Wann sind Leistungsbeurteilungen gerecht?

Egal ob Ziffernnoten oder Lernentwicklungsberichte: Leistungsbeurteilungen sind letztlich nur dann gerecht, wenn Schulen klar benennen, was sie eigentlich unter Bildungsgerechtigkeit verstehen. Die Schlüsselkompetenz dafür heißt kommunikative Validierung, sagt Bildungsforscher Prof. Dr. Hans Anand Pant.

Noten sind oft ungerecht. Das wissen nicht nur Schülerinnen und Schüler, auch Erkenntnisse aus der Bildungsforschung rütteln seit Jahrzehnten an der traditionellen Methode der Leistungsbewertung. Zu subjektiv, zu wenig vergleichbar, zu intransparent, lautet die Kritik. Leistungsfremde Faktoren wie Aussehen, soziale Herkunft oder Geschlecht beeinflussen Schulnoten ebenso wie stereotype Erwartungshaltungen oder die Stimmung der Lehrerkraft. So zeigen Untersuchungen, dass Lehrpersonen die exakt gleichen Arbeiten einige Wochen und Monate später teilweise anders benoten. „Nicht Noten sind das Messinstrument für die Leistungen von Schülerinnen und Schülern, sondern die Lehrkraft“, betonte der Bildungsforscher und langjährige Geschäftsführer der Deutschen Schulakademie Prof. Hans Anand Pant in seinem Keynote-Vortrag beim Tag der Wissenschaft in Stuttgart. 

Feststellen ist nicht gleich Beurteilen

Schulnoten sind das Ergebnis einer Leistungsbeurteilung. Davon zu unterscheiden sind die Leistungsfeststellung und die Leistungsmessung.

Leistungsfeststellung: Beobachtung und Beschreibung eines Leistungsverhaltens.
Leistungsmessung: Zuordnung einer Zahl zu einer festgestellten (beobachteten) Leistung unter Berücksichtigung von Gütekriterien.
Leistungsbeurteilung (oft synonym zu Leistungsbewertung): Einordnung einer Leistung in ein Bezugsystem unter Zugrundelegung eines Beurteilungsmaßstabes.

Die Debatte über das Für und Wider von Zensuren ist daher beinahe so alt wie das Schulnotensystem selbst. Die Befürwortung von Schulnoten, so Pant, werde vor allem mit ihrer Selektionsfunktion innerhalb der Gesellschaft begründet. Über Schulnoten werde eine Auswahl befähigter Anwärterinnen und Anwärter auf höhere Bildungslaufbahnen und angesehene berufliche und gesellschaftliche Positionen getroffen. Hierbei gelte das in der modernen Leistungsgesellschaft oft zitierte Credo „Aufstieg durch Bildung“ oder „Leistung lohnt sich“. Den Hintergrund für diese Selektionsfunktion bildet das sogenannte meritokratische Prinzip. Der Begriff Meritokratie leitet sich aus dem Lateinischen (meritum: „das Verdienst“) und dem Griechischen (kratein: „herrschen“) ab. Er bezeichnet eine soziale Herrschaftsordnung, die vorgibt, sich an den Leistungen und Begabungen eines Individuums zu orientieren. Letztlich bedeutet das: Soziale Ungleichheiten gelten als legitim, wenn sie sich mit individueller Leistung begründen lassen.

Die Idee der Leistungsgerechtigkeit setzt allerdings voraus, dass sich leistungsfremde Kriterien oder die Erwartungen von Lehrpersonen in der Schule, nicht auf den Zugang zu Status und Geld auswirken. Genau diese Kopplung von Leistungsbeurteilung und externen Faktoren ist für Schulnoten jedoch vielfach nachgewiesen.

Lernentwicklungsberichte sind nicht zwangsläufig gerechter als Ziffernnoten

Das gestiegene Bewusstsein für die Ungerechtigkeit von Ziffernnoten hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass an Schulen vermehrt alternative Formen der Leistungsbeurteilung entwickelt und angewandt wurden. Allerdings sind auch alternative Beurteilungsverfahren wie Lernentwicklungsberichte nicht zwangsläufig gerechter als die Vergabe von Ziffernnoten. Denn auch Beobachtungen und Worte sind nicht objektiv und können von leistungsfremden Faktoren oder der Stimmung der Lehrperson auf die gleiche Weise beeinflusst werden, die sich in Schulnoten niederschlagen würde. 

Für Prof. Hans Anand Pant steht daher fest: Unabhängig von der Form der Leistungsbeurteilung, liegt das Hauptproblem des Leistungsverständnisses an Schulen darin, dass sich die Gesellschaft – und mit ihr das Bildungssystem – nicht einig ist, welches Modell von Bildungsgerechtigkeit an Schulen gelten soll.

Was bedeutet Bildungsgerechtigkeit?

Unter dem Begriff der Bildungsgerechtigkeit lassen sich, Pants Ausführungen folgend, drei unterschiedliche Konzepte fassen:

Verteilungsgerechtigkeit: Der Gerechtigkeitsbegriff ist an die individuelle Leistung geknüpft. Erbringen Schülerinnen und Schüler gute Leistungen (in Form guter Noten), erhöhen sie damit ihre Chancen auf einen guten Bildungsabschluss, die Zulassung zu einem zulassungsbeschränkten Studiengang oder einem angesehenen sozialen Satus.

Anerkennungsgerechtigkeit: Bildungssysteme richten ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf individuelle Bedürfnisse und Leistungen von Schülerinnen und Schülern sowie deren soziale Wertschätzung.

Teilhabegerechtigkeit: Bildungssysteme werden dann als gerecht bezeichnet, wenn sie prinzipiell alle Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Als zentrales Sichtwort gilt dabei die Sicherung der Basiskompetenzen bzw. das Erreichen von Mindeststandards.

Gerecht(er)e Basis: Das Prinzip ‚kommunikative Validierung‘

An welches Modell von Bildungsgerechtigkeit sollen Schulen nun anknüpfen? Und wie sollen Leistungen bewertet werden, um den Anspruch einzulösen, gerecht zu agieren? Diese Fragen, lassen sich für Pant nur diskursiv beantworten und als Leitmotiv verankern. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Prozess der ‚kommunikativen Validierung‘. Der Begriff geht auf ein Gütekriterium der qualitativen Sozialforschung zurück und bezeichnet einen Austauschprozess über die erfolgten Interpretationen. Dazu werden Forschungsergebnisse oder Schlussfolgerungen aus diesen mit den Teilnehmenden einer Studie diskutiert. Auf diese Weise können sich Forscherinnen und Forscher rückversichern, ob die von ihnen geäußerten Interpretationen von den Teilnehmenden geteilt werden und somit als valide gelten können. „Solche partizipativen Kommunikationssituationen“, erläutert Pant schriftlich, „können Schulen selbst zwischen Leitung, Kollegium, Eltern- und Schülerschaft herbeiführen – also überall dort, wo sonst Hierarchiebeziehungen vorherrschen.“ Ein zentraler Schritt hin zu einer bildungsgerecht(er)en Schule ist somit eine offensive Auseinandersetzung mit den eigenen und den im Kollegium präsenten Vorstellungen von Leistung und Gerechtigkeit. Für Schulleitungen bedeute dies konkret, dem Verständigungsprozess Raum zu geben. Eine Möglichkeit dabei sind Foren, in denen Lehrkräfte, Lernende und Eltern ein gemeinsam geteiltes Leistungsverständnis entwickeln und dieses anschließend auch gegenüber außerschulischen Partnern vertreten können.

„Es geht darum, abzuklären, wie das jeweilige Leistungsverständnis und die entsprechenden Leistungskriterien eine bessere Passung finden.“

Prof. Dr. Hans Anand Pant

Ähnliche Strukturen und Herausforderungen gelten darüber hinaus auch im Austausch mit Bildungspolitik und Gesellschaft. Zwischen Institutionen wie Schulen und Hochschulen komme es beispielsweise darauf an, Übergänge möglichst reibungslos zu ermöglichen, indem beide Seiten ihre Vorstellungen kommunikativ validieren: „Es geht darum, den Dialog zwischen abgebender und aufnehmender Institution systematischer zu führen und dabei abzuklären, wie das jeweilige Leistungsverständnis und die entsprechenden Leistungskriterien eine bessere Passung finden.“

Zur Person

Prof. Dr. Hans Anand Pant ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Methodenlehre an der Humboldt-Universität zu Berlin und war bis 2021 Geschäftsführer (Programmbereich) der Deutschen Schulakademie.

  • Beutel, S. I., & Pant, H. A. (2019). Lernen ohne Noten: Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung. Kohlhammer Verlag.