Studie zum Corona-Aufholprogramm – „Gezielte Investitionen wurden in den meisten Bundesländern vermieden”

Professor Marcel Helbig hat die Maßnahmen zum Aufholen der Lernrückstände in den Bundesländern genauer untersucht – im Interview erläutert er, was funktioniert hat und was nicht.

Zwei Milliarden Euro sind in das Maßnahmenprogramm geflossen, dass Schülerinnen und Schülern bundesweit helfen sollte, die durch die Pandemie verursachten Lernrückstände aufzuholen. Wo das Geld eingesetzt wurde, welche Probleme den Bundesländern in der Umsetzung begegnet sind und was dringend besser laufen muss, erläutert Prof. Dr. Marcel Helbig im Interview.

Redaktion: Herr Helbig, Sie haben am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung die Umsetzung des zwei Milliarden Euro teuren Bund-Länder-Aktionsprogramms Aufholen nach Corona" untersucht. Wie sehen Ihre Ergebnisse aus? 

Prof. Dr. Marcel Helbig: Insgesamt konnten wir feststellen, dass die Länder sehr unterschiedlich mit den Herausforderungen der Pandemie umgegangen sind und ihre Ansätze sehr verschiedene Schwerpunkte hatten. Die einen konzentrierten sich mehr darauf, innerschulisches Personal einzustellen oder aufzustocken, also Lehrkräfte zu finanzieren, aber auch zusätzliche pädagogische Fach- und Assistenzkräfte einzustellen. Andere haben sich vor allem um Honorarkräfte bemüht, die sie außerhalb und teilweise auch innerhalb des Unterrichts einsetzen wollten. Die Zielsetzungen – sowohl bei der Suche nach neuen Lehr- wie Honorarkräften – wurden jedoch fast nirgendwo erreicht und zum Teil sogar massiv unterschritten. Das ist auf einem leeren Markt für pädagogische Fachkräfte nachzuvollziehen. Große Unterschiede gab es etwa auch bei den Ferienprogrammen. Manche Länder setzen sehr stark darauf, etwa Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg. Andere Länder wie Sachsen oder Thüringen lehnen eine zusätzliche Belastung der Kinder in den Ferien dagegen komplett ab. Auch Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission – wie die Konzentration auf wesentliche Kompetenzen in Mathe und Deutsch – wurden zum Teil komplett ignoriert. So hat etwa Niedersachsen beschlossen, sich komplett nur auf die sozialen und psychischen Probleme der Kinder zu konzentrieren. Insgesamt muss man sagen, dass die Lösungsansätze zwischen den Ländern sehr weit auseinanderklaffen. Und über ihre Wirksamkeit können wir sehr wenig sagen.

Redaktion: Wieso lässt sich so wenig über die Wirksamkeit sagen? 

Helbig: Um die Wirksamkeit der Programme nachvollziehen zu können, brauche ich eine Ausgangsmessung, ich muss wissen, welche Kinder an welchen Programmen teilgenommen haben. Und dann brauche ich eine Endmessung, die mir etwas darüber sagt, wie viel tatsächlich gelernt und aufgeholt wurde. Das Problem ist, dass wir so gut wie keine vernünftigen Ausgangsmessungen haben.

Redaktion: Warum sind solche Messungen, die für eine vernünftige Evaluation notwendig sind, nicht gemacht worden?

Helbig: Wir haben das Grundproblem in Deutschland, dass wir nicht annähernd die Strukturen haben, um fortlaufend eine vernünftige Evaluation zu leisten. Das macht eine entsprechende Programmbegleitung so gut wie unmöglich. Wir sind ein absolutes Entwicklungsland, was das Monitoring unserer Bildungsergebnisse angeht und liegen auch im internationalen Vergleich weit hinter Ländern wie den Niederlanden, den USA oder Großbritannien. Der Eindruck, dass wir die große empirische Wende in der Bildungspolitik geschafft hätten, trügt. Der IQB-Länderbericht für Viert- und Neuntklässler alle sechs Jahre ist bei weitem nicht ausreichend. Die Vera-Vergleichsarbeiten werden überschätzt und wurden zudem während der Pandemie gar nicht von allen Bundesländern turnusmäßig durchgeführt. Wer sich die Vera-Daten mal genauer anschaut und Jahr für Jahr vergleicht, merkt, wie viel Volatilität in ihnen steckt. Sie sind meiner Ansicht nach für verlässliche Vergleiche im Zeitverlauf überhaupt nicht nutzbar. Wir haben schlicht keine fortlaufende Kompetenzerhebung in Deutschland, die man in solchen Ausnahmesituationen wie der Pandemie nutzen könnte. Lediglich in Hamburg gibt es diesbezüglich vernünftige Datenerhebungen, mit denen man etwas anfangen kann. 

Redaktion: Was läuft denn in Hamburg anders als im Rest der Republik?

Helbig: Hamburg steht ein Stück weit vor allen anderen Bundesländern. Das Bundesland hat in der empirischen Bildungsforschung große Fortschritte gemacht, dort wird das Bildungssystem anhand von standardisierten Daten analysiert und die Datenerhebung auch nicht durch Lehrkräfte, sondern durch Testleiter durchgeführt. Zudem gibt es in Hamburg gewachsene Strukturen, die es viel besser ermöglichen, mit Lernrückständen umzugehen.  Man hat dort vor einiger Zeit beschlossen, dass Klassenwiederholungen kein sinnvoller Weg sind, um Lernrückstände aufzuholen. Ab diesem Zeitpunkt wurde stattdessen individuelle Förderung in die Schulen integriert. Wenn ein Kind das Klassenziel nicht erreicht, wird das Gespräch mit den Eltern gesucht und ein Förderplan erstellt. Innerhalb dieses Plans werden den Kindern dann Personen zur Verfügung gestellt, um diese Rückstände aufzuholen und das Kind wieder an die Klasse heranzuführen – und das Ganze in einem Kontext, in dem es bis zu einem Alter von 14 Jahren einen Anspruch auf Ganztagsschule gibt. Das sind luxuriöse Bedingungen für ein Corona-Aufholprogramm, die in dieser Weise in keinem anderen Bundesland zu finden sind. Ganz allgemein gilt: Es gibt nur wenige Länder, die in der Breite Strukturen haben, um innerhalb von Schulen Lernrückstände aufzuholen. 

Redaktion: Was ist Ihnen bei den Maßnahmen der Länder zum Aufholen der Lernrückstände noch aufgefallen? 

Helbig: Einer der Grundgedanken zum Aufholprogramm war, zielgenau zu fördern. Nicht erst seit der IQB-Studie wissen wir ja, dass vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und sozial benachteiligtem Umfeld unter der Pandemie gelitten haben. Das hat das Gros der Bildungsforschung schon nach dem ersten Lockdown gesagt. Man würde denken, es kann daher nur eine Antwort geben: Dass systemisch diesen Kindern unter die Arme gegriffen wird. Wir haben in Deutschland etwa nach Schularten und Wohnorten viel Segregation, also eine räumliche Abbildung sozialer Ungleichheit, die Ansatzpunkte bieten würde für eine gezielte Förderung der besonders betroffenen Gruppen. Die Länder haben auch Instrumente wie Sozialindizes, die ihnen bei solchen Förderentscheidungen helfen würden. Dennoch wurden solche gezielten Investitionen in den meisten Ländern vermieden und das Geld meist mit der Gießkanne an alle Schulträger gleich verteilt. In vielen Bundesländern haben Privatschulen und Gymnasium die gleichen Fördersummen erhalten wie deutlich schwerer betroffene Haupt-, Real- und Grundschulen in benachteiligten Bezirken.

Redaktion: Warum wurde das so entschieden?

Helbig: Es hat sicherlich damit zu tun, dass man es allen recht machen wollte. Hinzu kommt, dass es in manchen Ländern wie Bayern und Sachsen starke politische Überzeugungen gibt wie: „Wir haben keine sozialen Unterschiede” oder: „Es geht hier nur nach Leistung und alle Kinder haben die gleichen Voraussetzungen!” Zu akzeptieren, dass manche Schulen eigentlich eine stärkere finanzielle Förderung benötigen, fällt dort offenbar aus ideologischen Gründen schwerer. Womöglich hatte man hier auch einen größeren Widerstand gewisser Bevölkerungsgruppen befürchtet. Durch das Verteilen der Gelder per Gießkanne wurde dieser vermieden. Man muss hier aber auch erwähnen, dass es lobenswerte Ausnahmen gab: Brandenburg etwa. Dort wurde – wie anderswo auch – in den Schulen eine Leistungserfassung durch die Lehrkräfte durchgeführt, allerdings – anders als anderswo – hat sich das Ministerium die Lernstände aus den Schulen auch hochmelden lassen. So konnte man relativ schnell identifizieren, wo die Unterstützungsbedarfe am höchsten sind. Und danach wurde dann gefördert. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie es hätte laufen können.

Redaktion: Wie stark wirkt sich der Personalmangel im Bildungsbereich auf die Fähigkeit der Bundesländer aus, das Aufholprogramm wirksam umzusetzen?

Helbig: Der Personalmangel ist das größte Problem im deutschen Bildungssystem und er trifft einige Länder viel härter als andere. Man muss sich nur die ostdeutschen Bundesländer anschauen, wie hoch dort in den vergangenen Jahren der Anteil von Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger ins Lehramt war. Dass bei den Neueinstellungen 30 Prozent keine regulären Lehrkräfte sind, ist hier keine Seltenheit. Hinzu kommt der Mangel an Bewerbungen. Zahlen aus dem vergangenen Jahr zeigen, dass sich in Sachsen-Anhalt lediglich auf ein Drittel der ausgeschriebenen Lehrstellen Bewerberinnen und Bewerber gemeldet haben, in Sachsen nur noch auf die Hälfte. Das ist ein absolutes Desaster. In diesem Kontext ein Aufholprogramm umzusetzen und neues pädagogisches Personal zu akquirieren, ist schlichtweg nicht möglich. Das ist etwa der Grund, warum sich Mecklenburg-Vorpommern seit dem ersten Tag auf externe und private Nachhilfe konzentriert. Dem Ministerium ist dort offensichtlich schnell klar geworden, dass das Bemühen um pädagogisches Personal aussichtslos ist. Es wurde nach Aussagen der GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, Anm. d. Red.) Mecklenburg-Vorpommern jeder Lehramtsstudierende und auch frisch Pensionierte angeschrieben und um Hilfe gefragt. Am Ende sind etwa 250 Kräfte für das ganze Bundesland zusammengekommen. Brandenburg, die wie gesagt im Grunde ein sehr gutes Förderkonzept erarbeitet haben, konnten bis heute nur etwa die Hälfte der notwendigen Lehrkräfte für die Unterstützung der benachteiligten Schulen finden. Im Osten wie auch in anderen großflächigen Bundesländern gibt es hier ein enormes Stadt-Land-Gefälle. Für den Lehrkräftemangel sind auch grobe Versäumnisse der Politik verantwortlich. Jeder, der das wollte, hat diesen Fachkräftemangel in den entsprechenden Gremien vor Jahren kommen sehen – und es wurde nicht reagiert.

Redaktion: Was kann die Bildungspolitik jetzt tun, um mit den aufgehäuften Lernrückständen umzugehen?

Helbig: Langfristig betrachtet sollten viele Bundesländer nach Hamburg schauen – sowohl was die Datenerfassung als auch die Strukturen anbelangt, die stärker an Ganztag und individueller Förderung orientiert sind. Auf der anderen Seite ist das, was Hamburg auszeichnet, natürlich auch wieder sehr personalintensiv, insbesondere der Anspruch auf Ganztagsbetreuung bis 14 Jahre. Was man von Ländern wie Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen lernen kann, ist ein stärkerer Fokus auf nicht-pädagogisches Personal. Da wurden zum Teil Minijobs eingerichtet, etwa für Pausenaufsichten oder IT-Unterstützung, um Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Tätigkeiten zu entlasten und im Ganztag auszuhelfen. Unabhängig davon halte ich insgesamt für nicht sinnvoll den Umgang mit den Coronafolgen den Lehrkräften zuzuschieben, mit der Floskel:  „Die Lehrkräfte wissen doch am besten Bescheid, was jetzt zu tun ist!“ Hier wird Lehrkräften, die in der Lage sind, Lernrückstände aufzuholen und mit Heterogenität umzugehen, etwas zugesprochen, das sie gar nicht für sich beanspruchen. Lehrkräfte sind auch froh, wenn sie bedarfsgerechte Unterstützung erfahren. Zu oft wird von oben einfach das Geld gegeben und erwartet, dass man in den Schulverwaltungen und Schulen dann damit irgendwie Lösungen findet.

Redaktion: Herr Professor Helbig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Marcel Helbig ist Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und am Leibniz Institut für Bildungsverläufe (LIfBi). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem, Stadtsoziologie, Schulpolitik, und regionale Ungleichheiten.