Warum hochbegabte Kinder oft nicht erkannt werden

Junior-Prof. Jessika Golle erläutert im Interview, worauf Lehrkräfte achten können, um die Begabung von Kindern angemessen zu beurteilen.

Ob Schüler:innen als hochbegabt eingestuft und für ein entsprechendes Förderprogramm vorgeschlagen werden, liegt häufig im Ermessen der Lehrkräfte. Bei ihrer Beurteilung können sich Lehrer:innen in der Regel lediglich auf ihre eigene Einschätzung stützen. Dabei werden einige Kinder unterschätzt.

Redaktion: Frau Golle, in Ihrer Studie haben Sie sich damit beschäftigt, wie Lehrkräfte feststellen, ob ein Kind hochbegabt ist oder nicht. Was haben Sie herausgefunden?

Junior-Prof. Jessika Golle: Unsere Studie macht auf eine Diskrepanz aufmerksam, die in der Beurteilung von Hochbegabung besteht. Bei gleichen Fähigkeiten und gleichen Leistungen werden Jungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als hochbegabt eingestuft als Mädchen. Auch schätzen Lehrkräfte Kinder aus Familien mit hohem Bildungsstand eher als hochbegabt ein als Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien.

Redaktion: Welche Rolle spielen gesellschaftlich verankerte Vorstellungen von Hochbegabung bei dieser Einschätzung?

Golle: Stereotype Vorstellungen spielen sicher eine große Rolle, zumal diese medial weit verbreitet sind und immer wieder reproduziert werden. Dabei hält sich besonders die Vorstellung des hochbegabten Jungen, der oftmals als Nerd charakterisiert wird. Mädchen dagegen gelten eher als fleißig und können dadurch unterschätzt werden. 

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Redaktion: Bei vielen Förderprogrammen spielen Lehrkräfte eine wesentliche Rolle in der Nominierung von hochbegabten Schüler:innen. Welche Konsequenzen ziehen Sie diesbezüglich aus Ihrer Studie?

Golle: In der Regel schätzen Lehrkräfte Begabung lediglich aufgrund des subjektiven Bildes ein, dass sie sich von einem Kind gemacht haben. Dazu gehören nicht nur die kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, sondern auch Faktoren wie die Schulmotivation oder die Möglichkeiten, die im Elternhaus zur Verfügung stehen. Das Problem, das wir in unserer Studie ansprechen ist, dass der Zugang zu Förderangeboten häufig über Lehrkräfte vermittelt wird, diese aber nicht notwendigerweise über standardisierte oder objektive Informationen über die Leistungsfähigkeit oder die Interessen der Schülerinnen und Schüler verfügen. Dadurch können bestimmte Gruppen benachteiligt werden. Neben den Fähigkeiten und Interessen eines Kindes kann es auch sein, dass Lehrkräfte pragmatische Aspekte bei der Auswahl von Schülerinnen und Schülern für Förderprogramme nutzen, beispielsweise ob diese von ihren Eltern dorthin gebracht werden können. Wenn Lehrkräften nur ihre eigene Leistungskontrolle und ihre subjektive Einschätzung zur Verfügung steht und sie sich wenig mit anderen Lehrkräften austauschen, kann ihr Bild von Hochbegabung sehr schnell sehr eng werden und das kann dazu führen, dass bestimmte Kinder, die eigentlich das nötige Potenzial mitbringen, keinen Zugang zu Förderangeboten bekommen.

Redaktion: Was würden Sie Lehrkräften empfehlen, um die Begabungen von Kindern angemessen einzuschätzen? 

Golle: Wichtig ist, dass Lehrkräfte bewusst unterschiedliche Informationsquellen heranziehen, um die Begabung eines Kindes zu beurteilen. Das bedeutet, dass sich Lehrkräfte sowohl mit dem betreffenden Kind als auch mit den Eltern und mit anderen Lehrkräften unterhalten. Es bedeutet aber auch, dass sie bewusst solche Unterrichtssituationen schaffen, die herausfordernd sind. Bei LUPE, einem Teilprojekt der von Bund und Ländern geförderten Initiative „Leistung macht Schule“ (LemaS), geht es zum Beispiel darum, Materialien für den Mathematik- oder Sachunterricht zu entwerfen, mit deren Hilfe Lehrkräfte die Potenziale von Schülerinnen und Schülern im Regelunterricht identifizieren können. Daneben sind Lernstandserfassungen, wenn sie über den aktuellen Stand hinausgehen, eine gute Basis. Ebenso wie standardisierte Testmaterialien für Lehrkräfte, die sie während des Regelunterrichts einsetzen können. Durch die Digitalisierung entwickelt sich an dieser Stelle gerade sehr viel, das in Zukunft auch dazu genutzt werden kann, das Leistungspotenzial von Schülerinnen und Schülern einzuschätzen.

„Lehrkräfte dürfen selbst keine Intelligenztests durchführen. Das ist ein gewisser Zwiespalt, wenn man die besondere Begabung am kognitiven Potenzial festmacht.“

Junior-Prof. Jessika Golle

Redaktion: Was ist mit Intelligenztests?

Golle: Alle Informationsquellen, auf die ich bislang eingegangen bin, sind keine Intelligenztests und das ist auch wichtig zu betonen, da Lehrkräfte selbst in der Regel gar keine Intelligenztests durchführen dürfen. Das ist ein gewisser Zwiespalt, wenn man die besondere Begabung am kognitiven Potenzial festmacht. In der pädagogischen Praxis gilt es daher, die bereits genannten Informationsquellen sinnvoll zu kombinieren.

Redaktion: Sie erwähnen das kognitive Potenzial hochbegabter Kinder. Wie lässt sich Hochbegabung eigentlich definieren?

Golle: Hochbegabung ist vor allem ein soziales Konstrukt, das sich auch kulturell unterscheidet. Deshalb gibt es auch unterschiedliche Konzeptionen von Hochbegabung. Die klassische Definition legt Hochbegabung anhand des Intelligenzquotienten fest. Eine hohe kognitive Begabung reicht in der Regel jedoch nicht aus, um Höchstleistungen zu erbringen, dabei spielen auch persönliche sowie Umweltfaktoren eine Rolle. Multidimensionale Konzeptionen von Hochbegabung betrachten daher nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch die Motivation, Kreativität, Ausdauer sowie eine adäquate Förderung durch die Umwelt.

Redaktion: Wie kann eine solche adäquate Förderung aussehen?

Golle: Da Umweltfaktoren die Entwicklung einer Hochbegabung beeinflussen, ist es wichtig, frühzeitige Förderangebote zu schaffen. Die Hector Kinderakademien, die wir am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung wissenschaftlich begleiten, sind hierfür ein gutes Beispiel, da sie schon ab der 1. Klasse Enrichmentangebote anbieten. Mit diesem außerschulischen Förderprogramm können bei den Schülerinnen und Schüler Interessen geweckt und einzelne Bereiche und Inhalte vertieft werden. 

Enrichment

Enrichment bezeichnet ein pädagogisches Modell zur Förderung von besonders begabten und hochbegabten Schülerinnen und Schülern. Dabei erhalten diese zusätzliche Lernangebote, die sie neben dem Unterricht in der Schule wahrnehmen können und die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Redaktion: Auf der einen Seite wird von Schulen gefordert, sowohl leistungsstarke als auch leistungsschwache Kinder zu fördern. Auf der anderen Seite herrscht ein akuter Lehrkräftemangel. Wie lässt sich beides vereinbaren?

Golle: Ich glaube, dass sich viele Lehrkräfte damit überfordert fühlen, jedem Potenzial in einer Klasse gerecht zu werden. Es gibt Schulen, die sehr gut auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen können. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Schulen, denen dies nicht gelingt. Was diese Schulen aus meiner Sicht unterscheidet, ist, dass erfolgreiche Schulen flexibel in ihren Strukturen agieren, Freiräume für die Kinder schaffen und Phasen anbieten, in denen sich Kinder in Abhängigkeit ihrer Lernvoraussetzung mit unterschiedlichen Themen beschäftigen können. Für viele Lehrkräfte stellt sich dann auch gar nicht die Frage, welche Kinder sie fördern sollen, weil sie ganz selbstverständlich für alle Kinder Fördermöglichkeiten schaffen. Das ist einerseits eine Frage der Kapazitäten und Ressourcen, auf der anderen Seite ist es aber auch wieder eine Frage der Haltung. An den Universitäten ist es daher eventuell auch nicht der richtige Ansatz, Lehramtsstudierenden nur bestimmte Unterrichtskonzepte beizubringen. Vielmehr sollte es um Fähigkeiten gehen, die es Lehrkräften ermöglicht, adaptiv auf Herausforderungen zu reagieren. Außerdem wäre eine systematische Weiterbildung nach dem Studium wichtig, weil Lehrkräfte erst dann mit solchen Problemen konfrontiert werden, die über das eigene Fachwissen hinausgehen.

„Lehrkräfte sollten dazu befähigt werden, ihre eigene Haltung zu reflektieren und sich fragen, welche Vorurteile sie mitbringen.“

Junior-Prof. Jessika Golle

Redaktion: Geschlechterstereotype oder Vorurteile aufgrund des soziökonomischen Hintergrunds betreffen in der Schule nicht nur hochbegabte Kinder. Was muss sich in unserem Bildungssystem ändern, damit Lehrkräfte bewusster mit solchen Stereotypen umgehen? 

Golle: In Bezug auf Hochbegabung glaube ich, dass ein großes Problem darin liegt, dass das Thema kein fester Bestandteil der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist. Was fehlt ist eine Grundausbildung, die das Erkennen von oder den Umgang mit besonders begabten und hochbegabten Schülerinnen und Schülern vermittelt. Am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung versuchen wir diesem Umstand mit dem Zertifikatsstudium Begabtenförderung und Potenzialentwicklung zu begegnen. Gleichzeitig sollten Lehrkräfte aber auch dazu befähigt werden, ihre eigene Haltung zu reflektieren und sich fragen, welche Vorurteile sie mitbringen und wo die eigenen Grenzen liegen. Diese Einstellungen spielen für den Umgang mit Stereotypen eine entscheidende Rolle. Sich diesen anzunähern und bewusst zu werden, ist ein wichtiger erster Schritt. Unter Umständen kann auch das Wissen um benachteiligte Gruppen dabei helfen, bewusst gegen diesen Trend zu arbeiten. 

Zertifikatsstudium Begabtenförderung und Potenzialentwicklung

Das Zertifikatsstudium Begabtenförderung und Potenzialentwicklung am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen vermittelt grundlegende und aktuelle Erkenntnisse aus dem oft unterrepräsentierten Themenbereich der Hochbegabung. Durch das Studium sollen Lehrkräfte und Interessierte darin unterstützt werden, besonders begabte Schülerinnen und Schüler zu erkennen und ihnen gezielte Fördermöglichkeiten anzubieten.
Weitere Infos

Informationsveranstaltung
Für alle Interessierten findet am Dienstag, 27.06.2023 um 16 Uhr eine Online-Informationsveranstaltung statt.
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Redaktion: Welche Vorstellung von Hochbegabung würden Sie Lehrkräften gerne mit auf dem Weg geben?

Golle: Unter dem Stichwort Hochbegabung sollten sich Lehrkräfte eine bunte Gruppe von Menschen vorstellen, von denen zwar jede und jeder eine kognitiv hohe Begabung aufweist, von denen der eine aber etwas introvertierter ist als die andere und der nächste sich für Biologie interessiert, während sich andere für Sprachen begeistern. Neben dieser Vielseitigkeit sollte Lehrkräften aber auch die Notwendigkeit bewusst sein, an den individuellen Ausgangsniveaus anzusetzen und die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler weiter zu begleiten. Dabei werden sie dann spannenderweise feststellen, dass dieser Förderungswunsch eigentlich für alle Kinder gilt, nur dass das Niveau, an dem man ansetzt, ein anderes ist. 

Redaktion: Frau Junior-Professorin Golle, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Jessika Golle ist Junior-Professorin am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung. Dort leitet sie die Forschungsgruppe Potenzialentwicklung und Hochbegabung.