Verfehlte Mindeststandards an Grundschulen – hierzu raten jetzt Bildungsforscher
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission erläutert in ihrem neuen Gutachten Lösungsansätze, um die Vermittlung basaler Kompetenzen an den Grundschulen zu verbessern.
Das deutsche Bildungssystem gibt Anlass zur Sorge. Vielen Grundschülerinnen und Grundschülern fehlt es an den grundlegenden Kompetenzen in Mathe und Deutsch, ein Großteil zeigt zudem auf sozial-emotionaler Ebene Auffälligkeiten. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission hat sich mit den Problemen befasst und macht in einem neuen Gutachten Vorschläge, wie die Defizite abgebaut werden können.
Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends verdeutlichen eine dramatische Entwicklung in den Grundschulen. Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler erreicht in grundlegenden Kompetenzen nicht die Mindeststandards: 19 Prozent der Kinder können nur mangelhaft lesen, gut jedes fünfte Kind hat erhebliche Schwierigkeiten in Orthographie und Mathematik. Und nicht nur die fachlichen Kompetenzen sind mangelhaft, auch die sozial-emotionale Entwicklung ist bei vielen Schülerinnen und Schülern beeinträchtigt. Der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland sieht gut 23 Prozent der Sieben- bis Zehnjährigen als psychisch auffällige Risikogruppe.
„Diese alarmierenden Befunde müssen als Weckruf verstanden werden”, schreibt die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) entsprechend in ihrem aktuellen Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule”. Schließlich legten die „in der Grundschule erworbenen sprachlichen und mathematischen sowie sozial-emotionalen Kompetenzen den Grundstein für erfolgreiches Weiterlernen.” Doch nicht nur die Grundschule, auch „frühkindliche Bildungsprozesse” nimmt die SWK mit dem Gutachten ins Visier.
Mehr Diagnose, gezieltere Förderung, besserer Unterricht
Bereits im Kita-Alter fehle es den Kindern in Deutschland an gezielter und verbindlicher Förderung grundlegender Kompetenzen und einer damit einhergehenden Diagnostik, „die eine Voraussetzung für eine gezielte Förderung darstellt”, analysiert die SWK. Entsprechend sehen die wissenschaftlichen Gutachter die Notwendigkeit, bereits in der frühkindlichen Bildung in die Aus- und Fortbildung der pädagogischen Fachkräfte zu investieren, speziell in evidenzbasierte Ansätze, die dabei helfen, den Kindern sprachliche, mathematische und sozial-emotionale Kompetenzen beizubringen. Die SWK hat hierbei auch im Blick, dass dazu mehr Ressourcen gehören – und fordert unter anderem eine Erhöhung der Fachberatungsstellen bei den Trägern sowie eine Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels. Für eine „verbindliche Förderung bei identifiziertem Bedarf” müssten den Einrichtungen Diagnoseinstrumente und wirkungsgeprüfte Fördermaterialien „über eine digitale Plattform” zur Verfügung gestellt werden.
Das Thema „systematische Diagnose und Förderung” zieht sich wie ein roter Faden durch das Gutachten der SWK – ebenso wie die Erkenntnis, dass beides sowohl in Kitas wie auch an Schulen in vielen Bereichen fehle. Daher wird auch für den Unterricht etwa „die Nutzung standardisierter Diagnoseverfahren mit mehreren Erhebungszeitpunkten pro Schuljahr” gefordert. Die Bildungsforscher nennen zudem einen konkreten Zeitrahmen, der für den Erwerb der Kompetenzen vorgesehen werden sollte: „mindestens 24 Wochenstunden für das Fach Deutsch und mindestens 20 Stunden für das Fach Mathematik … (bezogen auf vier Schuljahre).” Dazu: Lern- und Förderangebote für jene Kinder, bei denen Lernrückstände diagnostiziert werden.
Auch insgesamt müssen man Unterricht neu denken, weiterentwickeln und dessen Qualität verbessern, mahnt die SWK – etwa durch die „systematische Nutzung von VERA-Daten” und die „Qualitätssicherung der analogen und digitalen Lehr-Lernmaterialien, die durch eine unabhängige Einrichtung in ihrer Qualität bewertet werden”.
Wie kommen die Mindeststandards in den Schulen an?
Eine der großen Fragen des deutschen Bildungssystems ist: Wie kommen die festgelegten Mindeststandards eigentlich in der Praxis an? Die SWK räumt in ihrem Gutachten ein, dass die festgelegten Kompetenzniveaus in den Schulen vor Ort so gut wie keine Rolle spielten: „Es ist davon auszugehen, dass Lehrkräfte die Mindeststandards kaum als Orientierung für die Gestaltung von Unterricht und Fördermaßnahmen nutzen, was vom System bislang auch nicht explizit vorgesehen ist.”
Wie ist dies zu ändern? Auch hier sind die Stichworte, welche die SWK als Antwort nennt: Diagnostik, Monitoring, die regelmäßige Erfassung der Kompetenzen, die kontinuierliche Beobachtung der Lernentwicklung der Schüler:innen. Außerdem sei ein „gestuftes System der Rechenschaftslegung” notwendig, das sowohl Lehrkräfte, die Schulleitung wie auch die Schulaufsicht umfasse. Den Lehrkräften müssten „forschungsbasierte, qualitätsgeprüfte Diagnose- und Förderinstrumente” an die Hand gegeben werden. Dazu gehörten etwa auch kostenpflichtige Instrumente von Verlagen sowie die „Bereitstellung von Tests, die mit öffentlichen Fördermitteln entwickelt werden”, schreibt die SWK.
Systematische Hilfe bei der sozial-emotionalen Entwicklung
Auch im Bereich sozial-emotionale Entwicklung sieht die SWK einen Systematisierungsbedarf. Es fehlten „in allen Ländern bislang klare Verfahren, die im Fall von Auffälligkeiten in der sozial-emotionalen Entwicklung und in akuten Krisensituationen von Schüler:innen verlässliche Unterstützung durch Schulpsychologie, Sonderpädagogische Zentren oder Jugendhilfe gewährleisten.” In jeder Grundschule müsste daher im Schulprogramm ein verbindliches Konzept zur Förderung sozialer Integration und sozial-emotionaler Kompetenzen verankert sein. Maßnahmen zur Selbstregulierung und Wohlbefinden würden gebraucht, ebenso die „gezielte Unterstützung positiver Peernetzwerke im Unterricht und im Ganztag”. Und auch hier wieder: die systematische Diagnose von „Auffälligkeiten in der sozial-emotionalen Entwicklung”. Und „verlässliche Angebote der Schulpsychologie bzw. sonderpädagogischer Zentren” um ihnen zu begegnen.
Verbesserte Kooperation – auf allen Ebenen
Ein weiteres Thema, das die SWK an mehreren Stellen in ihrem Gutachten unterstreicht, ist die Kooperation. Dass Grundschullehrkräfte mit Sonderpädagog:innen, Ganztagspersonal, Schulsozialarbeiter:innen und nicht zuletzt Eltern gut zusammenarbeiten, sei „eine wichtige Bedingung für eine erfolgreiche und koordinierte Förderung basaler Kompetenzen in der Grundschule”. Dafür bräuchte es auf Seite der Elternkooperation etwa „regelmäßige und anlassunabhängige Kontakte der Lehrkräfte mit den Eltern”, etwa über digitale Medien, aber auch „verpflichtende, halbjährliche Lern- und Entwicklungsgespräche”. Auf der Ebene der Zusammenarbeit mit „multiprofessionellem Personal” seien klare Zuständigkeiten und Ansprechpersonen im Kollegium ebenso wichtig wie „transparente Absprachen über die jeweiligen Aufgaben”. Dafür seien „im Stundenplan verankerte Zeitfenster” von mindestens einer Wochenstunde nötig, um die strukturellen Rahmenbedingungen für multiprofessionelle Kooperationen zu verbessern.
Besser ausgebildete Lehrkräfte, mehr Entlastung für Schulleitungen
Auch in der Lehrkräftebildung sehen die Wissenschaftler Handlungsbedarf. Im Kerncurriculum müssten etwa die Standards für die Primarstufe konkretisiert werden. Das gelte insbesondere in Bezug auf „fachdidaktisches und bildungswissenschaftliches Wissen über Lern- Verstehens- und Entwicklungsprozesse von Kindern im Grundschulalter” und deren mögliche Beeinträchtigungen. Wissensinhalte über Verfahren der Diagnose und der individuellen Förderung basaler Kompetenzen sowie die Tiefenstrukturen des Unterrichts gehörten ebenso stärker in den Fokus der Ausbildung. Darüberhinaus brauche es eine stärkere Wissensvermittlung bezüglich multiprofessioneller Kooperationen und einer effektiven Gesprächsführung in Beratungssituationen mit Eltern und Schüler:innen.
Hinsichtlich der Schulleitungen empfiehlt die SWK mehr Gestaltungsspielräume, sowie eine klare Teilung von Aufgaben zwischen Schulaufsicht, Schulleitung und Lehrkräftekollegium. Allerdings müssten diese Entscheidungsspielräume „ihre Entsprechung in einer Rechenschaftslegung gegenüber der Schulaufsicht finden”, schreiben die Bildungsexperten. Für Schulleitungen sei eine „angemessene Aufgabenbeschreibung” essentiell. Diese müsse einer datenbasierten Schulentwicklung und dem Ziel der Sicherung basaler Kompetenzen Rechnung tragen. Dafür müssten Schulleitungen mit Funktionsstellen oder der Gewährung von Anrechnungsstunden für Schulentwicklung unterstützt werden. Für eine professionelle Schulleitung brauche es zudem ausreichend Anrechnungsstunden. Bei einer zweizügigen Grundschule, mit acht Klassen, sei „die Schulleitung mindestens mit 16 Stunden” zu entlasten, so die SWK. Für größere Schulen müssten zudem Assistenzstellen eingerichtet werden.
Mehr Unterstützung für benachteiligte Schulen
Das Thema soziale Ungleichheit wird im neuen Gutachten der SWK ebenfalls berücksichtigt. Die Kommission stellt fest, dass „nachteilig segregierte Schulen häufig unter schlechteren räumlichen, personellen und materiellen Bedingungen als nicht-segregierte Schulen” arbeiten. Dieser Tatsache sollte mit einer „treffsicheren indikatorenbasierten Zuweisung von Ressourcen” begegnet werden. Hierbei sei darauf zu achten, dass Indizes genutzt würden, „die den Wohnort der Schüler:innen anstatt der geografischen Nachbarschaft der Schule berücksichtigen, um benachteiligte Schulen zuverlässiger identifizieren zu können.” Um dauerhaft qualifizierte Lehrkräfte für diese Schulen zu gewinnen, brauche es „finanzielle Zulagen aber auch nicht-monetäre Anreize (z.B. gesundheitsfördernde Maßnahmen)”.
Auch der Abbau der Segregation selbst solle laut SWK im Visier der Bildungspolitik stehen, etwa durch „Informationsstrategien", um „Verzerrungen in der Beurteilung der Schulqualität durch Eltern entgegenzuwirken”. Selbst Möglichkeiten des Zuschnitts von Einzugsbereichen der Grundschulen zur Verringerung sozialer Segregation und Maßnahmen zur Durchsetzung des Sonderungsverbots in Privatschulen erwägen die Bildungsforscher. Lezteres könnte etwa durch „die Festlegung von Quoten für Schulplätze für Kinder aus sozial benachteiligten Familien und eine Beitragsstaffelung“ erreicht werden.