Ukrainische Kinder in Deutschland: „Die Frage nach dem Schulbesuch wurde sehr schnell gestellt”

Wie kann Deutschland den aus der Ukraine fliehenden Kindern und Jugendlichen ein gutes Bildungsangebot machen? Das war das Thema des 2. Podium schulmanagement.

Die nächste große Herausforderung fürs deutsche Bildungssystem: Nach zwei Jahren Corona-Pandemie hat der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bis jetzt bereits rund 100.000 ukrainische Kinder an Deutschlands Schulen gebracht. Jetzt geht es darum, sie optimal zu unterstützen und gut in den Unterrichtsalltag zu integrieren. Welche Herausforderungen sind damit verbunden und wie kann das gelingen? Darüber wurde auf dem 2. Podium schulmanagement in Heilbronn diskutiert.

„Wie gehen wir mit der jetzigen Situation um? Wie bereiten wir uns auf das vor, was noch auf uns zukommen könnte?” Mit diesen Fragen begann Sandra Boser, Staatssekretärin im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, den einführenden Vortrag beim 2. Podium schulmanagement in Heilbronn. 

Boser warf dabei ein Schlaglicht auf die Situation in Baden-Württemberg, wo aktuell etwa 16.000 geflüchtete Kinder aus der Ukraine zur Schule gehen. Es zeige sich insgesamt eine ganz andere Situation als noch bei der Flüchtlingskrise 2015/2016, „weil viele Kinder mit einem sehr hohen Bildungsstand zu uns kommen” – zum Teil auch bereits mit guten Deutschkenntnissen, so Boser.

Welche Menschen kommen aus der Ukraine nach Deutschland?

Im Gegensatz zu 2015/2016 seien in den vergangenen Monaten vor allem junge Frauen mit jungen Kindern gekommen, berichtete Boser. Diese bräuchten aufgrund der Kriegserfahrungen oftmals eine „besondere psychologische Betreuung”. Es sei zudem extrem wichtig, die Kinder frühzeitig in die Schulen zu integrieren und ihnen dort die Möglichkeit zu bieten, „mit anderen Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein und damit ein Stück weit auch aus ihrer Trauma-Erfahrung hinauszukommen.”

Boser bedankte sich bei den Schulen, denen die zweijährige Pandemie noch „in den Knochen” stecke. „Es war für die Schulgemeinschaft überhaupt keine Frage, dass sie die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine aufnehmen.” Dennoch gebe es große Herausforderungen, insbesondere den Bedarf an zusätzlichen Lehrkräften: „Pädagogisches Personal ist extrem knapp”, machte Boser deutlich. Die Staatssekretärin sicherte zu, dass das Land hier alle Mittel in Bewegung setze und unter anderem „die Verfahren für den Direkt- und Quereinstieg nochmals verbessern” wolle.

Baden-Württemberg habe zudem ein Webportal eingerichtet (Link dazu unter diesem Artikel), über das sich externe Personen melden können, die an den Schulen als Vertretungskraft und bei der Beschulung Geflüchteter unterstützen wollten. Mehr als 400 Verträge habe man inzwischen mit Personen, die sich über das Portal gemeldet hätten, abgeschlossen – unter anderem mit pensionierten Lehrkräften und Lehrkräften aus der Ukraine.

Was empfiehlt die Wissenschaft im Bezug auf die Situation an den Schulen?

Die Unterstützung der nun in Deutschland angekommenen Familien aus der Ukraine sei eine „Daueraufgabe”, der man sich stellen müsse, wenn man das Bildungssystem zukunftssicher machen wollte, argumentierte Professor Ulrich Trautwein, geschäftsführender Direktor des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen, in seinem Vortrag. „Migration und unerwartete neue Krisen werden wir immer wieder haben.”

Trautwein gab in seinem Vortrag einen Überblick über die Empfehlung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz zur Unterstützung geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus der Ukraine – stellvertretend für Professorin Felicitas Thiel, Ko-Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, die den Besuch der Veranstaltung krankheitsbedingt absagen musste.

„Migration und unerwartete neue Krisen werden wir immer wieder haben.“

Prof. Dr. Ulrich Trautwein

Im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine ginge es zunächst darum, den „psychischen Ausnahmezustand” zu berücksichtigen, in dem viele nach Deutschland kommen würden. Entsprechende Unterstützung sei notwendig. Darüber hinaus müsse man eine rasche Integration der geflüchteten Kinder und Jugendlichen in Kita und Schule anstreben, mit dem Ziel, den Erwerb der Bildungssprache Deutsch und die baldige Integration in den Fachunterricht zu ermöglichen. Aber auch ergänzende Angebote in ukrainischer Sprache seien gut und sinnvoll. Hierfür sei unter anderem auch die Qualifizierung von ukrainischen Fachkräften ein wichtiger Baustein.

Nicht nur die Angebote innerhalb der Schulen seien elementar für die ankommenden Schülerinnen und Schüler, sondern auch die „Förderung neuer Freundschaftsnetzwerke”, führte Trautwein aus – etwa durch außerschulische Bildungs-, Freizeit- und Sportangebote. Abschließend machte sich Trautwein nochmals für die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der derzeitigen Situation stark, auch wenn nicht alle bisherigen Befunde zu Flüchtlingssituationen generalisierbar seien.

Welche Erfahrung machen die Verantwortlichen vor Ort?

Bei der Podiumsdiskussion wurde dann rasch klar, dass im deutschen Bildungssystem bereits große Anstrengungen unternommen werden, um der neuen Situation mit den Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine gerecht zu werden. So berichtete Agnes Christner – als Bürgermeisterin der Stadt Heilbronn unter anderem für Bildung, Kultur, Sport und 57 Schulen mit rund 30.000 Schülerinnen und Schülern zuständig – von etwa 1050 Personen aus der Ukraine, die inzwischen in Heilbronn lebten.

„Als die ersten Menschen bei uns ankamen, haben wir festgestellt, dass die Frage nach dem Schulbesuch sehr schnell gestellt wurde.” Die Stadt habe zügig mit einem Antrag auf der Webseite der Stadt reagiert, auf Ukrainisch übersetzt, über den die geflohenen Eltern mitteilen konnten, für welche Schulart ihr Kind einen Platz benötigte. Inzwischen gingen 180 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine auf Heilbronns Schulen. Staatliche und private Schulen hätten dabei große Hilfs- und Aufnahmebereitschaft gezeigt. „Wir stellen aber auch fest: Die Kräfte sind endlich”, sagte die Bürgermeisterin. Eine Entlastung der Schulen müsse folgen. 

Christner warb dafür, den Schulen Freiräume in der derzeitigen Situation zu geben. „Unsere Schulen wissen sehr genau, wie sie’s machen könnten, wenn sie denn dürften.” Im Moment sei es im ersten Schritt erst einmal darum gegangen, alle Schülerinnen und Schüler aufzunehmen, wobei man sich zunächst an den Wünschen der Eltern orientiert habe. Im nächsten Schritt müsse es aber darum gehen, Kinder und Jugendliche gemäß ihren Fähigkeiten den richtigen Schularten zuzuordnen. Hierfür habe man schon 2015 eine Clearing-Stelle eingerichtet, die per Testverfahren alle Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe entsprechend prüfe, nach den Pfingstferien solle dies auch mit den Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine passieren.

Wie kommen die geflüchteten Schülerinnen und Schüler an die Schulen?

Marco Haaf, Schulleiter am Albert-Schweitzer-Gymnasium Neckarsulm, schilderte anhand eigener Erfahrungen eindrucksvoll, wie unterschiedlich die ersten Begegnungen mit Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine verlaufen sind: „Der Krieg war eine Woche in Gang, da schrieb mir ein Achtklässler in einer E-Mail: ‘Wir haben im Familienrat beschlossen, wir nehmen Flüchtlinge auf, kann ich die mit in die Schule bringen?’” Eine Woche später seien die neuen ukrainischen Mitbewohner mit im Unterricht dabei gewesen und gingen dort bis heute zur Schule. Ein anderes Kind aus der Ukraine habe auf einmal im Büro gestanden, es sei ohne Eltern nach Deutschland gekommen und habe perfekt Deutsch gesprochen. „Der Junge legte mir eine Liste vor, wann er welche Prüfungen machen müsse”, erzählte Haaf. Eine weitere Schülerin sei aus Mariupol gekommen und habe „kein Wort Deutsch” gesprochen.

„Wenn da ein Kind steht und ihnen erzählt, was es erlebt hat, kann es keine rechtliche Frage sein, ob sie die wieder zur Tür rausschicken oder nicht.“

Marco Haaf

Insgesamt müsse man die Kinder erst einmal ankommen lassen, befand Haaf. Er und seine Kollegen müssten im Moment oft spontan handeln. „Wenn da ein Kind steht und ihnen erzählt, was es erlebt hat, kann es keine rechtliche Frage sein, ob sie die wieder zur Tür rausschicken oder nicht.” Staatssekretärin Boser bestätigt diesen Impuls des Schulleiters: „Wenn ein Kind vor der Tür einer Schule steht, dann hat es sofort das Recht auf den Schulbesuch und wir gewähren dieses Recht auch.” Anders sei die Situation in den Kindergärten und Kindertageseinrichtungen, wo aufgrund von Fachkräftemangel und Raumbedarf oftmals nicht unmittelbar jedes Kind aufgenommen werden könne. 

Eine gewisse Steuerung sei im Anschluss an die spontane Aufnahme wichtig, weil es nicht an jedem Ort Vorbereitungsklassen geben könne für jene Kinder, die noch kein Deutsch sprechen. Dafür fehle es an Fachkräften, die entsprechend unterrichten könnten. Um den Bedarf festzustellen und entsprechend die Ressourcen zu steuern sei Austausch und Zusammenarbeit zwischen Stadt, Schule und Schulamt enorm wichtig.

Was wünschen sich die Eltern aus der Ukraine?

Von ihren ersten Erfahrungen mit den Kindern aus der Ukraine berichtete auch Oksana Zahzouh, Realschullehrerin mit ukrainischen Wurzeln an der Gottlieb-Daimler-Realschule Ludwigsburg, wo die geflüchteten Kinder per täglicher Doppelstunde Deutsch-Intensivkurs auf ihren Bildungsweg in Deutschland vorbereitet würden. Zahzou betonte, wie wertvoll Angebote in ukrainischer Sprache seien, um die Traumafolgen zu verarbeiten. 

Die Realschullehrerin, die sich auch außerhalb der Schule für die angekommenen Ukrainerinnen und Ukrainer engagiert, berichtete zudem davon, dass die geflüchteten Eltern sehr dankbar und gerührt seien über die Hilfsbereitschaft, die ihnen in Deutschland und den Schulen begegne. Bildung spiele für die Menschen aus der Ukraine eine sehr wichtige Rolle. „Die einen kommen hier nur her für ein paar Wochen, andere haben die Hoffnung, dass ihre Kinder hier gute Abschlüsse und eine höhere Bildung anstreben können.” 

Es gebe zudem großes Potential im Bezug auf die ukrainischen Lehrerinnen und Lehrer, die nun in Deutschland lebten, bei der Beschulung der ukrainischen Kinder und Jugendlichen zu unterstützen, führte Zahzouh aus. Viele hätten als Germanisten sehr gute Deutschkenntnisse und könnten in den Vorbereitungsklassen sehr gut Brücken bauen für ukrainische Schüler mit wenigen oder keinen Deutschkenntnissen. Ukrainische Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler kämen beide mit Kriegserfahrungen nach Deutschland, hier gebe es Chance der „gegenseitigen Hilfe”, so Zahzouh.

Wie begegnet man dem Fachkräftemangel?

Abschließend kam das Podium nochmals auf den Fachkräftemangel zu sprechen, der sich an einigen Schularten mehr zeigt als an anderen, wie Staatssekretärin Boser betonte. „Der Lehrermangel an Grundschulen und an den sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren ist insofern besonders gravierend, weil er sich durch alle Regionen zieht.” Die Verteilung zu regeln ohne zusätzliche Belastungen zu erzeugen, werde schwierig. Man brauche zusätzliches Personal, langfristige und kurzfristige Maßnahmen würden auf den Weg gebracht. „Am Ende zählt für uns jede Stunde”, sagte Boser, deswegen gehe man auch aktiv auf Lehrkräfte zu, die derzeit in Teilzeit arbeiteten. 

Bürgermeisterin Christner wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Ressourcenverteilung sich insgesamt mehr nach den Schülerinnen und Schülern richten müsse, die tatsächlich vor Ort unterrichtet werden. „Den Bedürfnissen einer Innenstadtschule mit hohem Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte muss man besser Rechnung tragen als Schulen, an denen sich das anders darstellt.”