Unfaire Lehrkräfte fördern populistisches Denken bei Jugendlichen
Dr. Sebastian Jungkunz spricht darüber, warum Lehrkräfteverhalten Schülerinnen und Schüler entscheidend prägen kann

Wer immer wieder von Lehrkräften vor der ganzen Klasse unfair behandelt wird, trägt eventuell mehr davon, als nur schlechte Erinnerungen und Gefühle. Eine Studie, die Dr. Sebastian Jungkunz von der Universität Bonn zusammen mit einer Kollegin durchgeführt hat, legt nahe, dass diese Erfahrungen sich auf die Entwicklung von populistischen Einstellungen bei Jugendlichen auswirken. Wieso das so ist und wie man dem vorbeugen kann, erklärt der Wissenschaftler im Interview.
Redaktion: Herr Dr. Jungkunz, Sie haben mit einer Kollegin zum Entstehen von „populistischen Einstellungen” von Jugendlichen geforscht. Was genau meinen Sie mit diesem Begriff?
Dr. Sebastian Jungkunz: Populistische Einstellungen sind ein Konstrukt der Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, basierend auf drei Elementen: auf der einen Seite empfindet man das eigene Volk als homogen und inhärent „gut“. Demgegenüber steht eine böse, korrupte Elite, die gegen das Gemeinwohl handelt. Diese Wahrnehmung erfolgt auf Basis eines Schwarz-Weiß-Denkens, in der Fachliteratur nennt sich das Manichäismus. Populismus ist dabei nicht bloße Elitenkritik, welche zwingend notwendig ist in einer pluralistischen Demokratie. Populismus basiert auf einer sehr stark vereinfachten Wahrnehmung und einer klar eingeteilten Welt in Gut und Böse. Populistische Einstellungen sind dabei nicht dichotom, man ist nicht populistisch oder nicht-populistisch. Vielmehr kann man populistische Einstellungen als Kontinuum betrachten, wonach Menschen oder Politiker mehr oder weniger populistisch sind. In der neueren Forschung wird der Begriff „Populismus” meist im Kontext eines entsprechenden Kommunikationsstils genutzt. Populismus als solcher ist dabei ideologiefremd. Das heißt, er tritt nicht nur bei den Rechten auf, sondern zum Beispiel auch bei den Linken, den Grünen und anderen gemäßigteren Parteien.
Redaktion: Was führt dazu, dass Menschen populistische Einstellungen entwickeln?
Jungkunz: Man geht grundsätzlich von mehreren Faktoren aus, die populistische Einstellungen begünstigen: Der erste ist Statusverlust und Deprivation, also ein Zusammenspiel von materieller Armut, sozialer Isolation oder psychischen Belastungen. Das zweite sind Emotionen, Gefühle wie Angst, Wut und Unsicherheit, die dazu beitragen, dass Menschen sich von etablierten politischen Strukturen abwenden. Der dritte Faktor ist Repräsentationsverlust: das Gefühl, dass die eigenen Interessen und Meinungen von den bestehenden politischen Institutionen und Repräsentanten nicht mehr angemessen vertreten werden. Wir gehen davon aus, dass die ersten beiden Punkte bei Erwachsenen und Jugendlichen ähnlich wirken, und konzentrierten uns deswegen auf den dritten Aspekt. Allerdings trifft der Faktor der politischen Interessenvertretung meist erst bei Erwachsenen zu, weil man erst ab dem Wahlalter mit dem politischen Prozess in Interaktion tritt. Wir gingen deswegen einen Schritt zurück und untersuchten, inwiefern sich negative Repräsentationserfahrungen mit Sozialisationsagenten auf populistische Einstellungen auswirken.
Redaktion: Diese Sozialisationsagenten beeinflussen die Schülerinnen und Schüler potentiell in ihrer politischen Meinungsbildung und speziell in Bezug auf populistische Einstellungen. Wer spielt hier eine Rolle?
Jungkunz: Wir haben uns unter anderem mit den Eltern beschäftigt, weil sie im Lebensverlauf diejenigen sind, die uns als erstes an Politik heranführen, ob sie wollen oder nicht. Das passiert auch oftmals unterschwellig, etwa über Dinge, die am Küchentisch gesagt werden, oder wenn man zum Beispiel mitbekommt, dass der Vater Gewerkschafter ist oder in andere Organisationen involviert ist. Das zweite sind die Peer Groups: Jugendliche bewegen sich überall mit Freunden, die einen in der Entwicklung der eigenen Meinung beeinflussen. Der dritte Aspekt ist die Schule, also vor allem Lehrkräfte. Unser Ausgangspunkt war, unvoreingenommen zu testen, inwiefern diese drei Sozialisationsagenten – Eltern, Freunde, Lehrkräfte – Einfluss haben können auf die Tatsache, ob jemand populistische Einstellungen entwickelt.
Redaktion: Und welchen Einfluss konnten Sie feststellen?
Jungkunz: Es hat sich gezeigt, dass von diesen drei Faktoren im Endeffekt nur die Lehrkräfte relevant sind. Ausschlaggebend für ihren Einfluss auf die Entwicklung populistischer Einstellungen war hierbei, dass Schülerinnen und Schüler sich ungerecht von Lehrkräften behandelt gefühlt haben oder allgemein unfaire Behandlungen durch die Lehrkräfte wahrgenommen haben.
Redaktion: Ist damit die Notengebung gemeint?
Jungkunz: Nein. Schlechte Noten und Leistungsbewertungen spielen dabei eine sehr untergeordnete Rolle. Es geht dabei eher um ein wahrgenommenes “Herumhacken” auf einer Person, auf ein Bloßstellen oder Schikanieren vor der Gruppe, auf spürbare Ungleichbehandlung im Klassenzimmer. Das hatte einen messbaren Einfluss auf die Entwicklungen populistischer Einstellungen.
Redaktion: Warum glauben Sie, dass Lehrkräfte hier so viel mehr Einfluss haben als etwa Eltern?
Jungkunz: Das hat meines Erachtens etwas mit dem Hierarchieverständnis und der Erwartung an Autoritätspersonen zu tun, die Jugendliche in Lehrkräften sehen. Wenn diese enttäuscht werden, wenn man in der Schule, einer staatlichen Institution, nicht die Anerkennung und Behandlung erfährt, die man erwartet, dann kann das starke negative Gefühle und Belastungen nach sich ziehen, die sich am Ende auch in der Entwicklung populistischer Einstellungen zeigen. Wenn hingegen Eltern ihr Kind ungerecht behandeln oder einen sehr autoritären Erziehungsstil pflegen, dann führt das – wie andere Studien belegen – zwar auch zu einem gewissen Vertrauensverlust, der sich letztendlich auch auf politische Einstellungen auswirken kann. Das Beziehungsgeflecht zwischen Eltern und Kindern ist jedoch vielschichtiger. Eltern haben im Gegensatz zu den Lehrkräften mehrere Rollen, sie sind etwa auch dafür zuständig, uns emotional zu trösten, uns aufzufangen in schlechten Zeiten. Insofern führt ein bestimmter Erziehungsstil nicht unbedingt zu populistischen Einstellungen von Kindern und Jugendlichen, wie etwa eine fortgesetzt unfaire Behandlung durch Lehrkräfte.
„Ungerechtfertigtes, unfaires Handeln einer Lehrkraft wiegt stärker, weil es eine sehr spezifische Enttäuschung hervorruft und dem Vertrauen in eine gesellschaftliche Institution schadet.“
Dr. Sebastian Jungkunz
Redaktion: Und Peer Groups, Bekanntschaften und Freundschaften haben da auch keinen entscheidenden Einfluss?
Jungkunz: Was ich gerade über Eltern ausgeführt habe, lässt sich ähnlich auch über die Peer Groups sagen. Freunde und gleichaltrige Bekanntschaften sind vielleicht mal ungerecht, aber die Beziehungen zu Gleichaltrigen verändern sich, man versöhnt sich oder entwickelt sich auseinander. Die Rollenbeziehungen sind ambivalent und vielschichtig. Lehrkräfte hingegen trifft man nur in der Schule, wo sie eine bestimmte Rolle erfüllen, in gewisser Weise als Repräsentanten des Staates auftreten. Ungerechtfertigtes, unfaires Handeln einer Lehrkraft wiegt daher stärker, weil es eine sehr spezifische Enttäuschung hervorruft und dem Vertrauen in eine gesellschaftliche Institution schadet.
Redaktion: Welche Rolle spielen andere Faktoren in der Entwicklung von populistischen Einstellungen? Etwa Social Media?
Jungkunz: Soziale Medien waren nicht Teil unserer Studie, aber wir wissen aus dem letzten Wahlkampf, dass die AfD stark auf TikTok und anderen sozialen Medien vertreten war und das konkret Jugendliche auch anspricht. Die Frage der Kausalität bleibt allerdings offen: Wird man also populistischer, weil man diesen Content über Social Media anschaut, oder ist man schon populistisch und schaut ihn deswegen an? Das kann man ohne fundierte Studie schwierig feststellen. Was wir als weitere Einflussfaktoren in unserer Studie gefunden haben: Frauen zeigten insgesamt weniger starke populistische Einstellungen als Männer. Dieses Phänomen zeigt sich auch bei Erwachsenen. Ebenso wie die Tatsache, dass Jugendliche mit hoher Bildung weniger populistisch sind. Wir konnten auch in den Daten sehen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund populistischer waren. Und – auch interessant: Je älter die Jugendlichen werden, desto stärker wird der Einfluss der unfairen Behandlung durch die Lehrkräfte, und umso deutlicher wirkt sich das auf populistische Einstellungen aus. Möglicherweise, weil hier etwa der Einfluss der Eltern, die eine solche institutionelle Enttäuschung ein Stück auffangen können, nicht mehr so stark gegeben ist.
„In gewisser Weise ist Partizipation ein Gegengift für die Entwicklung populistischer Tendenzen.“
Dr. Sebastian Jungkunz
Redaktion: Was kann die Schulpraxis aus Ihrer Studie lernen? Wo können Lehrkräfte und Schulleitungen ansetzen, um die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung zu verringern und solchen populistischen Tendenzen keinen Nährboden zu geben?
Jungkunz: Natürlich wäre es wünschenswert, wenn Lehrkräfte sich ihres eigenen Handelns immer so gut bewusst wären, dass es keine Ungleichbehandlung gäbe. Aber da wir alle nur Menschen sind, ist das ein Stück weit unrealistisch. Unsere Studie zu populistischen Einstellungen ist Teil eines größeren Projekts in der Bodensee-Region, in der es um Bildung und Partizipation geht. Hierbei wurde im Wesentlichen untersucht, welchen Einfluss Partizipation, also Beteiligung im schulischen Kontext, auf die Entwicklung von Jugendlichen hat. Und da zeigte sich: Die untersuchten Beteiligungskonzepte im Unterricht, aber auch extracurricular wie ein Klassenrat oder ein gemeinsames Klassen- oder Schulprojekt, haben einen deutlich positiven Effekt auf vielen Ebenen: auf Selbstverwirklichung, politisches Interesse, Sensibilisierung für andere Perspektiven. In gewisser Weise ist Partizipation also ein Gegengift für die Entwicklung populistischer Tendenzen.
Redaktion: Können Sie da ein Beispiel nennen?
Jungkunz: Ich habe eine Schule besucht, in der wurde das Projekt Schule als Staat (Link dazu unter diesem Interview, Anm. d. Red.) durchgeführt – in den letzten beiden Wochen vor den Sommerferien. Da gab es keinen Unterricht mehr, jede Klasse hat stattdessen einen Staat gespielt, der Geld ausgibt, Dinge produziert, handelt und mit anderen Ländern interagiert. Die Schülerschaft hat also eine Mini-Uno simuliert, in der miteinander diskutiert und verhandelt und um Entscheidungen gerungen wurde. Ein ehemaliger Schüler, mit dem ich im Rahmen des Projekts Kontakt hatte, sagte mir: Retrospektiv sei das die nachhaltigste und bedeutendste Erfahrung in seiner Schulzeit gewesen. Solche und ähnliche Projekte, in denen Kinder aktiv Dinge erarbeiten, Eigenverantwortlichkeit spüren und dann direkt die Früchte ihrer Arbeit sehen, sind sehr sinnvoll, um gesunde politische Entwicklungen anzustoßen. Sie müssen allerdings auch gut geführt und angeleitet werden.
Redaktion: Herr Doktor Jungkunz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Sebastian Jungkunz ist Post-Doctoral Researcher am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit den Einflussfaktoren auf die politische Sozialisation Jugendlicher und den Ursachen und der Verbreitung radikaler, extremistischer und fundamentalistischer Einstellungen.