Vertrauen Jugendliche der Demokratie?

Dr. Johanna Ziemes spricht über die schulische Sozialisation und politische Bildung deutscher 14-Jähriger im internationalen Vergleich

Corona-Pandemie, kriegerische Konflikte, Klimakatastrophen: Jugendliche erleben heute eine vielfach unsichere, sich rasant wandelnde Welt. Wie wirkt sich das auf ihr Vertrauen in Demokratie, Gesellschaft und staatliche Institutionen aus? Und welche Rolle spielen Schulen, wenn es darum geht, demokratisches Bewusstsein zu entwickeln und gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen? Das erörtert Dr. Johanna Ziemes, Mit-Autorin der Internationalen Studie zur politischen Bildung und Demokratieerziehung (ICCS) im Interview.

Redaktion: Frau Dr. Ziemes, Sie haben mit Ihren Kolleginnen und Kollegen im Rahmen der International Civic and Citizenship Education Study die Einstellungen und Überzeugungen von Jugendlichen in Deutschland untersucht. Wie genau lief die Studie ab?

Dr. Johanna Ziemes: An der ICCS haben insgesamt 24 Bildungssysteme weltweit teilgenommen, 21 davon in Europa. In Deutschland waren zwei Bundesländer dabei, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. In der Untersuchung haben Schülerinnen und Schüler der achten Klasse einen Test zu ihrem politischem Wissen und zu ihren argumentativen Fähigkeiten absolviert sowie eine breite Palette an Fragen zum Thema Einstellungen und Werte beantwortet. Dabei wurden auch Aspekte wie die Partizipationsbereitschaft abgefragt. In Nordrhein-Westfalen haben wir mehr als 3000 Jugendliche erreicht, in Schleswig-Holstein knapp 1400. So können wir relativ viel darüber sagen, wie gut diese Jugendlichen darauf vorbereitet sind, mündige, demokratiefähige Bürgerinnen und Bürger zu werden.

Redaktion: Und wie fällt das Urteil aus?

Ziemes: Im Wissenstest sehen wir, dass die Jugendlichen etwas besser abschneiden als der europäische Durchschnitt. In Deutschland zeigt sich dabei aber auch erneut die Abhängigkeit vom soziokulturellen Kapital der Eltern. Ob diese einen hohen Bildungsstandard oder viele Bücher zu Hause haben, beeinflusst immer noch stark, wie viel Wissen die Jugendlichen haben. Das deutsche Bildungssystem verstärkt soziale Ungleichheit immer noch. Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler sind ziemlich oder sehr interessiert an Politik, das ist deutlich mehr als im internationalen Schnitt. Dabei haben die Jugendlichen in Deutschland eher ein konventionelles Bürgerideal, das sich in Vorstellungen manifestiert wie: Als guter Bürger ist es wichtig, wählen zu gehen. Soziale Bewegungen sind ihnen auch wichtig, aber – trotz Initiativen wie Fridays for Future – weniger wichtig als ihren Altersgenossen in anderen Ländern.

Internationale Studie zur politischen Bildung und Demokratieerziehung

Die Internationale Studie zur politischen Bildung und Demokratieerziehung (ICCS) wurde im Jahr 2022 während der Corona-Pandemie und unmittelbar nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine durchgeführt. Sie zielt darauf ab, die Rolle von Schulen bei der Förderung von politischer Kompetenz und demokratischer Einstellung bei jungen Bürger:innen zu untersuchen. An der Studie nahmen 24 Bildungssysteme teil, darunter 21 aus Europa, sowie die deutschen Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Es wurden Einstellungen, Partizipationsabsichten und politisches Wissen von Schüler:innen erfasst. Die Ergebnisse der Studie wurden in zwei Teilen veröffentlicht, der zweite Teil im Frühjahr 2024.
Zur Studie

Redaktion: Das Thema Vertrauen spielt in der Studie eine große Rolle. Welchen Teilen der Gesellschaft und welchen Institutionen vertrauen beziehungsweise misstrauen die befragten Jugendlichen?

Ziemes: Wie sich in unserer Vorläuferstudie 2016 auch schon gezeigt hat, haben die Jugendlichen ein sehr hohes Vertrauen in politische Institutionen wie die Bundesregierung, den Bundestag, aber auch Gerichte und die Polizei. Mehr als 80 Prozent vertrauen auf die Bundeswehr, auch der Wissenschaft wird viel Vertrauen entgegengebracht. Sehr spannend war dieses Mal, dass das Vertrauen in Menschen allgemein in den beiden Bundesländern, in denen wir die Schülerinnen und Schüler befragt haben, jedoch unter 50 Prozent lag. Dieser Wert lag etwa in Nordrhein-Westfalen vor sechs Jahren noch zehn Prozent höher. Hier gab es also eine deutliche Reduktion. Dieses Vertrauen in die Mitmenschen wird allgemein als Teil des sozialen Klebstoffs einer Gesellschaft angesehen – diesen sehe ich eher bedroht.

Redaktion: Woher kommt dieser Rückgang des allgemeinen Vertrauens in Menschen?

Ziemes: Zwischen 2016 und 2022 lag die Pandemie, in der die Lernenden mehr auf sich zurückgeworfen wurden, mehr zu Hause waren. Das scheint dem Vertrauen in die politischen Institutionen weniger geschadet zu haben als dem Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt. Wir brauchen positive Erlebnisse mit anderen Menschen, damit wir Vertrauen in andere Menschen entwickeln können. Kinder und Jugendliche hatten mit der vielen Zeit zu Hause weniger die Möglichkeit, solche Erlebnisse des Zusammenhalts zu haben. Wir können zwar aus den Daten nicht genau sehen, dass diese Entwicklungen auf Corona zurückzuführen sind, aber einiges deutet darauf hin.

Redaktion: Gibt es auch Hinweise darauf, dass Jugendliche sich vermehrt den demokratiefeindlichen politischen Richtungen wie der extremen Rechten öffnen?

Ziemes: Es wurde in der Studie nicht explizit nach extremen politischen Richtungen gefragt, aber wir wissen aus der Studie, dass eine überwältigende Mehrheit der Jugendlichen von mehr als 80 Prozent die Demokratie als die beste Regierungsform ansieht und diese unterstützt. Es gab in der Untersuchung zudem Fragen dazu, welche Rechte Einwandernde haben sollen. Auch hier sagt eine große Mehrheit, dass diese etwa ein Recht auf Bildung und Arbeitsplätze haben sollten.

Redaktion: Wie gut sehen sich Jugendliche gegenwärtig durch die Politik vertreten?

Ziemes: Unsere Daten zeigen, dass Schülerinnen und Schüler allgemein glauben, dass Abgeordnete ihren Job im Grunde ganz gut machen, das sagen etwa 70 Prozent. Allerdings glauben deutlich weniger von ihnen, dass Abgeordnete die Interessen von jungen Menschen gut vertreten können. An dieser Stelle sehe ich eine Frustration mit dem politischen System, gerade im Hinblick auf die Belange junger Menschen. Das sehen wir auch in anderen Studien. In der Corona-Pandemie haben sich die jungen Menschen mit ihren Belangen nicht ernst genommen gefühlt, auch wenn sie die politischen Maßnahmen in der Krise unterstützt haben. Beim Thema Umweltschutz und Nachhaltigkeit sehen sie nicht den Effekt, den sie sich auf die Politik wünschen, obwohl sie seit langem auf die Straße gehen – besonders im Kontrast zu anderen politischen Gruppierungen, wenn diese öffentlich für ihre Interessen protestieren.

„Die Schulen haben die Aufgabe, politisches Wissen zur Verfügung zu stellen und bei allen Schüler:innen ein grundlegendes Wissen aufzubauen.“

Dr. Johanna Ziemes

Redaktion: Welche Rolle haben Schulen Ihrer Einschätzung nach heute im Demokratisierungsprozess?

Ziemes: Die Schulen haben die Aufgabe, politisches Wissen zur Verfügung zu stellen und bei allen Schülerinnen und Schülern ein grundlegendes Wissen aufzubauen. Dies wird als Querschnittsaufgabe über viele Fächer hinweg verstanden. Lernende in Demokratien sollen verstehen, dass es etwas Gutes ist, wenn verschiedene Perspektiven in eine Entscheidungsfindung einfließen. Verschiedene Blickwinkel sind also kein Problem der Demokratie, sondern ihr Feature schlechthin. Gleichzeitig glauben viele Lehrkräfte, dass sie sich im Unterricht neutral verhalten müssen, viele scheuen davor zurück, im Klassenraum politische Diskussionen anzugehen. Ich denke, hier haben viele Lehrkräfte einen deutlich größeren Spielraum, als sie annehmen. Lehrkräfte haben nicht nur ein Recht auf ihre eigene Meinung, sondern sogar die Pflicht, bei verfassungsfeindlichen Einstellungen und Äußerungen Stellung zu beziehen und für das Grundgesetz einzutreten.

Redaktion: Ist dies nicht immer der Fall?

Ziemes: Unsere Studie zeigt, dass es eine Gruppe von Lehrkräften gibt, die hier eine zumindest fragwürdige Haltung vertritt: Etwa 20 Prozent haben gesagt, dass auch extremistische Positionen außerhalb des Grundgesetzes gleichberechtigt behandelt werden sollten. Dabei haben Lehrkräfte ausdrücklich die Aufgabe, grundgesetzwidrige und demokratiegefährdende Entwicklungen zu erkennen und auch im Klassenzimmer als solche zu benennen. Auch über die Zurückweisung von extremen Positionen hinaus haben Lehrkräfte Spielraum, sich politisch zu äußern, solange sie klarmachen, dass dies ihre eigenen Positionen sind. Dabei sollte es natürlich nicht um Meinungsmache gehen, sondern darum, die Lernenden zu befähigen, ihre eigenen Positionen kritisch zu reflektieren, auszubilden und weiterzuentwickeln.

Redaktion: Was brauchen Lehrkräfte heute, um Kinder und Jugendliche gut auf ihre Rolle als Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie vorzubereiten?

Ziemes: Zunächst wäre es gut, wenn alle Lehrkräfte Gelegenheit hätten, in ihren Aus- und Weiterbildungen mehr über politische Bildung erfahren zu können. Allen Lehrkräften muss klar sein, dass die politische Bildung zu ihren Aufgaben gehört. Dafür brauchen Lehrkräfte die Sicherheit und das Zutrauen, dass sie bestimmte Diskussionen führen können und dürfen. Hier hilft sicher auch die Rückendeckung von Ministerien und Schulleitungen. Es kann sich im ersten Moment herausfordernd anfühlen, mit den Schülerinnen und Schülern über brisante politische Inhalte zu sprechen und sie dazu anzuregen, unterschiedliche Positionen anzuschauen und auf die Probe zu stellen. Um das zu leisten, brauchen sie selbst ein gutes Verständnis von Demokratie und den Willen, sich aktiv für diese Staatsform einzusetzen und für unsere demokratische Gesellschaft zu werben.

Redaktion: Stellt das nicht zu hohe Anforderungen an Lehrkräfte? Muss sich praktisch jede Fachkraft mit so komplizierten Konflikten wie dem Gazakrieg auskennen, um genug Sicherheit und Kompetenz auszustrahlen?

Ziemes: Lehrkräfte können sich natürlich nicht mit jedem politischen Konflikt gut auskennen. Deswegen ist in gewissem Maße auch die Fähigkeit, Gespräche zu moderieren, wichtiger als sich bei jedem Thema in der Tiefe als Experte auszuweisen. Für Lehrkräfte ist es wichtiger zu wissen, wo ich in der jeweiligen Situation eine Grenze ziehe und sage: Hier diskutieren wir nicht weiter, hier werden die Gemüter zu sehr erhitzt oder hier wird es diskriminierend. Zu erkennen, wo zum Beispiel der Unterschied ist zwischen Kritik an Israel, die auf jeden Fall erlaubt ist, und Antisemitismus, den man unterbinden muss. Und da gibt es klare Grenzen.

Redaktion: Wie können Schulen konkret aktiv werden, um politische Meinungsbildung und Demokratisierung zu fördern?

Ziemes: Das beginnt mit Partizipationsmöglichkeiten und dem sozialen Klima in der Schule. Letzteres wird vielleicht im ersten Moment nicht mit Politik in Verbindung gebracht, aber genau dieses kann das soziale Vertrauen und die Kooperation untereinander insgesamt verbessern. Das kann zum Beispiel durch Gruppenprojekte wie die Gestaltung eines Schulgartens oder die Planung von Schulreisen entstehen, bei denen mehrere Klassen Aufgaben zusammen bewältigen. Es lohnt sich auch, Probleme zu identifizieren, die man in der Schulgemeinschaft angehen kann. Das fördert das Vertrauen ineinander und die Selbstwirksamkeit der Schülerinnen und Schüler. Sie erkennen: „Ich kann selbst auch was bewegen.”

Ähnliches gilt für das Thema Partizipation: Es gibt an deutschen Schulen die Pflicht, dass jedes Jahr eine Klassenvertretung gewählt werden muss. Aber unserer Studie zufolge können sich knapp 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht erinnern, in den letzten Jahren eine solche gewählt zu haben. Es kann also sein, dass dies passiert, aber im Schulalltag untergeht, so dass diese Position zu einer leeren Rolle verkommt. Dann ist es an den Schulen, diese Rolle wieder mit Leben zu füllen und den Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten zu geben, wirklich etwas zu entscheiden, etwa wie die Schule gestaltet werden kann. Dem sind selbstverständlich Grenzen gesetzt, wie etwa durch den Brandschutz. Dennoch lohnt es sich, nach Freiräumen zu suchen und Teilhabechancen zu eröffnen, um es Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, selbst Entscheidungen zu treffen. Natürlich fällt hier der Schulleitung eine besonders entscheidende Rolle zu. Sie muss dahinterstehen und diese partizipative Kultur und auch den fächerübergreifenden Austausch über Politik unterstützen. Konkret bieten sich hier aktuell etwa Schulprojekte zu den Europawahlen an, bei denen Abgeordnete in die Schulen eingeladen werden und zu Themen, die den Jugendlichen wichtig sind, befragt werden können.

Redaktion: Frau Doktorin Ziemes, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Johanna Ziemes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen. Promoviert hat sie zu der Bedeutsamkeit schulischer Sozialbeziehungen für die politische Sozialisation im Jugendalter. Sie hat die Durchführung von ICCS 2016 und ICCS 2022 begleitet und mitorganisiert. Aktuell forscht sie zu den Themen Diskriminierung und Toleranz im Kontext der Schule.