Warum es gut sein kann, wenn Lehrkräfte Kinder überschätzen

Dr. Melanie Olczyk und Dr. Sarah Gentrup berichten von ihrer Forschung über verzerrte Lehrkrafturteile – und welche falschen Erwartungen positive Konsequenzen haben können

Als Lehrkraft die eigenen Schülerinnen und Schüler immer fair zu bewerten, ist gar nicht so einfach – das zeigt jetzt eine neue Studie. Welche Stereotype sich in verzerrten Lehrkrafturteilen zeigen und wie man ihnen begegnen kann, erläutern die Autorinnen der Studie, Dr. Melanie Olczyk und Dr. Sarah Gentrup, im Interview.

Redaktion: Frau Dr. Olczyk, Frau Dr. Gentrup, Sie haben sowohl in Deutschland als auch in den USA und in England Kinder am Beginn ihrer Grundschulzeit durch Lehrkräfte beurteilen lassen und diese Beurteilungen anschließend mit den Ergebnissen von Leistungstests derselben Lerngruppe verglichen. Was konnten Sie dabei feststellen?

Dr. Melanie Olczyk: Die Lehrkräfte wurden in den Studien, die wir ausgewertet haben, gebeten, die Fähigkeiten der Kinder in der Klasse in den Bereichen Sprache und Mathematik im Vergleich zu anderen gleichaltrigen Kindern zu beurteilen. Im selben Zeitraum nahmen die Kinder an Leistungstests teil, welche diese Kompetenzen überprüften. Wir haben die Ergebnisse aus den Leistungstests dann in Verbindung gesetzt mit den Urteilen der Lehrkräfte. Dabei konnten wir feststellen, dass die Beurteilung durch die Grundschullehrkräfte nicht vollständig auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zurückgeführt werden konnte. Es zeigten sich also Verzerrungen, und diese wiesen systematische Zusammenhänge mit dem Geschlecht der Lernenden auf. So wurden im Bereich Sprache die Fähigkeiten der Mädchen eher überschätzt und die der Jungen eher unterschätzt. Im Bereich Mathematik war es genau umgekehrt. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass die Lehrkräfte Mädchen und Jungen teilweise Kompetenzen zusprechen, die den gemessenen Leistungen und Fähigkeiten nicht entsprechen.

Redaktion: Welche Konsequenzen haben diese verzerrten Urteile?

Olczyk: Wir haben die Leistungen der Kinder zu Beginn der Grundschulzeit mit denen am Ende ihrer Grundschulzeit abgeglichen, für Deutschland also am Ende der 4. Klasse. Hierbei sehen wir, dass sich der Vorsprung der Jungen in Mathematik vergrößert und im Bereich Sprache der Vorsprung der Mädchen zunimmt. Wir konnten zudem zeigen, dass diese Unterschiede in der Leistungsentwicklung zum Teil mit den verzerrten Urteilen der Lehrkräfte zusammenhingen. Das bedeutet letztendlich, dass es für die Leistungsentwicklung der Kinder durchaus relevant ist, wie die Lehrkräfte ihre Fähigkeiten einschätzen.

Redaktion: In diesem Zusammenhang sprechen Sie in Ihrem Artikel auch von „selbsterfüllenden Prophezeiungen”. Was bedeutet das?

Dr. Sarah Gentrup: Als selbsterfüllende Prophezeiungen werden solche Phänomene verstanden, bei denen Überzeugungen, die ursprünglich auf fehlerhaften Annahmen beruhen, ein Verhalten folgen lassen, welches die “falsche” Erwartung schließlich dennoch erfüllt. Eine Lehrkraft geht also beispielsweise davon aus, dass ein Kind besonders gut lesen kann, obwohl dem nicht so ist. Die Lehrkraft verhält sich aber so, als wäre das der Fall. Letztlich kann es dann dazu kommen, dass sich die Erwartung erfüllt und das Kind gut lesen lernt, weil sich Verhaltensweisen der Lehrkraft und des Kindes an die gezeigte Erwartung anpassen.

Redaktion: Das heißt, wenn ich als Lehrkraft meine Schülerinnen und Schüler überschätze, kann das positive Effekte auf ihre Entwicklung haben?

Gentrup: Ja, in einem gewissen Rahmen ist das richtig. Tatsächlich lässt sich aus unserer Untersuchung und weiteren Studien der Schluss ziehen, dass hohe Erwartungen gut sind. Wobei es hier nicht um ein realitätsfernes Überschätzen geht, sondern um ein gesundes Zutrauen, dass Kinder lernen können und Leistungssteigerungen für sie möglich sind. Wenn ich dieses Vertrauen den Lernenden entsprechend kommuniziere im Sinne von „Du kannst das schaffen!”, kann das Potentiale freisetzen, die zu einer günstigen Leistungsentwicklung beitragen können. Es lohnt sich also, Lehrkräfte hierfür zu sensibilisieren, so dass sie unabhängig vom Geschlecht hohe Erwartungen an ihre Schülerinnen und Schüler formulieren und Zutrauen in ihre Potenziale entwickeln. Aus der Forschung wissen wir, dass Lehrkräfte, die so agieren und ihrer Lerngruppe mit hohen Erwartungen begegnen, häufig auch Feedback geben, das sehr konkret an den individuellen Lernzielen der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet ist. Sie zeigen oft einen besonders wertschätzenden Umgang mit allen Kindern in ihrer Klasse und etablieren eine positive Fehlerkultur, bei der Fehler zum Lernen dazu gehören. Darin liegt eine Chance, unter anderem auch, um Leistungsunterschieden zwischen den Geschlechtern entgegenzuwirken, wobei hier die Erwartungshaltung natürlich nur ein Faktor unter vielen ist.

„Tatsächlich lässt sich aus unserer Untersuchung und weiteren Studien der Schluss ziehen, dass hohe Erwartungen gut sind.“

Dr. Sarah Gentrup

Redaktion: Sie haben den Vergleich zwischen Lehrkrafturteilen und Leistungstests nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern sich die Situation auch für England und die USA angeschaut. Ist dort ein ähnlicher Zusammenhang zu sehen?

Olczyk: Ja, wir konnten systematisch nach dem Geschlecht verzerrte Lehrkrafturteile grundsätzlich in allen drei Ländern beobachten. Das Muster – Mädchen werden in Mathematik unterschätzt, Jungs im Bereich Sprache – findet sich so in Deutschland, England und den USA, wenngleich das Ausmaß variiert: Im Bereich Sprache ist die Verzerrung der Lehrkrafturteile in England am stärksten, in Mathematik die in Deutschland. In den USA fallen die Verzerrungen insgesamt kleiner aus. Auch der Zusammenhang mit den Leistungsentwicklungen bis zum Ende der Grundschulzeit ist in allen drei Ländern beobachtbar, fällt aber unterschiedlich stark aus. Diese Variation kann allerdings auch auf Unterschiede zwischen den Daten zurückzuführen sein, da die zugrunde liegenden Untersuchungen in den Ländern nicht genau gleich durchgeführt wurden.

Redaktion: Können Sie Ursachen in den Ländern identifizieren, die zu den verzerrten Urteilen der Lehrkräfte führen?

Olczyk: Wir können auf Basis unserer Studie keine klaren Aussagen über kausale Zusammenhänge diesbezüglich treffen, sehen aber auch in anderen Studien, die eher den institutionellen Rahmen in den Blick nehmen, durchaus Faktoren, die nicht nur das Ausmaß verzerrter Lehrkrafturteile bedingen könnten, sondern auch deren Zusammenhänge mit der Leistungsentwicklung. Dazu gehört etwa das Ausmaß der generellen Geschlechtergleichheit in den Ländern oder der Grad der Standardisierung der Bildungssysteme. Je mehr hier etwa Lehr- und Testmaterialien vorgegeben werden, desto weniger Raum könnte es für Verzerrungen in den Lehrkrafturteilen geben. Auch die Rechenschaftspflicht von Lehrkräften und Schulen, wie sie etwa in England oder den USA ausgeprägter ist, könnte Auswirkungen haben. In welche Richtung und wie genau die Zusammenhänge hier aussehen, ist allerdings unklar. Insgesamt wären hier weitere Studien wünschenswert, die sich das im Detail anschauen. Das müssen dann nicht unbedingt internationale Ländervergleiche sein; auch innerhalb von Ländern ist schon eine große Variation denkbar.

Redaktion: Nun können die verzerrten Lehrkrafturteile, wie Sie angedeutet haben, auch negative Folgen haben. Schülerinnen und Schüler können unter ihren Potenzialen bleiben, weil sie von Lehrkräften unterschätzt werden. Wo können Lehrkräfte ansetzen, um diese Art von Verzerrungen in ihren Urteilen zu vermeiden?

Gentrup: Es geht zunächst darum zu akzeptieren, dass wir alle Stereotype haben. Das ist für sich genommen erstmal nichts Problematisches. Unser Gehirn arbeitet mit solchen Vereinfachungen, um eine komplexe Welt energie- und zeiteffizient zu strukturieren. Es geht vielmehr darum zu fragen: Wie beeinflussen sie mich in meinem Handeln, in meinem Denken, in meinen Überzeugungen? Wenn ich akzeptiert habe, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Einfluss nehmen – in diesem Fall die Überzeugungen, die ich habe über Mädchen und Jungen – begebe ich mich in den Prozess, dass ich sie mir bewusst mache und ihren Einfluss reduzieren kann. Es ist dabei völlig in Ordnung zu wissen, dass Mädchen im Durchschnitt besser lesen als Jungen; das ist in Deutschland ein etablierter Befund. Problematisch ist es, wenn sich daraus die Annahme entwickelt, dass alle Mädchen in meiner Klasse besser lesen würden als alle Jungen. Die Frage ist: Bin ich in meinem unterrichtlichen Handeln offen für anders aussehende Realitäten? Etwa für den Fall, dass ich einen sehr gut lesenden Jungen vor mir habe oder ein sehr gut rechnendes Mädchen? Dazu kann es helfen, sich immer wieder mit anderen Lehrkräften abzustimmen, denn das stärkt und fördert die Aufmerksamkeit dafür, dass Kinder und ihre Kompetenzen sich ständig verändern. Für die individuellen Entwicklungen offen zu bleiben ist ein wesentlicher Aspekt, um den Einfluss von verallgemeinernden Überzeugungen zu reduzieren. Und das lässt sich lernen.

Olczyk: In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, dass es für diesen Lernprozess und die Reflexion mit anderen Lehrkräften über die einzelnen Schülerinnen und Schüler auch einen geeigneten Rahmen braucht – insbesondere zeitliche Ressourcen, aber auch Strukturen, die Austausch ermöglichen und unterstützen. 

Redaktion: Frau Doktorin Olczyk, Frau Doktorin Gentrup, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Sarah Gentrup ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit dem Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) tätig. Sie forscht primär zu Erwartungen und Stereotypen von Lehrkräften sowie zu Geschlechterdisparitäten im Bildungswesen.

Zur Person

Dr. Melanie Olczyk ist promovierte Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dort ist sie im Projekt „Bildungsintegration von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund in Deutschland (EDIREG)" tätig. In ihrer Forschung befasst sie sich mit Erklärungsansätzen für soziale, zuwanderungs- und geschlechtsbezogene Bildungsungleichheiten. Dabei berücksichtigt sie auch makrostrukturelle und räumliche Aspekte.