Visionäre Schulleitungen: Mit klaren Zielen und Teamgeist die Schule transformieren
Wie visionäre Führungspersönlichkeiten die Schulentwicklung vorantreiben und dabei Herausforderungen meistern.

Visionäre Schulleitungen prägen nicht nur die Ausrichtung ihrer Schulen. Mit klaren Zielen, einem starken Wir-Gefühl und kreativen Lösungen zeigen sie, wie moderne Schulführung aussehen kann. Dr. Sarah Fichtner erklärt im Interview zur Cornelsen Schulleitungsstudie, wie diese Visionen entstehen.
Redaktion: Frau Dr. Fichtner, 69 Prozent der befragten Schulleitungen bezeichnen sich selbst als visionär. Was macht eine visionäre Schulleitung aus?
Dr. Sarah Fichtner: Wenn wir Leitung bzw. „Leadership“ als einen Prozess der sozialen Einflussnahme definieren, der die Bemühungen anderer maximiert, ein Ziel zu erreichen, dann spielt für visionäre Schulleitungen dieses Ziel eine zentrale Rolle. In den Interviews mit Schulleitungen wurde deutlich, dass es ihnen besonders wichtig ist, klare Ziele, Zukunftsvisionen und Leitbilder für ihre Schule zu entwickeln – und dass diese von allen geteilt werden müssen. Es braucht ein starkes Wir-Gefühl, das von der Leitung vorgelebt und ermöglicht wird. Die Selbstbezeichnung als „visionär“ kam dabei von den Schulleitungen selbst auf und wurde von uns aufgegriffen.
Cornelsen Schulleitungsstudie 2025
Für die repräsentative Cornelsen Schulleitungsstudie 2025 „Zwischen Vision und Rebellion“ wurden 2024 zum dritten Mal Schulleitungen aus ganz Deutschland in Interviews und einer Online-Befragung u.a. nach ihrem Selbstverständnis befragt. Dieses Mal nahmen mehr als 2.400 Schulleitungen an der Befragung teil. 23 Prozent der Befragten stimmten dabei der Aussage “Wenn ich an die Umsetzung der für mich zentralen Schulleitungs-Themen denke, fühle ich mich als Visionär:in in einer zukunftsfähigen Schule” zu, 46 Prozent stimmten “eher zu” (aggregiert: 69 Prozent). 60 Prozent der Schulleitungen sind bereit, rechtliche Vorgaben flexibel zu handhaben, um die Schulentwicklung voranzutreiben. Lehrkräftemangel ist die größte Herausforderung (60 Prozent Zustimmung), gefolgt von der Gesundheit von Lehrkräften und Schüler:innen (48 Prozent). 68 Prozent der Schulleitungen halten das deutsche Schulsystem für ungerecht, 84 Prozent sagen: Es lässt Menschen zurück.
Weitere Ergebnisse der Cornelsen Schulleitungsstudie
Redaktion: Wenn ich nicht sicher bin, ob ich eine visionäre Schulleitung bin: Wie kann ich daran arbeiten, eine zu werden?
Fichtner: Austausch und Zuhören sind entscheidend. Visionen entstehen nicht aus dem Nichts – sie entwickeln sich durch Impulse und Inspirationen im Innen und Außen. Viele Schulleitungen betonen die Bedeutung von Netzwerken und Hospitationen an anderen Schulen oder den Austausch mit der Wissenschaft und Wirtschaft, insbesondere bei beruflichen Schulen. Intern spielen Schüler:innenbefragungen und Ideen aus dem Kollegium eine wichtige Rolle: Zuhören hilft dabei, die Bedürfnisse der Beteiligten zu verstehen und daraus konkrete Schritte abzuleiten.
Die Nachbarschule kann auch eine große Inspirationsquelle sein, oder ganz einfach: das Internet. Ein Schulleiter erklärte beispielsweise, dass er sein Know-how gezielt aus dem Netz beziehe, darauf aufbauend entwickle er Ideen und nehme sich bewusst Zeit, um aufmerksam zuzuhören.
Zudem betrifft dies die übergreifenden Netzwerke zwischen Schulen, aber auch mit Schulaufsichten und Schulträgern, um nicht nur den eigenen Schulkontext zu betrachten, sondern über den Tellerrand hinauszuschauen – ein oft genannter Punkt.
Eine visionäre Führungskraft weiß, dass sie nicht allein handeln kann – sie braucht ein starkes Team. Es geht darum, gemeinsam mit dem Kollegium an einer Vision zu arbeiten und diese Schritt für Schritt umzusetzen.
Redaktion: Welche Gemeinsamkeiten haben visionäre Schulleitungen sonst noch?
Fichtner: Unsere Studie zeigt interessante Korrelationen zwischen der Selbstwahrnehmung als „visionär“ und anderen Merkmalen auf. Visionäre Schulleitungen haben ein ausgeprägtes Selbstverständnis dafür, dass ihre Haltung die gesamte Schule prägt – das trifft auf 71 Prozent der visionären Schulleitungen zu. 60 Prozent legen großen Wert darauf, die Eigenverantwortung im Kollegium zu stärken und 42 Prozent achten verstärkt auf kontinuierliche Fort- und Weiterbildungen ihres Teams. Sie fühlen sich bei der Umsetzung zentraler Vorgaben weniger fremdgesteuert, nehmen aber auch häufiger als andere Schulleitungen externe Beratung und Coaching in Anspruch. Visionäre Schulleitungen fördern stärker das selbstbestimmte Lernen der Schülerinnen und Schüler, um Lernerfolge zu maximieren. Interessant ist zudem, dass sie häufiger der Meinung sind, dass das gegliederte Schulsystem und auch das Sitzenbleiben abgeschafft werden sollte und dass die notenbasierte Leistungsmessung vielleicht nicht das Richtige ist, sondern den Blick auf die individuelle Entwicklung der Schüler:innen verhindert. In Bezug auf Digitalisierungsprozesse ist ihnen die Nutzung von KI wichtiger und auch die datenbasierte Evaluation von Schulentwicklungsprozessen.
„Neben einer klaren Vision braucht eine gute Schulleitung Empathie – sie muss alle Beteiligten mitnehmen können.“
Dr. Sarah Fichtner
Redaktion: Gibt es bestimmte Charaktereigenschaften, die visionäre Schulleitungen besonders häufig auszeichnen?
Fichtner: Das geht aus unseren Daten – und dem bereits Gesagten – nur implizit hervor. Neben einer klaren Vision braucht eine gute Schulleitung Empathie – sie muss alle Beteiligten mitnehmen können. Ein Zitat aus unserer Studie bringt es treffend auf den Punkt: „Eine Schulleitung muss eine Vision haben und empathisch alle in dieses Boot holen, um das große Schiff Schule dahin zu steuern, dass es allen gut geht – vor allem den Kindern.“ Ziel ist es nicht nur, Lernerfolge zu steigern und mündige Bürgerinnen und Bürger mitzuentwickeln, sondern dies im Kontext einer positiven Schulentwicklung zu tun.
Redaktion: Welche Veränderungen wollen visionäre Schulleitungen besonders häufig anstoßen?
Fichtner: Eine in den Interviews häufig genannte Veränderung ist die Rhythmisierung des Unterrichts – weg von den klassischen 45-Minuten-Einheiten hin zu längeren projektorientierten Lernformaten. Dies ermöglicht nicht nur intensiveres Lernen für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch mehr Zeit für den Austausch unter Lehrkräften.
Ein weiterer, damit zusammenhängender Wunsch betrifft bauliche Veränderungen: Viele Schulleitungen möchten ihre Schulen so gestalten, dass zukunftsorientierter Unterricht besser möglich ist – weg von traditionellen Flurschulen mit abgeschlossenen Klassenzimmern hin zu offeneren Lernräumen. Solche Veränderungen sind jedoch oft mit hohen bürokratischen Hürden verbunden.
Redaktion: Personalmangel ist das zentrale Thema, das Schulleitungen beschäftigt – bereits in der letzten Schulleitungsstudie wurde dies deutlich und hat sich bis heute nicht verändert. Haben Sie Beispiele, wie visionäre Schulleitungen damit umgehen?
Fichtner: Das Problem zieht sich durch, vor allem, da nicht nur Lehrkräftemangel herrscht sondern auch Personalmangel für den dringend benötigten Ausbau multiprofessioneller Teams. Diese sind nicht nur gefragt, um den erhöhten psychischen Herausforderungen in der Schülerschaft zu begegnen, sondern auch, um Schulentwicklung mehrperspektivischer zu gestalten, gerade im Hinblick auf den Ganztagsausbau und auch das „Andersdenken“ von Schule. Der Personalmangel erschwert Innovationen, die auf breiter Basis getragen werden müssten, und die Schulleitung als auch das vorhandene Personal stoßen häufiger an Belastungsgrenzen, denn die Schulentwicklung ist immer ein „add on“ zum Alltagsgeschäft.
Gleichzeitig können Veränderungen aber auch entlastend wirken. Ich greife die bereits genannten Beispiele der Schulleitungen auf: Eine neue Rhythmisierung kann den Stress von Schüler:innen und Lehrkräften reduzieren, den Tag entzerren und den Krankenstand senken, wie eine Schulleitung in unserer Studie berichtet. Phasen des selbstorganisierten Lernens mit gezielt eingesetzten Lernbegleiter:innen können mehr Raum für den Austausch unter den Lehrkräften und für die gemeinsame Unterrichtsentwicklung geben. Diese Szenarien werden ja an einigen Schulen bereits erfolgreich umgesetzt.
Redaktion: Haben Sie weitere Beispiele für kreative Lösungen von visionären Schulleitungen?
Fichtner: Bei unserer Pressekonferenz gab ein Schulleiter ein sehr handfestes Beispiel. Er berichtete davon, dass er Sofas in seiner Schule anschrauben musste, damit sie als festes Mobiliar gelten und bestimmte Finanzierungsrichtlinien erfüllen konnten. Solche kreativen Ansätze zeigen den Willen von Schulleitungen, auch innerhalb eines starren Systems innovative Lösungen umzusetzen.
Redaktion: Sind visionäre Schulleitungen Teamplayer?
Fichtner: Auf jeden Fall! Visionäre Schulleitungen denken die Schulentwicklung – und damit auch die Personalentwicklung ganzheitlicher – der Teamgedanke steht im Vordergrund. Sie nehmen alle Beteiligten mit ins Boot und entwickeln gemeinsam eine Vision für ihre Schule. Dabei begreifen sie sich selbst als Teil eines lernenden Teams und wissen um die Bedeutung geteilter Führung für den Lernerfolg.
Redaktion: Wie erklären Sie sich den Anstieg der „visionären Schulleitungen“ in der aktuellen Studie im Vergleich zu vor zwei Jahren bzw. zur ersten Studie von 2022?
Fichtner: Es führt kein Weg mehr an dieser Entwicklung vorbei: Schulleitungen agieren zunehmend als Gestalterinnen und Gestalter, die Rahmenbedingungen aktiv mitdenken – selbst wenn, oder auch gerade weil, diese noch nicht ideal sind. Die Haltungsänderung besteht darin, sich nicht länger an systemischen Restriktionen abzuarbeiten, sondern stattdessen Möglichkeitsräume zu schaffen.
Redaktion: Frau Doktorin Fichtner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Dr. Sarah Fichtner ist Senior Researcher und Projektleiterin am FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie, wo sie u.a. die Cornelsen Schulleitungsstudie leitet, die Herausforderungen und Reformbestrebungen deutscher Schulleitungen analysiert.