Warum der Lehrkräftemangel besonders MINT- und Kreativfächer trifft
Prof. i.R. Klaus Klemm fasst Prognosen, Ursachen und Lösungsansätze für eine der dringlichsten Herausforderungen im Bildungssystem zusammen.
Kein Thema bewegt Bildungspolitik und Schulleitungen derzeit so sehr wie der Lehrkräftemangel. Und das zu Recht. Moderate Schätzungen prognostizieren einen Mangel von 68.000 Lehrkräften bis 2035. Besonders stark betroffen sind die MINT- und Kreativfächer. Gründe hierfür sind Pensionierungen und attraktive Arbeitsfelder außerhalb des Schuldienstes. Was nun?
Fest steht: Der Lehrkräftemangel in Deutschland wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen, insbesondere in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) sowie in den kreativen Fächern Kunst und Musik. Das Ausmaß des Mangels schätzen verschiedene Studien, darunter die von Dohmen (2024), Klemm (2022) und die der Kultusministerkonferenz (KMK, 2023), unterschiedlich ein. Während die KMK von einem Lehrkräftemangel von 68.000 Lehrkräften bis 2035 ausgeht, prognostiziert eine Studie von Dohmen (2024) – allerdings weniger plausibel – für denselben Zeitraum bis zu 175.000 fehlende Lehrkräfte.
Wovon die Prognosen für MINT-Fächer, Musik und Kunst ausgehen
Besonders problematisch ist der Lehrkräftemangel in den MINT- und kreativen Fächern. Eine detaillierte Analyse von Klemm (2021, 2024) zeigt, dass in den Jahren 2022 bis 2035 allein in Nordrhein-Westfalen nur 40,4 Prozent der benötigten Kunstlehrkräfte und 32,9 Prozent der Musiklehrkräfte verfügbar sein werden. In den MINT-Fächern ist die Situation ähnlich besorgniserregend: Von 2018 bis 2031 könnten je nach Fach nur zwischen 39 Prozent (Technik) und 43,6 Prozent (Biologie) der notwendigen Lehrkräfte gestellt werden.
Der Mangel an Fachlehrkräften lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen:
- Pensionierung: In den Fächern Kunst und Musik sind viele Lehrkräfte über 50 Jahre alt, was einen hohen Ersatzbedarf durch Pensionierungen bedeutet.
- Wachsende Schülerzahl: Der demografische Wandel führt in Nordrhein-Westfalen zu einem Anstieg der Schülerzahlen um 11,8% bis 2035, was einen zusätzlichen Bedarf an Lehrkräften bedeutet.
- Konkurrenz durch andere Berufsfelder: Besonders in den MINT-Fächern ziehen viele Studienberechtigte Berufe außerhalb des Schuldienstes vor, da diese oft höhere Gehälter und attraktivere Arbeitsbedingungen bieten.
Vortrag von Prof. i.R. Klaus Klemm an der Universität Tübingen
Am 16. Juli 2024 um 18.15 Uhr hält Prof. i.R. Klaus Klemm im Rahmen des Studiums Generale einen Vortrag zum Thema „Verschärft der Lehrkräftemangel die Bildungskrise?“. Organisiert wird die Studium-Generale-Reihe durch das LEAD Graduate School & Research Network. Der Vortrag von Prof. i.R. Klaus Klemm bildet den Abschluss der Reihe „Bildungskatastrophe: Von der Diagnose zur Lösung“. Der Vortrag ist kostenlos. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
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Der Lehrkräftemangel ist ein deutschlandweites Problem
Obwohl sich die vorangegangenen Daten ausschließlich auf Nordrhein-Westfalen beziehen, können die Einschätzungen auch auf alle anderen Bundesländer übertragen werden. Drei wesentliche Aspekte spielen dabei eine Rolle:
- Erheblicher Lehrermangel in allen Bundesländern: Alle 16 Bundesländer erwarten für die allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufen I und II bis 2035 einen erheblichen Lehrermangel. Dieses Problem ist somit keineswegs auf Nordrhein-Westfalen beschränkt.
- Altersbedingtes Ausscheiden und Schülerzahlen: In ganz Deutschland werden Lehrkräfte in den nächsten Jahren altersbedingt aus dem Schuldienst ausscheiden. Dies trifft die neuen Bundesländer stärker als die alten Bundesländer. Gleichzeitig steigen die Schülerzahlen in den alten Bundesländern stärker an, während sie in den neuen Bundesländern stagnieren. In den neuen Bundesländern kompensiert die Stagnation der Schülerzahlen den hohen Anteil der ausscheidenden Lehrkräfte, was insgesamt zu ähnlichen Bedarfszahlen führt wie in den alten Bundesländern.
- Attraktivität anderer Arbeitsmärkte: In ganz Deutschland gibt es insbesondere in den MINT-Fächern Arbeitsmärkte, die von Studienberechtigten als attraktiver eingeschätzt werden als der Schuldienst. Diese Konkurrenz verschärft den Lehrermangel bundesweit.
Diese Lösungsansätze gibt es
Um dem Lehrkräftemangel entgegenzuwirken, sind verschiedene Maßnahmen notwendig. Dies hat auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) erkannt und Anfang des Jahres eine Stellungnahme mit zentralen Empfehlungen veröffentlicht. Zu den zentralen Vorschlägen, die derzeit erörtert werden, gehören:
- Erhöhung der Studienkapazitäten: Mehr Studienplätze für Lehramtsstudierende in den betroffenen Fächern könnten langfristig Abhilfe schaffen. Gleichzeitig muss die Zahl der Studienabbrecher reduziert werden, beispielsweise durch eine bessere Studienbetreuung und qualitativ hochwertige Lehre.
- Förderung von Seiten- und Quereinsteigenden: Bereits 2013 hat die KMK Sondermaßnahmen zur Gewinnung von Lehrkräften beschlossen, die auch künftig wichtig sein werden. Die gezielte Ansprache und Qualifizierung von Seiten- und Quereinsteigenden könnte helfen, die Lücken zu füllen.
- Alternativer Weg ins Lehramt: Die SWK schlägt vor, dass Fachstudierende oder Berufswechslerinnen und -wechsler ein Masterstudium in einem Unterrichtsfach mit anschließendem Vorbereitungsdienst absolvieren. Dieser zweite Weg ins Lehramt soll die zahlreichen Sondermaßnahmen in den Ländern ablösen.
- Einbindung von Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern sowie stundenweise beschäftigten Lehrkräften: Die eigenverantwortliche Übernahme von Unterricht durch Lehramtsanwärterinnen und -anwärter und der verstärkte Einsatz von stundenweise beschäftigten Lehrkräften sind weitere kurzfristige Maßnahmen, um dem Mangel zu begegnen.
- Flexibilisierung des Einsatzes von Lehrkräften durch Hybridunterricht, Erhöhung der Selbstlernzeiten von Schülerinnen und Schülern, Anpassung der Klassenfrequenzen
Der Lehrkräftemangel in den MINT- und kreativen Fächern stellt das deutsche Bildungssystem vor Herausforderungen. Langfristige und kurzfristige Maßnahmen sind gleichermaßen erforderlich, um die Bildungsqualität zu sichern und den Bedarf an qualifizierten Lehrkräften zu decken. Dabei ist es entscheidend, sowohl die Attraktivität des Lehrerberufs zu erhöhen als auch alternative Wege zur Gewinnung von Lehrkräften zu fördern.