„Eine Trendumkehr ist mühsam, aber möglich“

Drei Fragen an: Ties Rabe, Senator für Schule und Berufsbildung Hamburg zur bundesweiten Fachtagung IQB-Bildungstrend.

Redaktion: Wie bewerten Sie den aktuellen IQB-Bildungstrend und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Ties Rabe: Der IQB-Bildungstrend ist ein Warnsignal. Er zeigt, dass die Leistungen der Viertklässlerinnen und Viertklässler im Vergleich zur ersten Untersuchung 2011 schwächer geworden sind. Einerseits haben monatelange Schulschließungen und Unterrichtsunterbrechungen in der Corona-Zeit in allen Ländern tiefe Spuren hinterlassen. 

„Wir haben offensichtlich noch nicht die richtigen Antworten auf die wachsende Zahl von Schülerinnen und Schüler gefunden, die zu Hause weniger Rückenwind bekommen und einen weiteren Weg zum Bildungserfolg haben.“

Ties Rabe

Es war deshalb richtig, dass sich die Kultusministerkonferenz gegen erhebliche Widerstände immer wieder für offene Schulen eingesetzt hat. Andererseits hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Schülerschaft verändert. Im Schnitt stieg der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund von gut einem Drittel auf knapp 40 Prozent, in Bremen und Hamburg sogar auf mehr als die Hälfte. Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte haben öfter sprachliche Schwierigkeiten und häufiger geringere Lernerfolge. Wir haben also offensichtlich noch nicht die richtigen Antworten auf die wachsende Zahl von Schülerinnen und Schüler gefunden, die zu Hause weniger Rückenwind bekommen und einen weiteren Weg zum Bildungserfolg haben. Deshalb brauchen wir jetzt dringend eine Diskussion über eine wirksamere Pädagogik, die größere Bildungserfolge bei den Kernkompetenzen erzielt. Der IQB-Bildungstrend gibt meines Erachtens erste Hinweise, dass eine Trendumkehr mühsam, aber möglich ist. Auch bei uns in Hamburg sind die Kompetenzen leider etwas zurückgegangen, aber deutlich weniger als im Bundesdurchschnitt. Hamburgs Schülerinnen und Schüler konnten sich deshalb im Bundesvergleich über alle Kompetenzbereiche in den letzten zehn Jahren deutlich von Platz 14 auf Platz 6 verbessern. Statt auf Entlastung und Erleichterung setzen wir in Hamburg auf mehr und intensiveren Unterricht, eine stärkere Fokussierung auf Kernkompetenzen, klare und hohe Leistungsanforderungen, Schulinspektionen und Lernstandsvergleiche, mehr Übungsphasen und die gezielte Förderung schwächerer Schülerinnen und Schüler. Nicht alle diese Veränderungen fanden anfangs durchgängigen Beifall, und wir erheben nicht den Anspruch, alles richtig gemacht zu haben. Dafür kennen wir noch nicht genau genug alle Zusammenhänge erfolgreichen Lernens. Aber der Erfolg ist sehr deutlich erkennbar, und ich bin den Hamburger Lehrerinnen und Lehrern für ihr großes Engagement außerordentlich dankbar.

Redaktion: Nachdem im Juli diesen Jahres erste Ergebnisse zum aktuellen IQB-Bildungstrend veröffentlicht wurden, haben Sie sich dafür ausgesprochen, dass der Bund ein dauerhaftes Programm entwickelt und umsetzt, um der offensichtlich zunehmenden Chancenungleichheit in unserem Bildungssystem entgegenzuwirken. Welche Erwartungen haben Sie dabei an die Bildungsforschung, was kann und muss sie dazu beitragen?

Rabe: Wir müssen in der Kultusministerkonferenz Pläne entwickeln, wie wir bundesweit denjenigen gezielte Unterstützung zusichern, die weniger Chancen auf Bildungserfolge haben, als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Wir brauchen jetzt dringend ein Programm, dass durch Fördermaßnahmen die Kinder erreicht, die aufgrund von klar definierten und evidenzbasierten Kriterien die Unterstützung benötigen. Hier sind wir auf die Forschung angewiesen, um die Kriterien zu benennen und die Wirkung der Fördermaßnahmen anzuzeigen.

„Es unterstreicht, wie wichtig es ist, dass wir in der Politik auf die Bildungsforschung angewiesen sind, um Maßnahmen und Instrumente erfolgreich einsetzen zu können.“

Ties Rabe

Wenn wir soziale Ungleichheit bekämpfen wollen, müssen wir dort investieren, wo die Hilfe auch gebraucht wird. In Hamburg erheben wir beispielsweise jährlich die Lernstände und ermitteln die soziale Zusammensetzung der einzelnen Schulgemeinschaften, um gezielt schwächere Schülerinnen und Schüler zu fördern. Beispiele für eine solche Förderung sind kostenlose und verpflichtende Nachhilfe, zusätzliche Lernferien, zusätzliche Sprachförderung und mehr Lehrkräfte, aber auch kostenlose Ganztagsangebote und Vorschulangebote. Wir fördern in Hamburg den Unterricht im Lesen, in Sprachbildung, in Rechtschreibung und in Mathematik zudem durch mehr Unterricht. Und wichtig ist es dabei auch, konsequent auf Leistung zu setzen, also zum Beispiel klare Qualitätsmaßstäbe zu setzen, anspruchsvollen Unterricht mit kognitiven Herausforderungen zu gestalten und den Wissensstand sowie die Kompetenzen auch durch schriftliche Überprüfungen zu dokumentieren und zentrale Abschlussprüfungen mit allen Ländern zu vereinbaren. Entscheidend für eine Verbesserung wird es aber auch sein, den Unterricht weiter zu entwickeln und erfolgreicher zu gestalten. Die Forschungsergebnisse aus dem BiSS-Programm setzen wir in Hamburg gerade beim Lesenlernen sehr erfolgreich um. Hier braucht es vergleichbare Impulse aus der Wissenschaft für weitere Lernbereiche. Zudem sollten wir kritisch hinterfragen, ob die – in vielen Kollegien praktizierten – offenen Unterrichtsformen mit selbstständigen, individualisierten Lernprozessen die richtige Antwort sind, auf eine zunehmende bildungsferne Schülerschaft, die es oft noch nicht gelernt hat, allein zu lernen. Ich freue mich sehr über das im Bundesvergleich gute Abschneiden der Hamburger Schülerinnen und Schüler. Das zeigt, dass die aufwendige Förderung wirkt und unterstreicht, wie wichtig es ist, dass wir in der Politik auf die Bildungsforschung angewiesen sind, um Maßnahmen und Instrumente erfolgreich einsetzen zu können.

Redaktion: Wie lautet Ihr Fazit zum IQB-Bildungstrend?

Rabe: Ich bin froh, dass die KMK mutig genug ist mit dem Ländervergleich auch Schwächen aufzuzeigen und somit Handlungsbedarfe zu benennen. Die aktuelle Erhebung zeigt deutlich, dass in allen Ländern Handlungsbedarf besteht, um einerseits die Lernlücken nach der Pandemie zu bewältigen und andererseits bessere Chancen für diejenigen zu schaffen, die aus Familien mit Migrationsgeschichte kommen oder weniger als 100 Bücher zu Hause haben, da sie sonst – das belegt der aktuelle IQB-Bildungstrend – die erforderlichen Kompetenzen nicht erreichen.

„Die Zuwanderung ist eine Aufgabe für uns alle, deswegen sollten wir auch auf bundesweite Programme setzen. Das geplante Startchancenprogramm könnte eine gute Antwort sein.“

Ties Rabe

Die Ergebnisse der Studie müssen jetzt sehr ernstgenommen werden. Die Länder müssen jetzt daran arbeiten, die Schwächen durch Fördermaßnahmen auszugleichen. Die Zuwanderung ist aber auch eine Aufgabe für uns alle, deswegen sollten wir auch auf bundesweite Programme setzen. Das geplante Startchancenprogramm könnte eine gute Antwort sein.

Redaktion: Herr Rabe, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.