Von Kooperation und Rollenverständnis: So können multiprofessionelle Teams an Schulen funktionieren
Professor Stephan Otto über die Zusammenarbeit von unterschiedlichen Berufen an Schulen – und worauf es dabei ankommt

Multiprofessionelle Teams gelten als Schlüssel zu einer kindgerechteren, ganzheitlichen Bildung – besonders an Schulen in herausfordernden Lagen. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff, und wie gelingt die Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen im Schulalltag? Professor Stephan Otto erklärt im Interview, warum klare Rollenbilder, gemeinsame Haltungen und institutionalisierte Austauschformate so wichtig sind – und weshalb Schulleitungen hier eine zentrale Rolle spielen.
Redaktion: Herr Professor Otto, der Begriff "multiprofessionelle Teams" wird häufig verwendet, aber oft unterschiedlich interpretiert. Könnten Sie uns erläutern, was genau darunter im schulischen Kontext zu verstehen ist?
Prof. Stephan Otto: Multiprofessionelle Teams in Schulen bestehen aus Fachkräften unterschiedlicher Professionen, die jeweils in ihrem spezifischen Aufgabenbereich tätig sind. Sie sollen zur ganzheitlichen Förderung der Schülerinnen und Schüler beitragen und Lehrkräfte entlasten. Im Gegensatz zu interprofessionellen Teams, bei denen die Bereiche stärker vermischt sein können, gibt es in multiprofessionellen Teams eine klare Rollenverteilung.
Redaktion: Wie gestaltet sich die Zusammensetzung solcher Teams? Gibt es große Unterschiede zwischen den Schulen?
Otto: Ja, die Zusammensetzung variiert erheblich. Neben Lehrkräften und Schulsozialarbeiter:innen können auch Erzieher:innen, Sonderpädagog:innen, Schulpsycholog:innen und weiteres pädagogisches Personal Teil des Teams sein. Allerdings fehlen meist genaue Statistiken darüber, welche Professionen an den einzelnen Schulen vertreten sind. Dies führt dazu, dass an manchen Schulen unklar ist, wer eigentlich Teil des multiprofessionellen Teams ist und welche Aufgaben die jeweiligen Mitglieder übernehmen.
Redaktion: Gibt es aus Ihrer Sicht bestimmte Berufsgruppen, die in einem multiprofessionellen Team unbedingt vertreten sein sollten?
Otto: Ein Patentrezept gibt es sicher nicht – aber es gibt bestimmte Konstellationen, die sich aus meiner Sicht besonders bewährt haben. Gerade im Ganztagskontext, der heute an vielen Schulen Realität ist, braucht es mehr als nur den klassischen Unterricht. Hier spielen vor allem Erzieher:innen, Kindheitspädagog:innen und Schulsozialarbeiter:innen eine zentrale Rolle. Diese Professionen ermöglichen informelle Bildungsprozesse, die nicht durch Leistungsdruck oder Noten geprägt sind. Sie können Kinder und Jugendliche interessengeleitet begleiten und dabei oft auf einer anderen Beziehungsebene ansetzen. Das schafft nicht nur neue Bildungsgelegenheiten, sondern auch Vertrauen – gerade weil diese Fachkräfte in der Regel nicht bewerten oder selektieren. Psycholo:innen sind ebenfalls wichtig, nehmen in dieser Konstellation aber oft eine ergänzende, stärker problemorientierte Rolle ein.
Redaktion: Welche Faktoren entscheiden über das Gelingen der Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams?
Otto: Zentral ist zunächst einmal die Haltung: Multiprofessionelle Zusammenarbeit setzt voraus, dass alle Beteiligten überhaupt bereit sind, kooperativ zu arbeiten. Diese Haltung ist nicht selbstverständlich – und sie ist teilweise abhängig von der Ausbildung. In der Sozialarbeit beispielsweise gehört die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen zum Selbstverständnis. Das spiegelt sich im Studium und in den Ausbildungsinhalten wider. Lehramtsstudierende dagegen lernen in der Regel nicht, mit anderen pädagogischen Professionen zu kooperieren. Das ist bislang weder in den Modulhandbüchern noch in den Curricula systematisch flächendeckend verankert. Als Lehrkraft steht man häufig allein vor der Klasse – das ist das klassische Bild. Alles, was darüber hinausgeht, wird oft als zusätzliche Belastung empfunden. Hinzu kommt: Wenn solche Teams top-down implementiert werden – wie etwa im Rahmen des Startchancen-Programms –, stoßen sie schnell an Grenzen. Lehrkräfte sind ohnehin stark belastet, unter anderem durch Personalmangel. Wenn dann zusätzlich erwartet wird, dass sie sich regelmäßig mit anderen Professionen austauschen, ist das aus ihrer Perspektive oft schwer leistbar.
Multiprofessionelle Teams im Startchancen-Programm
Das Startchancen-Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gilt als das derzeit größte bildungspolitische Reformprogramm Deutschlands. Eines seiner drei zentralen Förderziele ist der systematische Auf- und Ausbau multiprofessioneller Teams an Schulen. Damit sollen insbesondere Schulen in herausfordernden Lagen personell gestärkt und individuelle Förderbedarfe von Schüler:innen besser adressiert werden. Zu den geförderten Professionen zählen neben Lehrkräften auch Sozialarbeiter:innen, Sonderpädagog:innen, Lernbegleiter:innen, Schulpsycholog:innen oder Erzieher:innen. Ziel ist es, Schulen als ganzheitliche Lern- und Lebensorte zu entwickeln, in denen pädagogische, soziale und therapeutische Kompetenzen gebündelt werden. Multiprofessionelle Teams sollen insbesondere Kinder und Jugendliche mit schwierigen Startbedingungen dabei unterstützen, Schulalltag, Lernen und Teilhabe besser zu bewältigen. Die Forschung zeigt allerdings: Während die bildungspolitische Bedeutung dieser Teams zunehmend erkannt wird, fehlt es bislang an empirisch belastbaren Erkenntnissen über ihre konkrete Zusammensetzung, Kooperationspraxis und Wirksamkeit im Schulalltag. Aktuelle Übersichtsarbeiten wie das Scoping Review von Otto & Wasserfuhr (2024) identifizieren hier eine zentrale Forschungslücke.
Redaktion: Wie kann die Zusammenarbeit dennoch funktionieren?
Otto: Ein ganz wesentlicher Gelingensfaktor ist ein klares Rollenverständnis: Alle Beteiligten müssen wissen, wofür sie zuständig sind – und wofür nicht. Lehrkräfte müssen verstehen, was Sozialarbeitende leisten können und umgekehrt. Nur so kann man sinnvoll Aufgaben verschränken. Was hilft, ist ein regelmäßiger Austausch, und zwar nicht nur informell, sondern institutionell verankert. Wichtig ist auch, dass es Raum für diese Zusammenarbeit gibt, zeitlich wie strukturell. Denn ohne geschützte Zeitfenster ist kein sinnvoller Austausch möglich. Und schließlich braucht es Fortbildungen, idealerweise gemeinsame für alle beteiligten Professionen. Diese können helfen, gegenseitiges Verständnis aufzubauen und die Haltung zu fördern, dass multiprofessionelle Zusammenarbeit keine zusätzliche Bürde ist, sondern ein Gewinn – auch für die eigene Entlastung und für die Qualität der pädagogischen Arbeit insgesamt.
Redaktion: Welche Rolle kommt der Schulleitung bei der Etablierung und Förderung multiprofessioneller Zusammenarbeit zu?
Otto: Die Schulleitung hat eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, die Zusammenarbeit im Kollegium und darüber hinaus zu gestalten. Sie besitzt ein Durchgriffsrecht und kann gezielt dafür sensibilisieren, welche Potenziale in multiprofessioneller Kooperation liegen. Schulleitungen haben zudem – zunehmend – die Möglichkeit, Personalentscheidungen nicht nur für Lehrkräfte, sondern auch für weitere pädagogische Fachkräfte zu treffen. Sie können also aktiv darauf hinwirken, dass verschiedene Professionen an der Schule vertreten sind und sinnvoll zusammenarbeiten. Entscheidend ist, dass Schulleitungen diesen Prozess nicht nur organisatorisch begleiten, sondern auch inhaltlich mittragen und fördern.
Redaktion: Sie haben sich in Ihrer Forschung auch mit gelungenen Praxisbeispielen von multiprofessionellen Teams beschäftigt. Welche konkreten Effekte können solche Teams für die Schüler:innen haben?
Otto: Ganz zentral ist die Möglichkeit zur individuellen Förderung. Unser Schulsystem folgt nach wie vor häufig einer Normorientierung, die mit den vielfältigen Lebensrealitäten von Kindern und Jugendlichen nicht mehr viel zu tun hat. Multiprofessionelle Teams eröffnen hier neue Wege: Sie können an den Interessen und Potenzialen der Schüler:innen ansetzen und damit eine wirklich kind- beziehungsweise jugendorientierte Bildung ermöglichen. Das ist nicht nur ein theoretischer Mehrwert, sondern gelebte Praxis, wenn die Rahmenbedingungen stimmen: gegenseitiges Verständnis, eine gemeinsame Haltung. Dann wird multiprofessionelle Zusammenarbeit als Entlastung erlebt. Wenn klar ist, dass ich mich auf andere Fachkräfte verlassen kann, weil sie über spezifische Kompetenzen verfügen, dann kann ich mich als Lehrkraft wieder stärker auf meine Kernaufgaben konzentrieren.
Redaktion: Herr Professor Otto, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Stephan Otto ist Professor für Kindheitspädagogik an der IU Internationalen Hochschule in Berlin und Berater bei der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen soziale Ungleichheit im Bildungswesen, digitale Hochschulbildung sowie multiprofessionelle Zusammenarbeit im Bildungssystem. Er studierte Lehramt für Deutsch, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen und promovierte 2017 über Schulpraktika in der Lehrkräftebildung.