Trauer im Klassenzimmer – was tun bei einem Todesfall in der Schulgemeinschaft?

Was tun, wenn eine Lehrkraft oder ein:e Mitschüler:in stirbt? Im Interview spricht Psychologe Dr. Matthias Böhmer darüber, was Schule im Krisenfall leisten kann – und was nicht

Es kann ganz plötzlich über eine Schulgemeinschaft hereinbrechen: Ein Kind oder eine Lehrkraft verunglückt tödlich – und plötzlich sitzt der Schock mit im Klassenzimmer, Kollegium und Kinder müssen Trauer bewältigen. Wie geht man mit einer solchen Situation um? Und kann man sich auf sie vorbereiten? Darüber spricht Psychologe Dr. Matthias Böhmer im Interview.

Redaktion: Herr Dr. Böhmer, welche typischen Trauerreaktionen zeigen Schülerinnen und Schüler im Falle eines Todes?

Dr. Matthias Böhmer: Die Emotionen, mit denen Kinder und Jugendliche auf einen Todesfall reagieren, können je nach Alter, Persönlichkeit und persönlicher Betroffenheit ganz unterschiedlicher Natur sein: Die Spanne reicht vom Weinen über Wut bis hin zu Angst, Albernheit oder Lachen. Auch der familiäre und kulturelle Hintergrund, aus dem das Kind stammt, hat einen gewissen Einfluss auf seine Reaktion. Manche Kinder oder Jugendliche sind zudem eher extrovertiert, wollen offen zeigen, was sie fühlen, andere machen das primär mit sich selbst aus. Auch in Verhaltensweisen wie dem Verzicht auf Essen oder Hyperaktivität kann sich Trauer ausdrücken. Einige Kinder leiden auch an Konzentrationsschwächen. In extremeren Fällen kann es auch zu selbstverletzendem Verhalten kommen, etwa weil man sich schuldig fühlt. Der Wunsch, emotionale Kontrolle über das, was gerade in einem vorgeht, zu erlangen, kann ebenfalls zu einem solchen Verhalten führen. Hinzu kommen mögliche körperliche Reaktionen: Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schwindel, Kurzatmigkeit. Für Lehrkräfte ist dies alles nicht immer leicht einzuordnen und in Bezug zu setzen. Deshalb sind gute Kommunikation und Information im Falle eines Todes in der Schulgemeinschaft so wichtig.

Redaktion: Wie informiert und kommuniziert eine Schule bestenfalls, wenn es zu einem Todesfall in der Schulgemeinschaft kommt?

Böhmer: Das hängt natürlich sehr vom individuellen Fall ab: Ist eine Lehrperson gestorben, ein Schulkind oder ein Geschwisterkind von einer Mitschülerin oder einem Mitschüler? Nicht jedes Mal muss die komplette Schule informiert werden. Ein wichtiger Grundsatz ist: nichts ohne die Betroffenen unternehmen. Das heißt, als allererstes muss von Schulseite die persönliche Kontaktaufnahme mit den direkt Betroffenen stattfinden, also meistens der Familie, die trauert. Hierbei geht es natürlich zum einen um den Ausdruck der Anteilnahme und das Angebot von Unterstützung, zum anderen darum, genau festzustellen, was passiert ist und was überhaupt weitergegeben werden darf. Angehörige möchten es beispielsweise eventuell nicht, dass ein Suizid offen kommuniziert wird. Bei der Kommunikation eines Todesfalls an der Schule ist es meist sinnvoll, dass diese auch schriftlich erfolgt. Das hilft dabei, präzise, faktenorientiert und ein Stück weit nüchtern zu informieren, so Sicherheit und Klarheit zu vermitteln und Gerüchte zu vermeiden. Es sollte möglichst auf blumige Sprache und Verklausulierungen verzichtet werden. Die Tatsache, dass jemand gestorben ist, lässt sich durch Sprache nicht abmildern. Idealerweise läuft die Kommunikation von der Schulleitung zu den Lehrerinnen und Lehrern, von ihnen zu den Schülerinnen und Schülern und dann zu den Eltern.

„Menschen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Bedürfnisse in der Konfrontation mit Trauer. Jede und jeder versucht auf seine Art und Weise damit umzugehen.“

Dr. Matthias Böhmer

Redaktion: Wie gehen Lehrkräfte mit trauernden Schülerinnen und Schülern am besten um?

Böhmer: Erst einmal ist es wichtig, direkt anzusprechen, was passiert ist. Es sollten keine ausweichenden, missverständlichen Formulierungen verwendet werden wie „Herr Müller ist entschlafen.” Das kann gerade bei jüngeren Schülerinnen und Schülern falsche Assoziationen entstehen lassen, wie: „Der ist abends ins Bett gegangen, eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht! Dann kann ich auch nicht mehr ins Bett gehen und schlafen, dann sterbe ich ja!” Man sollte klar benennen, was passiert ist. Ansonsten gilt: Menschen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Bedürfnisse in der Konfrontation mit Trauer. Jede und jeder versucht auf seine Art und Weise damit umzugehen. Das ist alles in Ordnung, und es ist gut, wenn es für die Verarbeitung einen gewissen Raum gibt. Es kann Schülerinnen und Schülern auch sehr gut tun, Selbstwirksamkeit in Trauersituationen zu erfahren. Man kann etwa mit den Schülerinnen und Schülern erörtern, was mit dem Platz einer verstorbenen Mitschülerin oder eines verstorbenen Mitschülers geschehen soll. Auch für die Lehrkräfte ist das Erleben einer gewissen Selbstwirksamkeit wichtig. Dass man etwa Antworten findet auf Fragen, welche Kinder und Jugendliche im Zuge der Trauererfahrung und der Konfrontation mit dem Tod entwickeln.

Redaktion: Inwiefern spielt die Vorbereitung auf Trauerereignisse an der Schule hier eine Rolle?

Böhmer: Es erleichtert den Krisenfall enorm. Idealerweise ist ein Kollegium auch auf solche Ereignisse vorbereitet, so wie Lehrkräfte heute auf Amokläufe an Schulen vorbereitet werden. Es gibt bestimmte eingeübte Prozesse, eine Art Schema, das jede und jeder kennt. Im Falle eines Trauerereignisses ist es etwa sehr hilfreich, dass man Lehrerinnen und Lehrer auch darauf vorbereitet, was für Fragen typischerweise von Kinderseite gestellt werden. Es gibt mittlerweile auch von schulpsychologischen Diensten gute Informationsmaterialien mit Handlungsanweisungen (Links dazu unter diesem Interview, Anm. d. Red.), oftmals auch mit möglichen Themen, die von Seiten der Schülerinnen und Schülern eine Rolle spielen können. Natürlich sind da auch große und schwierige Fragen dabei wie „Was kommt nach dem Tod?”, die man nicht final beantworten kann. Aber hier darf eine Lehrerin und Lehrer natürlich auch sagen: „Das weiß ich auch nicht.” Oder: „Ich glaube an dieses und jenes. Aber für dich kann es anders sein.” 

Redaktion: Wie wichtig ist es, trotz der Ausnahmesituation eines Trauerfalls Normalität an der Schule zu praktizieren?

Böhmer: Die Normalität an der Schule im Krisenfall ist ein schwieriger, aber wichtiger Balanceakt. Schule kann für ein Kind oder einen Jugendlichen im besten Fall eine Stütze sein, ein wichtiger Halt. Hier gibt es Mitschülerinnen und Mitschüler, zu denen man enge Beziehungen hat, die einen vielleicht einmal in den Arm nehmen, die unterstützend wirken können, mit denen man gemeinsam Trauer bewältigen kann. Hier gibt es Lehrpersonen, zu denen man ein Vertrauensverhältnis hat. Und hier gibt es gewisse Strukturen und Prozesse, die man kennt. Diese sollten zumindest ein Stück weit aufrechterhalten bleiben. Schulalltag findet statt, auch wenn dann im Unterricht vielleicht nicht der neue Stoff durchgenommen werden kann. Doch wenn alle nach Hause gehen, fehlen diese haltgebenden Strukturen. Die Trauer ein Stück weit in den Schulalltag zu integrieren, ist auch deswegen wichtig, weil die Kinder und Jugendlichen anders trauern als Erwachsene: Sie springen oft zwischen Trauer und Nicht-Trauer. Manchmal wechseln Schülerinnen und Schüler in wenigen Minuten von Niedergeschlagenheit zu fröhlichem Spiel auf dem Pausenhof. Und drei Minuten später sind sie dann wieder total traurig. Das kann für Erwachsene etwas verwirrend wirken, aber für eine aktive Trauerbewältigung ist es sehr gut, in die Trauer rein und aus der Trauer wieder rauszugehen.

„Wichtig ist (...) auf die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen, der Kinder und Jugendlichen einzugehen, ohne dabei einem starren Plan zu folgen und diese Dinge einfach zu ‘verordnen’.“

Dr. Matthias Böhmer

Redaktion: Welche konkreten Möglichkeiten gibt es, um an Schulen Raum für die Verarbeitung eines Todesfalls zu schaffen und die Trauer in den Schulalltag zu integrieren?

Böhmer: Da gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten: Man kann einen Trauerraum bereitstellen, in dem zum Beispiel ein Buch ausliegt und Stifte, so dass sich die Kinder oder Jugendlichen ausdrücken können. Das Buch kann dann schließlich der trauernden Familie übergeben werden. Man kann Gedenkorte für verstorbene Mitschülerinnen oder Mitschüler einrichten, das kann eine Gedenktafel sein, ein Raum der Stille oder ein Bild oder ein Gegenstand im Klassenzimmer. Man kann im Klassenverband Briefe oder Karten an die trauernde Familie verfassen. Auch Beteiligungen an der Beerdigung sind – falls die Familie damit einverstanden ist – möglich. Viele Schulen haben einen „Trauerkoffer", der in der Regel Materialien wie Bücher, Spiele, kreative Anregungen und Informationen enthält, die helfen, das Thema Tod und Trauer altersgerecht und sensibel zu vermitteln. Wichtig ist bei all dem, die Umstände zu berücksichtigen und auf die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen, der Kinder und Jugendlichen einzugehen, ohne dabei einem starren Plan zu folgen und diese Dinge einfach zu „verordnen”.

Redaktion: Wie gehen Lehrkräfte damit um, wenn sie selbst emotional betroffen sind von einem Todesfall, oder auch, wenn es starke emotionale Reaktionen in der Klasse gibt? 

Böhmer: Natürlich dürfen auch Lehrkräfte Emotionen zeigen und eine Träne verdrücken. Gleichzeitig ist es ihre Aufgabe, ein Stück weit die Kontrolle zu behalten. Hier kann es helfen, im Austausch mit Kollegen und Kolleginnen zu sein, eventuell eine zweite Lehrperson oder auch die Schulpsychologin oder den Schulpsychologen hinzuzuziehen. Zusammen kann man mehr auffangen, besser für Fragen zur Verfügung stehen und sich um jene sorgen, die eventuell eine besonders intensive emotionale Reaktion zeigen, so dass diese Personen dann auch ein Stück weit aus dem Klassenverband herausgenommen werden können. So können Schülerinnen und Schüler, die stärker mit der Situation zu kämpfen haben, in einem eigenen, geschützten Raum betreut werden.

Redaktion: Was ist, wenn die Umstände des Todes oder die Situation die Lehrkräfte tatsächlich überfordert? Wo sind die Grenzen für Trauerarbeit in der Schule?

Böhmer: Im Idealfall gibt es ein Kriseninterventionsteam in der Schule, das in solchen Situationen einspringt und weiß, was zu tun ist. Das sind bestimmte Lehrkräfte, die sich dafür interessieren, die sich fortbilden. Idealerweise ist dann auch jemand von der Schulleitung mit dabei. Diese Personen sollten unter anderem auch eine Liste parat haben mit Ansprechpersonen, etwa Telefonnummern des schulpsychologischen Dienstes, so dass weitere Unterstützungssysteme aktiviert werden können. Auch um Kinder zu unterstützen, die über die Schulzeit hinaus Ansprechpartner brauchen, die vielleicht in dem Moment nicht in der Familie zu finden sind. Es kann ja zum Beispiel sein, dass ein Elternteil stirbt und dann der zweite Elternteil in seiner Trauer als Stütze für das Kind ausfällt. Lehrkräfte können natürlich keine 24-Stunden-Trauerunterstützung sein, dazu benötigt man dann externe Unterstützung. 

Redaktion: Besonders in den Grundschulen werden die Klassen immer diverser, es gibt immer mehr kulturelle Hintergründe und damit auch unterschiedliche Sichtweisen zum Thema Tod. Wie kann man in solchen diversen Klassen mit Trauer angemessen umgehen?

Böhmer: Sicherlich hilft es, informiert darüber zu sein, wie man in unterschiedlichen Traditionen – sei es im Christentum, im Islam, im Judentum, Buddhismus oder Hinduismus mit Tod und Trauer umgeht. Kein Mensch kann alles wissen, aber man kann sich so ein Stück weit informieren und neugierig sein. Auch im angesprochenen Trauerkoffer könnten hierzu etwa informative Broschüren enthalten sein. Wichtig ist hier generell, sensibel zu sein. Zu fragen, statt Annahmen zu treffen: Was braucht der Betroffene? Was braucht die Familie? Was ist adäquat? Was ist nicht adäquat? Auch deshalb ist es so wichtig, dass die Schulleitung als allererstes immer Kontakt mit der Familie aufnimmt.

Redaktion: Was ist der größte Fehler, den Schulen im Umgang mit Tod und Trauer in der Schulgemeinde begehen können?

Böhmer: Nichts tun, das Thema ignorieren. Das wäre ein Zeichen für eine Schule, die Fächer unterrichtet, aber keine Schülerinnen und Schüler. Es ist wie bei allen Krisen: Hinschauen ist wichtig. Auch wenn das natürlich schwierig ist und man manchmal möglicherweise gerne nichts damit zu tun hätte. Vielleicht auch nur aus der Angst heraus, etwas falsch zu machen. Trauer sollte nicht tabuisiert werden, sondern an den Bedürfnissen der Trauernden orientiert ausgedrückt werden. Ich kann das Geschehene gemeinsam tragen. Jemanden umarmen. Ein Taschentuch geben. Da sein und zuhören.

Redaktion: Herr Doktor Böhmer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Matthias Böhmer ist Psychologischer Psychotherapeut, Hochschuldozent und Leiter des Zertifikats Schulpsychologie an der Universität Luxemburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Schulpsychologie sowie der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie.