt sich auch durchaus, dass Schülerinnen und Schüler in Abhängigkeit vom sozioökonomischen und bildungsbezogenen Hintergrund ihrer Familien ganz unterschiedliche Möglichkeiten haben, sich außerhalb der Schule bildungssprachliche Kompetenzen anzueignen. Aber mit Blick auf die kommunikativen und kognitiven Funktionen von Sprache lässt sich die Verwendung und Beherrschung von Bildungssprache auch fachlich begründen. Fachliche Ziele des Sachunterrichts der Grundschule bestehen beispielsweise darin, dass Kinder Vermutungen äußern und begründen, Experimente durchführen und ihre Lern- und Arbeitsergebnisse verständlich vorstellen können. Das funktioniert aber nur, wenn Kinder über die entsprechenden sprachlichen Mittel verfügen, also beispielsweise bestimmte Fachbegriffe kennen oder wissen, wie man eine Vermutung – im Unterschied zu einer Feststellung – sprachlich ausdrückt. 

„In der öffentlichen Wahrnehmung stehen häufig Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Fokus. Unsere Studien zeigen aber, dass auch monolingual deutschsprachige Schülerinnen und Schüler größere Schwierigkeiten im Umgang mit Bildungssprache haben als im Umgang mit Alltagssprache.“

Dr. Birgit Heppt

Redaktion: Worin unterscheiden sich Bildungs- und Alltagssprache?

Heppt: Es gibt keine eindeutige Abgrenzung zwischen Alltagssprache und Bildungssprache, sondern die Übergänge zwischen beiden Registern sind fließend. Insbesondere in den unteren Klassenstufen wird die Alltagssprache auch im Unterricht noch häufig verwendet. Dennoch kommen bestimmte sprachliche Merkmale in der schulischen Sprache häufiger vor als in der Alltagssprache. Diese tragen dazu bei, dass mündliche wie schriftliche Texte sachlich und präzise sind und Informationen in kurzen Abschnitten verdichten. Maßgebend dafür sind vor allem bildungssprachliche Wörter. Neben Fachwörtern, wie „Hypotenuse“ im Mathematikunterricht oder (Wasser) „verdrängen“ im Sachunterricht, zählen hierzu insbesondere sogenannte allgemeine bildungssprachliche Wörter. Das sind Wörter, die fächerübergreifend verwendet werden, um Wissen zu vermitteln oder Arbeitsaufträge zu verstehen. Typische Beispiele sind „bestimmen“ im Sinne von „einen Wert bestimmen“ oder auch „annehmen“ im Sinne von „vermuten“. Diese Beispiele machen zugleich deutlich wird, dass bildungssprachliche Wörter häufig mehrdeutig sind. Das heißt, sie dürften Schüler:innen aus ihrem Alltag bereits bekannt sein, werden aber im schulischen Kontext in einer anderen Bedeutung verwendet. Man nimmt an, dass diese Wörter aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Alltagssprache im Unterricht häufig nicht gezielt eingeführt und geübt werden – ganz anders als Fachbegriffe, die Teil des Curriculums sind und die daher im Unterricht vermutlich explizit thematisiert werden. Tatsächlich haben wir in eigenen Studien  festgestellt, dass allgemeine bildungssprachliche Begriffe für mehrsprachige Lernende in stärkerem Maße zur Schwierigkeit von Aufgaben und Texten beitragen als Fachbegriffe.

Weiterlesen: Was sprachsensibler Unterricht leisten kann
Wie wirksam sind Unterrichtskonzepte, die Schülerinnen beim Erwerb von bildungssprachlichen Kompetenzen unterstützen und wo liegen die Grenzen?

Redaktion: In Bezug auf sprachsensiblen Unterricht, liest man häufig von sogenannten „sprachschwachen“ Schülerinnen und Schülern. Welche Ursachen konnte die Forschung für eine verringerte Sprachkompetenz feststellen?

Heppt: In der öffentlichen Wahrnehmung stehen häufig Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Fokus, die die Unterrichtssprache als Zweitsprache erwerben. Eine Vielzahl empirischer Studien hat gezeigt, dass diese Schülerinnen und Schüler in ihren deutschen Sprachkompetenzen im Durchschnitt hinter ihren monolingual deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschüler zurückbleiben und dass es dem deutschen Bildungssystem nicht angemessen gelingt, diese Leistungsunterschiede auszugleichen. Zum Teil spielt hierfür sicherlich ein geringerer oder später einsetzender Sprachkontakt eine Rolle. Allerdings wissen wir auch, dass ein Großteil der Unterschiede in den sprachlichen Kompetenzen zwischen Schülerinnen und Schülern mit und Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund auf Unterschiede im sozioökonomischen und bildungsbezogenen familiären Hintergrund zurückgeführt werden kann. Dementsprechend haben auch Kinder ohne Migrationsgeschichte, die in Familien mit geringerem sozioökonomischem Status aufwachsen, oftmals geringere sprachliche Kompetenzen als Gleichaltrige aus sozioökonomisch privilegierteren Familien. Diese Kinder verfügen häufig über ein sprachlich weniger anregungsreiches familiäres Umfeld und dies schlägt sich dann auch in ihrem sprachlichen Kompetenzniveau nieder.

Mir ist es jedoch wichtig zu betonen, dass alle Schülerinnen und Schüler von einem sprachsensiblen Fachunterricht profitieren können. Bildungssprachliche Anforderungen stellen nicht nur für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler eine Hürde dar. Unsere Studien zeigen, dass auch monolingual deutschsprachige Schülerinnen und Schüler größere Schwierigkeiten im Umgang mit Bildungssprache haben als im Umgang mit Alltagssprache.

„Wenn die Bestimmung der sprachlichen Anforderungen der Unterrichtsinhalte nicht systematisch umgesetzt wird, kann dies die Effektivität der umgesetzten Sprachfördermaßnahmen im Unterricht einschränken.“

Dr. Birgit Heppt

Redaktion: Dennoch benötigen sprachschwache Kinder eine andere Förderung als sprachlich stärkere Schülerinnen und Schüler. Wie können sprachsensible Unterrichtskonzepte in einem heterogenen Klassenzimmer eingesetzt werden? 

Heppt: Die Sprachförderstrategien lassen sich je nach Sprachniveau unterschiedlich ausgestalten. In jedem Fall ist es wichtig, dass sich die sprachlichen Unterstützungsmaßnahmen an den sprachlichen Anforderungen des Unterrichts, am Lernstand der Schülerinnen und Schüler und an vorab definierten fachlichen und sprachlichen Lernzielen orientieren. Darüber hinaus können sprachlich stärkere Schülerinnen und Schüler auch gezielt als Sprachvorbilder eingesetzt werden. Beispielsweise können sie bei einer Stationenarbeit in Kleingruppen auch Sachverhalte erklären. Das unterstützt die schwächeren Lernenden und hilft den stärkeren Schülerinnen und Schülern, die sich darüber Gedanken machen müssen, wie sie ihr Wissen so versprachlichen, dass es auch für andere nachvollziehbar ist. Dem Einsatz von Hilfestellungen im Unterricht muss dabei eine intensive Planungsphase vorausgehen, damit die Sprachförderung wirklich zielgerichtet erfolgen kann. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass gerade die Planungsphase und die Bestimmung der sprachlichen Anforderungen der Unterrichtsinhalte häufig nicht systematisch umgesetzt werden. Dies kann wiederum die Effektivität der umgesetzten Sprachfördermaßnahmen im Unterricht einschränken.

Redaktion: Bei der Planung und Umsetzung eines sprachsensiblen Unterrichts kommt Lehrkräften eine tragende Rolle zu. Können Fachlehrkräfte einen solchen Unterricht im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit überhaupt leisten? 

Heppt: Den eigenen Unterricht sprachsensibel zu gestalten, ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Zusätzlich zu den fachspezifischen Kompetenzen, also dem Fachwissen und dem fachdidaktischen Wissen und den allgemeinen Fähigkeiten zur Unterrichtsgestaltung, etwa im Bereich der Klassenführung, müssen Lehrkräfte die sprachlichen Anforderungen der Unterrichtsinhalte analysieren können. Sie sollten das sprachliche Niveau ihrer Schülerinnen und Schüler kennen, müssen also auch über Fähigkeiten im Bereich der Sprachdiagnostik verfügen – und schließlich müssen sie auch noch geeignete Sprachförderstrategien kennen, um diese zielgerichtet einzusetzen. Das im Unterrichtsalltag konsequent umzusetzen, halte ich schon für herausfordernd. Gleichzeitig wird häufig eingewandt, dass es zeitlich im Rahmen des regulären Unterrichts kaum zu machen sei, auch noch Sprachbildung zu betreiben. Dieses Argument würde ich gerne etwas entkräften. Im Projekt ProSach, in dem wir Lehrkräfte im Bereich der fachintegrierten Sprachbildung unter anderem anhand von Videocoachings fortgebildet haben, konnten wir feststellen, dass es vielen Lehrkräften sehr gut gelingt, immer wieder ausgewählte Sprachförderstrategien in den Unterricht einfließen zu lassen – teilweise dauert das nur zwei Minuten. 

„Wenn Lehrkräfte den Sprachstand ihrer Schülerinnen und Schüler im Schulalltag erfassen wollen, sind sie nach wie vor stark auf informelle Verfahren angewiesen.“

Dr. Birgit Heppt

Redaktion: Wie Sie bereits angesprochen haben, beruht der sprachsensible Unterricht darauf, dass Lehrkräfte den Sprachstand ihrer Schülerinnen und Schüler richtig einschätzen können, um sie mit zielgerichteten Fördermaterialien zu unterstützen. Wie kann diese bildungssprachliche Kompetenz bei Lernenden überhaupt ermittelt werden? 

Heppt: Es gibt eine Reihe von Verfahren, wovon viele jedoch nur für die Forschung geeignet sind und sich zum Teil auch noch in der Entwicklung befinden. Einen Test, der sowohl in der Forschung als auch in der Praxis funktioniert, haben wir im Projekt BiSpra (Bildungssprachliche Kompetenzen: Anforderungen, Sprachverarbeitung und Diagnostik) entwickelt. Damit lassen sich verschiedene Facetten des Verständnisses von Bildungssprache bei einsprachigen und mehrsprachigen Grundschulkindern der Jahrgangsstufen 2 bis 4 erfassen. Konkret ermöglicht der Test, das Hörverstehen bildungssprachlich anspruchsvoller Texte zu erfassen sowie das Verständnis von Satzverbindungen mit Konnektoren und das Verständnis allgemeiner bildungssprachlicher Wörter. Bei der Entwicklung haben wir darauf geachtet, auch die Erfahrungen und Rückmeldungen von Lehrkräften und Lehramtsstudierenden zu berücksichtigen, um den Test möglichst praxistauglich zu gestalten.

Wenn Lehrkräfte den Sprachstand ihrer Schülerinnen und Schüler darüber hinaus im Schulalltag erfassen wollen, sind sie nach wie vor stark auf informelle Verfahren angewiesen. Lehrkräfte müssen also versuchen, anhand der Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler im Unterrichtsgespräch oder anhand schriftlicher Arbeitsaufträge einzuschätzen, inwieweit ihre Schülerinnen und Schüler schon über die sprachlichen Fähigkeiten verfügen, die erforderlich sind, um bestmöglich vom Unterricht zu profitieren.

Redaktion: Welche Voraussetzungen muss die Bildungspolitik schaffen, um die häufig ohnehin schon überlasteten Lehrkräfte ausreichend für den sprachsensiblen Unterrichts zu qualifizieren?

Heppt: Aus meiner Sicht besteht in den verschiedenen Phasen der Lehrkräftebildung noch Entwicklungsbedarf. Zum einen müssten Module im Bereich der Sprachbildung systematisch in die universitäre Lehramtsausbildung integriert werden. Da hat sich in den letzten Jahren einiges getan, aber nach wie vor gibt es nur in fünf Bundesländern verpflichtende Studienanteile im Bereich Sprachbildung für Lehramtsstudierende aller Fächer. In manchen Ländern gibt es nur für einzelne Fächer oder Ausbildungsgänge – zum Beispiel Deutsch oder Grundschullehramt – verpflichtende Angebote im Bereich Sprachbildung oder es handelt sich um optionale Angebote.

Was das Fortbildungsangebot im Bereich Sprachbildung anbelangt, wäre es auf jeden Fall wichtig, dass verstärkt auf solche Angebote gesetzt wird, deren Wirksamkeit empirisch überprüft wurde. Wir wissen, dass wirksame Fortbildungsangebote meist längerfristig angelegt sind und Möglichkeiten bieten, neu erworbenes Wissen praktisch zu erproben und anschließend gemeinsam mit anderen Lehrkräften zu reflektieren. Viele der angebotenen Fortbildungen sind allerdings deutlich kürzer und dauern häufig nur einen oder einen halben Tag. Aber Lehrkräfte müssen es sich natürlich auch erst einmal leisten können, an langfristigen und intensiven Fortbildungen teilzunehmen. Hierfür müssten sie von anderen Aufgaben zumindest vorübergehend befreit werden können oder Entlastungsstunden erhalten. In Zeiten des Lehrkräftemangels bestehen hier sicherlich besondere Herausforderungen.

Redaktion: Frau Doktorin Heppt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Birgit Heppt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit dem Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Derzeit vertritt sie die Professur für Pädagogische Psychologie am Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.